Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 1 AK 6/04

Tenor

1. Die Auslieferung des Verfolgten nach Italien zur Strafvollstreckung wird gemäß dem Auslieferungsersuchen der italienischen Justizbehörden vom 07. April 2004 für zulässig erklärt, soweit dies

a. das Urteil des Ermittlungsrichters beim Landgericht R./Italien vom 16.09.1993,

b. das Urteil des Strafgerichts in R./Italien vom 10.06.1996

betrifft und mit der Maßgabe, dass die italienischen Justizbehörden einen Nachweis über die Aufhebung des Beschlusses zur Zusammenlegung von konkurrierenden Straftaten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht R./Italien vom 07. Oktober 2003 vorlegen

und

eine ausdrückliche Zusicherung abgeben, dass lediglich eine Strafvollstreckung aus denjenigen Urteilen erfolgt, für welche die Auslieferung vom Senat für zulässig erklärt worden ist.

2. Die Auslieferung wird für nicht zulässig erklärt, soweit dies das Urteil des Landgerichts R./Italien vom 10.04.2000 betrifft.

3. Die dem Verfolgten im Auslieferungsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen trägt zu einem Drittel die Staatskasse, im Übrigen fallen diese dem Verfolgten zur Last.

4. Die Auslieferungshaft hat fortzudauern.

Gründe

 
I.
Die italienischen Justizbehörden haben mit an das Justizministerium Baden-Württemberg gerichteter Note vom 07.04.2004 um die Auslieferung des Verfolgten zur Strafvollstreckung aufgrund des Beschlusses zur Zusammenlegung konkurrierender Straftaten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht R./Italien vom 07. Oktober 2003 (sog. Kumulationsbeschluss) ersucht. Durch diese Entscheidung, in welcher eine noch zu verbüßende Restfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten und 29 Tagen aufgeführt ist, werden das Urteil des Ermittlungsrichters beim Landgericht R./Italien vom 16.09.1993, das Urteil des Strafgerichts in R./Italien vom 10.06.1996 und das Urteil des Landgerichts R./Italien vom 10.04.2000 zusammengefasst. Hinsichtlich eines weiteren dort vermerkten Urteils des Landgerichts R./Italien vom 19.11.2002 hat die Staatsanwaltschaft beim Landgericht R./Italien bereits in diesem Beschluss ausgeführt, dass dieses wegen einer Doppelverurteilung mit dem Urteil des Landgerichts R./Italien vom 10.04.2000 nicht als Vollstreckungsgrundlage herangezogen werden soll.
Mit Beschluss vom 02.06.2004 hat der Senat die Auslieferung des Verfolgten nach Italien aufgrund dieses Zusammenlegungsbeschlusses i.V.m. mit den dort aufgeführten drei Urteilen für zulässig erklärt, ist jedoch auf die am 03.06.2004 neu erhobene Einwendung des Verfolgten, das Urteil des Landgerichts R./Italien vom 10.04.200 sei in seiner Abwesenheit und ohne seine Kenntnis von der Durchführung einer Hauptverhandlung erfolgt, mit Beschluss vom 23.06.2004 erneut in die Zulässigkeitsprüfung eingetreten.
II.
Nach der vom Senat zur weiteren Sachaufklärung eingeholten Ergänzung der Auslieferungsunterlagen durch die italienischen Justizbehörden ist eine Auslieferung des Verfolgten hinsichtlich der Urteile des Ermittlungsrichters beim Landgericht R./Italien vom 16.09.1993 und des Strafgerichts in R./Italien vom 10.06.1996 zulässig, muss aber bezüglich des Urteils des Landgerichts R./Italien vom 10.04.2004 wegen Vorliegens eines Auslieferungshindernisses für nicht zulässig angesehen werden.
1. Aufgrund der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft R./Italien vom 09.08.2004 i.V.m. dem bereits zuvor übermittelten Urteil des Landgerichts R./Italien vom 10.04.2000 wurde der Verfolgte am 23.09.1992 von der italienischen Polizei nach Auffinden gestohlener Gegenstände auf seinem Grundstück (Strandbagger, Ersatzteile für Bootsmotor) als Beschuldigter vernommen, woraufhin er einen Vertrauensanwalt bestellte und einen zustellungsfähigen Wohnsitz in R./Italien angab. Unter diesem konnte ihm jedoch weder am 17.10.1997 noch am 20.10.1997 eine Ladung zur Hauptverhandlung durch den Gerichtsvollzieher zugestellt werden, weil der Verfolgte nach unbekannt verzogen war. Die Terminsladung wurde daraufhin dem Vertrauensanwalt zugestellt. Zum Hauptverhandlungstermin am 10.04.2000 ist jedoch weder dieser noch der Verfolgte selbst erschienen, woraufhin ein Pflichtverteidiger bestellt und der Verfolgte in seiner Abwesenheit wegen mehrerer Diebstähle zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt wurde. Nach Zustellung des Urteils an den Vertrauensanwalt am 16.05.2001 ist dieses ausweislich der vorliegenden Urteilsurkunde am 16.06.2001 rechtskräftig geworden. Der Verfolgte hat sich über seinen Rechtsbeistand zur Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft R./Italien vom 09.08.2004 geäußert und angegeben, er habe durch seinen bestellten Vertrauensanwalt keine Kenntnis vom Hauptverhandlungstermin erhalten. Auch habe er sich dem Verfahren nicht durch Flucht entzogen, vielmehr im Januar 2000 Italien aus anderen Gründen verlassen.
2. Aufgrund des zum 23.08.2004 in Kraft getretenen Gesetzes vom 21.07.2004 zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vom 13.06.2002 (Europäisches Haftbefehlsgesetz, EuHbG, BGBl. 2004,I, 1748 ff.; Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2002, L 190/1 ff.) beurteilt sich die Zulässigkeit der Auslieferung nunmehr nach §§ 83 Nr. 3, 73 IRG n.F. (vgl. auch Art. 5 Nr. 1 d. Rahmenbeschlusses; RiVASt Stand: 23.07.2003, Europäischer Haftbefehl, Anlage B. Eingehende Ersuchen), da es sich bei Italien um einen Mitgliedsstaat der europäischen Union handelt (§ 1 Abs. 4 IRG n.F.). Ob der Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl vom 13.06.2002 auch in Italien bereits in nationales Recht umgesetzt wurde, ist ohne Belang, da die Bestimmungen der §§ 78 ff. IRG n.F. nicht den Bestimmungen über die Gegenseitigkeit unterfallen (§§ 5, 82 IRG n.F.).
3. a. Nach § 83 Nr. 3 IRG n.F. ist eine Auslieferung danach dann nicht als zulässig anzusehen, wenn das dem Ersuchen zugrunde liegende Urteil in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist und der Verfolgte zu dem Termin nicht persönlich geladen oder nicht auf andere Weise von dem Termin, der zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden war, es sei denn, dass dem Verfolgten nach seiner Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren und auf Anwesenheit in der Gerichtsverhandlung, in der der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft wird, eingeräumt wird. Durch diese Regelung hat der Gesetzgeber in Abstimmung mit den anderen dem Rahmenbeschluss unterzeichnenden Ländern der Europäischen Union (vgl. Schomburg NJW 2003, 3392 ff, Salditt StV 2003, 136 f.; Heintschel-Heinegg u.a. GA 2003, 44 ff.; Wehnert Strafo 2003, 356 ff.; Wegner StV 2003, 105 ff.) die bisherige obergerichtliche Rechtsprechung zu den sich aus Art. 25 GG ergebenden verfassungsrechtlich entwickelten Mindeststandards bei der Bewilligung einer Auslieferung wegen eines Abwesenheitsurteils weitgehend übernommen (BVerfG NJW 1991, 1411 f.;NJW 1987, 830 ff., BGH 47, 120 ff.; vgl. hierzu auch Senat StV 2004, 444 f. = wistra 2004, 199 ff.;) und dahingehend konkretisiert, dass der Anspruch des Verfolgten auf Wahrung seines rechtlichen Gehörs und der Möglichkeit, sich vor Gericht zu verteidigen und auf das Verfahren Einfluss zu nehmen, nicht nur dann als gewahrt anzusehen ist, wenn er persönlich zur Hauptverhandlung geladen worden ist, sondern auch dann, wenn er auf andere Weise von dem Termin, der zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden war (vgl. hierzu und zur gegenteiligen und eine formlose Unterrichtung als nicht ausreichend ansehenden Ansicht: Schomburg/Lagodny. IRG, 3. Aufl. 1998, § 73 Rn. 80 f.; OLG Düsseldorf StV 1999, 270 ff.).
b. Der Senat hält jedoch - wie sich auch aus der Formulierung „persönlich geladen“ in § 83 Nr. 3 IRG n.F. ergibt - daran fest, dass für die Wahrung des rechtlichen Gehörs eine bloße an den Verfolgten oder einen Dritten gerichtete Ladung nicht genügt, sondern es in beiden aufgezeigten Fällen des sicheren Nachweises bedarf, dass die Ladung oder aber eine Unterrichtung auf sonstige Weise den Verfolgten auch persönlich erreicht haben muss und nicht nur die bloße Möglichkeit der Kenntnisnahme für ihn bestand (vgl. Senat a.a.O.; OLG Koblenz StraFo 273 437 f; OLG Düsseldorf NStZ 1987, 370 f.).
c. Aus der nunmehrigen gesetzlichen Regelung ergibt sich aber auch, dass die sog. „Fluchtfälle“ nur noch eingeschränkt eine Auslieferung bei einem Abwesenheitsurteil rechtfertigen können. Der einschlägigen völkerrechtlichen Praxis ist zwar nicht zu entnehmen, dass die Auslieferung bei einem strafrechtlichen Abwesenheitsverfahren auch in den Fällen unzulässig wäre, in denen der Betroffene von dem gegen ihn anhängigen Verfahren in Kenntnis gesetzt wurde, sich diesem durch Flucht entzogen hat und im Verfahren von einem von einem ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger und unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt worden ist (BVerfG NJW 1987, 830; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1996, 30: Kenntnis von der Einleitung des Verfahrens; ähnlich dass. NStZ 1987, 466 f.: bloße Erwartung der Einleitung genügt nicht; Schomburg/Lagodny, a.a.O., § 73 Rn. 81 m.w.N.). Aufgrund der gesetzlichen Neureglung reicht jedenfalls bei Auslieferungsverfahren innerhalb der Europäischen Union die bloße polizeiliche oder richterliche Vernehmung eines Verfolgten vor der Hauptverhandlung des ersuchenden Staates zu den gegen ihn dort erhobenen Tatvorwürfen zur Annahme eines Fluchtfalles nun nicht mehr aus, vielmehr muss der Verfolgte auch vom Termin der Hauptverhandlung sichere Kenntnis erlangt haben (so schon OLG Hamm NStZ-RR 2001, 62).
4. Hinsichtlich des Verfolgten X. kann vorliegend nicht sicher festgestellt werden, dass er entgegen seiner Einlassung vom Termin zur Hauptverhandlung vor dem Landgericht R./Italien am 10.04.2000 wusste. Aus der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft R./Italien vom 09.08.2004 ergibt sich dies nicht, vielmehr ist dieser zu entnehmen, dass dem Verfolgten die Terminsladung gerade nicht unter der von ihm benannten Wohnanschrift persönlich zugestellt werden konnte, sondern wegen dessen unbekannten Aufenthalts seinem Vertrauensanwalt übermittelt werden musste. Ob ihn dieser vom Termin unterrichtet hat, kann ebenfalls nicht als nachgewiesen angesehen werden.
10 
Auch die Möglichkeit der Durchführung eines Nachverfahrens, in welchem sich der Verfolgte rechtliches Gehör verschaffen und wirksam verteidigen könnte (vgl. § 83 Nr. 3 IRG letzter Hs), besteht nach italienischem Recht nicht, denn das Rechtsbehelfsverfahren nach Art. 175 d. italienischen Strafprozessordnung räumt solche weitgehenden Befugnisse nicht ein (vgl. BVerfG StraFo 2004, 201 ff., BGHSt 47, 120 ff.; Senat StV 1999, 268 ff.; Schomburg/Lagodny, a.a.O., Rn. 86). Eine ausdrückliche Zusicherung der Ermöglichung eines solchen ausreichenden Nachverfahrens haben die italienischen Justizbehörden nicht abgegeben (vgl. Art. 3 des 2. Zusatzprotokolls zum EuAlÜbK).
11 
5. Das bestehende Auslieferungshindernis hinsichtlich des Urteils des Landgerichts R./Italien vom 10.04.2000 stellt die Zulässigkeit der Auslieferung nicht insgesamt in Frage.
12 
a. Soweit das Auslieferungsersuchen das Urteil des Ermittlungsrichters beim Landgericht R./Italien vom 16.09.1993 und Urteil des Strafgerichts in R./Italien vom 10.06.1996 betrifft, sind zunächst keine Auslieferungshindernisse ersichtlich; solche wurden vom Verfolgten auch nicht geltend gemacht.
13 
b. Allerdings stützen die italienischen Justizbehörden ihr Auslieferungsersuchen auf den Kumulationsbeschluss der Staatsanwaltschaft beim Landgericht R./Italien vom 07.10.2003, durch welchen die dort aufgeführten Strafen aus den drei Urteilen unter Anrechnung von Verbüßungszeiten auf eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten und 29 Tagen zurückgeführt worden sind. Wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 28.08.1998 (NStZ-RR 1999, 92 ff. = Die Justiz 1999, 116 ff.) zum Ausdruck gebracht hat, kommt einer solche Zusammenlegung jedoch eigenständige Bedeutung mit gestaltender Wirkung bei, was zur Folge hat, dass die in den drei Strafverfahren ausgesprochenen Urteile ihre selbstständige Bedeutung als Strafvollstreckungsgrundlage verloren haben, so dass der nur einem dieser ursprünglichen Verfahren anhaftende Mangel sich auch auf den ergangenen Kumulationsbeschluss insgesamt erstrecken kann, auch wenn die übrigen dort angeführten Urteile auslieferungsrechtlich ansonsten unbedenklich sind (vgl. Senat a.a.O.). Im Gegensatz zu dem dort entschiedenen Fall hat die Generalstaatsanwaltschaft R./Italien in ihrer Erklärung vom 09.08.2004 auf entsprechende Anfrage des Senates aber mitgeteilt, dass „das zuständige Gericht einen neuen Vollstreckungsbeschluss ausstellen wird, falls die deutschen Behörden die Auslieferung nach Italien nur aufgrund einiger dort aufgeführter Taten gewähren“ sollten. In diesem Falle käme den Urteilen des Ermittlungsrichters beim Landgericht R./Italien vom 16.09.1993 und des Strafgerichts in R./Italien vom 10.06.1996 - ggf. in Verbindung mit einem neuen Kumulationsbeschluss - aber wieder eigenständige Bedeutung bei.
14 
c. Da eine solche Entscheidung der italienischen Justizbehörden bislang aber nicht vorliegt, konnte die Auslieferung des Verfolgten wegen der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens ungeachtet der Bestimmungen des §§ 11, 83 h IRG n.F. nur unter den in der Beschlussformel ausgesprochenen Maßgaben als zulässig angesehen werden.
15 
6. Der Senat hat aufgrund der weiter bestehenden Fluchtgefahr (vgl. hierzu den in vorliegender Sache ergangenen Beschluss vom 26.07.2004) den Fortbestand der Auslieferungshaft angeordnet, geht jedoch wegen des auch im Auslieferungsverfahren zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 31.08.2004, 1 AK 10/04) davon aus, dass ein Erklärung der Italienischen Justizbehörden zeitnah, spätestes innerhalb einer Frist von sechs Wochen nach Beschlussdatum vorgelegt werden kann.
III.
16 
Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen folgt aus § 77 IRG i.V.m. § 473 Abs. 4 StPO).

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