Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 1 AK 1/06

Tenor

1. Die Auslieferung des Verfolgten nach Rumänien aufgrund des Auslieferungsersuchens der rumänischen Justizbehörden vom 01. Februar 2006 wird für nicht zulässig erklärt.

2. Der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 17. Februar 2006 wird aufgehoben.

3. Die dem Verfolgten im Auslieferungsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

4. Eine Entschädigung für die erlittene Auslieferungshaft wird nicht bewilligt.

Gründe

 
I.
Der Verfolgte ... befindet sich seit dem 10. Januar 2006 in Auslieferungshaft. Die rumänischen Justizbehörden begehren seine Auslieferung zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe von drei Jahren, die mit Urteil des Bezirksgerichts B. vom 17.2.1998 in Verbindung mit Berufungsurteil des Tribunals in B./Rumänien vom 19.2.1999, wegen „schweren Diebstahls“, strafbar nach Art. 208 und 209 des rumänischen Strafgesetzbuchs, gegen ihn verhängt worden ist. Nach den Feststellungen hat der bis dahin nicht vorbestrafte Verfolgte am 09.6.1997 seine Wohnung mit einem Schraubenzieher und einem Rucksack verlassen, um ein Auto aufzubrechen und Stehlenswertes zu entwenden. Gegen 23 Uhr hat er in O./Rumänien einen PKW mit einem Autoradio entdeckt und das Fahrzeug etwa eine Stunde lang beobachtet; er hat sodann mit dem Schraubenzieher dessen linke hintere Scheibe eingeschlagen, aus dem Fahrzeuginnern das Autoradio entwendet und in seinem Rucksack verborgen. Wenig später - noch am frühen Morgen des 10.6.1997 - wurde er von der Polizei festgenommen. Das Autoradio wurde sichergestellt und dem Geschädigten ausgehändigt.
Der Verfolgte hat gegen seine Auslieferung Einwendungen erhoben und persönlich und durch seinen Rechtsbeistand vorgetragen, nicht diejenige Person zu sein, welche in dem dem Auslieferungsersuchen des rumänischen Justizministeriums vom 01.2.2006 zugrunde liegenden Strafverfahren wegen des Vorwurfs eines in der Nacht vom 09./10.6.1997 in B./Rumänien begangenen Diebstahls am 10./11.6.1997 festgenommen war und wegen dieser Tat durch das Strafurteil de Bezirksgerichts in B./Rumänien vom 17.2.1998 rechtskräftig zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden ist. Er habe Rumänien bereits am 19.10.1996 verlassen und sei seitdem nicht mehr nach dort zurückgekehrt.
Der Rechtsbeistand des Verfolgten hat außerdem - hilfsweise - vorgetragen, dass die zu vollstreckende Freiheitsstrafe von drei Jahren gegen übergeordnetes Recht verstoße. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe von drei Jahren wegen Diebstahls gegen einen zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alten und nicht vorbestraften Täter sei unter Berücksichtigung seines Geständnisses und des weiteren Umstands, dass das Autoradio an den Geschädigten zurückgegeben werden konnte und dieser kein Interesse an der Bestrafung des Täters hatte, unverhältnismäßig. In allen europäischen Staaten werde eine solche Tat mit einer Freiheitsstrafe im bewährungsfähigen Bereich geahndet.
Mit Beschluss vom 11.4. 2006 hat der Senat im Hinblick auf die Einwendung des Verurteilten, nicht diejenigen Person zu sein, der in B./Rumänien verurteilt worden sei, eine weitere Aufklärung des Sachverhalts für notwendig erachtet und die rumänischen Justizbehörden um Vorlage weiterer Unterlagen ersucht. Darüber hinaus hat der Senat den Verfolgten am 27.7.2006 mündlich angehört.
II.
Nach abschließender Beurteilung ist die Auslieferung des Verfolgten nach Rumänien gemäß dem Auslieferungsersuchen vom 01.2.2006 nicht zulässig.
1. Der Senat ist allerdings zu der sicheren Überzeugung gelangt, dass es sich bei dem Verfolgten um diejenige Person handelt, die in Rumänien wegen des in der Nacht vom 09. auf den 10. Juni 1997 begangenen Diebstahls verurteilt worden ist.
Zwar konnten die rumänischen Justizbehörden weder Lichtbild noch Fingerabdruck des Täters vorlegen, obwohl dieser unmittelbar nach der Tat festgenommen worden ist und sich vom 10.6.1997 für 24 Stunden in polizeilichem Gewahrsam befunden hat. Gleichwohl besteht nach einer Gesamtschau der vorhandenen Indizien kein Zweifel daran, dass es der Verfolgte ist, der durch die genannten Strafurteile wegen Diebstahls verurteilt worden ist.
(wird ausgeführt)
2. Die Auslieferung des Verfolgten ist auch nicht deshalb unzulässig, weil er in seiner Abwesenheit verurteilt worden ist.
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(wird ausgeführt)
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3. Gleichwohl ist die Leistung der Rechtshilfe vorliegend unzulässig, weil die vollstreckende Freiheitsstrafe von drei Jahren unter zusammenfassender Würdigung aller Umstände zur Ahndung der vom Verfolgten begangenen Tat unerträglich hart erscheint und seine Auslieferung daher wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widerspräche (§ 73 Satz 1 IRG).
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Nach dem innerstaatlich aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss die Schwere der Straftat und die Schuld des Täters in einem gerechten Verhältnis zu der gesetzlich angedrohten oder der gerichtlich verhängten Strafe stehen. Die abstrakte Strafandrohung und die konkret verhängte Strafe müssen im Hinblick auf das unter Strafe gestellte Verhalten bzw. die konkret abgeurteilte Tat nach ihrem konkreten Unrechts- und Schuldgehalt angemessen sein. Der Kernbereich dieser Anforderungen zählt zu den unabdingbaren Grundsätzen der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik und fordert auch im Auslieferungsverkehr Beachtung (BVerfGE 63, 332; 75, 1; NJW 1994, 2884; EuGRZ 1984, 271).
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Ein Verfolgter darf zur Strafvollstreckung daher nicht ausgeliefert werden, wenn die Strafe, die gegen ihn im ersuchenden Staat verhängt worden ist, als unerträglich hart und als unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheint (BVerfGE 75, 1; im Anschluss hieran OLG Stuttgart, Die Justiz 2003, 454; NStZ-RR 2002, 180; OLG Zweibrücken, StV 1996, 105; OLG Hamm, NStZ-RR 2001, 315; siehe auch Senat, MDR 1997, 188; Vogel, in: Grützner/Pötz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Aufl., § 73 Rn. 99). Es genügt nicht, dass die Strafe unter Berücksichtigung der in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Grundsätze als eindeutig zu hart anzusehen ist, sondern die Strafe muss - bei einer Gesamtschau des materiellen Rechts und unter Einbeziehung der vollstreckungsrechtlichen Regelungen und der Vollzugssituation (vgl. BGH NStZ 1993, 547) - unerträglich hart und schlechthin unangemessen sein (BVerfG, a.a.O; a.A. Schomburg/Lagodny,Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl. 2006, § 73 Rn. 60: kein im Auslieferungsrecht abgesenkter Prüfungsmaßstab; siehe auch Lagodny, Grundrechte als Auslieferungsgegenrechte, NJW 1988, 2146). Bei der Prüfung der Frage der Angemessenheit im Auslieferungsverkehr ist zu berücksichtigen, dass die Staaten unterschiedliche Auffassungen über die Strafwürdigkeit kriminellen Verhaltens haben (vgl. BVerfGE 108, 129); dies gilt insbesondere für den Bereich der Eigentumsdelikte.
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Der Senat ist im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände zunächst zu der Auffassung gelangt, dass die zur Vollstreckung anstehende Freiheitsstrafe von drei Jahren für die abgeurteilte Straftat des qualifizierten Diebstahls insbesondere angesichts des Umstands, dass der Verfolgte zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt, nicht vorbestraft und geständig gewesen ist und das Diebesgut an den Geschädigten zurückgegeben werden konnte, in hohem Maße hart ist. Im Inland wäre bei Anwendung von Erwachsenenstrafrecht (vgl. § 105 JGG) und angesichts des Vorliegens mehrerer Milderungsgründe zweifelhafter Annahme eines besonders schweren Falls des Diebstahls im Sinne des § 243 Abs. 1 StGB ein Strafrahmen von drei Monaten bis zu zehn Jahren eröffnet. Bei der nach Sachlage nahe liegenden Anwendung von Jugendstrafrecht käme die Anordnung von Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln oder bei Bejahung schädlicher Neigungen die Verhängung einer Jugendstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren (§§ 18 Abs. 1, 105 Abs. 3 JGG) in Betracht. Unter Berücksichtigung der in den rumänischen Strafurteilen festgestellten Tatmodalitäten wäre im Inland bei Anwendung von Erwachsenen-strafrecht und unter Beachtung von § 47 StGB, der die Verhängung kurzzeitiger Freiheitsstrafen nur in Ausnahmefällen zulässt, die Verhängung einer Geldstrafe wahrscheinlich, die Verhängung einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu einem Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung möglich, eine höhere, insbesondere eine zu vollstreckende Freiheitsstrafe dagegen wahrscheinlich außerhalb des Spielraums, der dem Tatrichter im Rahmen der Strafzumessung zuzubilligen ist. Eine den aussetzungsfähigen Bereich übersteigende Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren würde den Bereich schuldangemessenen Strafens nach innerstaatlichen Grundsätzen eindeutig verlassen. Dabei hat der Senat darauf Bedacht genommen, dass die rumänischen Strafurteile maßgeblich auch generalpräventive Gesichtspunkte bei der Strafzumessung berücksichtigen und dies auch nach deutschem Recht nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Der Senat hat auch bedacht, dass Eigentumskriminalität nach den Vorstellungen des rumänischen Gesetzgebers, der den einfachen Diebstahl mit einem Strafrahmen von einem bis zwölf Jahren und den so genannten „Qualifizierten“ Diebstahl mit einem Strafrahmen von drei bis fünfzehn Jahren versehen hat, ersichtlich als in hohem Maße strafwürdig anzusehen ist und diese gesetzgeberische Einschätzung des ersuchenden Staates im Rahmen des Vertretbaren zu respektieren ist.
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Gleichwohl erscheint die verhängte Strafe von drei Jahren, auch wenn sie die gesetzlich vorgesehene Mindeststrafe ist, vorliegend als sehr hart und unangemessen:
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Der Verfolgte war zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt und besuchte noch die Schule. Er war vor der Tat strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten. Zwar handelte es sich insgesamt um eine geplante Tat; gleichwohl ist letztlich durch die vom Verfolgten begangene Tat kein bleibender Schaden entstanden; der Verfolgte hatte das entwendete Autoradio bei seiner Festnahme bei sich geführt, so dass das Diebesgut sichergestellt und an den Geschädigten zurückgegeben werden konnte; der Geschädigte hat auf eine Strafverfolgung ausdrücklich verzichtet. Hinzu tritt, dass der Verfolgte gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft bereits unmittelbar nach der Tat ein von echter Reue getragenes Geständnis abgelegt hat. Unter zusammenfassender Würdigung aller die Tat und den Täter charakterisierenden Umstände erscheint die Ahndung der Tat mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren daher als außerordentlich hart.
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Hinzu tritt, dass die Tat mittlerweile neun Jahre und auch die Verurteilung durch das Bezirksgericht in B./Rumänien immerhin schon acht Jahre zurückliegt und die Strafvollstreckung den Verfolgten, der seit vielen Jahren - soweit ersichtlich - unauffällig in Frankreich lebt und arbeitet, besonders hart trifft. Im Rahmen der Prüfung der konkreten Vollstreckungs- und Vollzugssituation hat der Senat berücksichtigt, dass die Haftbedingungen in Rumänien - trotz aktueller Bemühungen der rumänischen Behörden - jedenfalls die in Mitteleuropa herrschenden durchschnittlichen Standards unterschreiten und als erheblich belastend angesehen werden müssen. Die Möglichkeiten einer vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug sind außerdem ungewiss. Schließlich würde die im November 2005 geschlossene Ehe des Verfolgten durch den anstehenden - möglicherweise mehrjährigen - Freiheitsentzug in Rumänien erheblich belastet. Nicht zuletzt hat der Senat die besondere Haftempfindlichkeit des Verfolgten berücksichtigt. Nach dem persönlichen Eindruck, den der Senat im Anhörungstermin von den Verfolgten gewonnen hat, würde der eher labil und wenig belastbar erscheinende Verfolgte durch den Vollzug der Freiheitsstrafe in Rumänien in außergewöhnlich hohem Maße getroffen. Der Verfolgte hat eigenen und glaubhaften Angaben zufolge seinen Lebensmittelpunkt seit Jahren in Frankreich, wo auch seine Ehefrau lebt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wäre für ihn angesichts dieser persönlichen Lebensumstände daher besonders belastend.
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Der Senat ist daher bei zusammenfassender Würdigung aller Umstände zu der Auffassung gelangt, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe von drei Jahren unerträglich hart und schlechthin unangemessen ist und die Auslieferung daher ausscheidet.
III.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 77 IRG i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO.
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Eine Entschädigung aus der Staatskasse für die vollzogene Auslieferungshaft nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen scheidet aus, weil eine entsprechende Anwendung dieses Gesetzes auf die Auslieferungshaft grundsätzlich ausgeschlossen ist (BGHSt 32, 221) und ein Fall, in welchem Behörden der Bundesrepublik Deutschland die nach deutschem Recht unberechtigte Verfolgung zu vertreten hätten, nicht vorliegt (Senat wistra 2004, 199).

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