Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 2 Ws 156/18

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Mosbach - 1. Große Strafkammer - vom 20. April 2018 aufgehoben.

2. Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Landgericht Mosbach - 1. Große Strafkammer - zurückverwiesen.

Gründe

 
I.
Vor der Anlassverurteilung ist der Verurteilte u.a. mit Urteil des Landgerichts Mosbach vom 21.03.2014 (1 KLs 23 Js 4869/13) wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu der Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden, welche ebenso wie die angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ausgesetzt worden war. Dessen Freiheitsstrafe wurde mit weiteren Einzelstrafen durch nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss des Landgerichts Mosbach vom 27.08.2014 auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr zurückgeführt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie deren Aussetzung zur Bewährung blieben aufrechterhalten.
Das Landgericht Mosbach verurteilte den Beschwerdeführer sodann am 14.10.2016 (1 KLs 24 Js 1423/15), rechtskräftig seit demselben Tag, wegen gefährlicher Körperverletzung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung. Daneben wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und deren Vollstreckung ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt. Tatzeit war der 19.10.2014.
Mit Beschluss vom 14.10.2016 bestimmte die Strafkammer die Dauer der Bewährungszeit und der kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht auf drei Jahre und erteilte dem Verurteilten u. a. die Weisungen, die Behandlung bei der psychiatrischen Institutsambulanz der Neuropsychiatrischen Klinik der X-Diakonie M fortzusetzen und dem Gericht durch Atteste monatlich die Behandlung nachzuweisen und im Abstand von zwei Monaten vorzulegen. Der Konsum von Alkohol und illegalen Drogen wurde ihm untersagt und ihm aufgegeben, nach Weisung des Gerichts dies durch Drogenscreenings und Urinkontrollen nachzuweisen. Zudem erhielt er eine Geldauflage, die er vollständig erfüllt hat. Gegen diese Weisungen hat der Verurteilte während der gesamten Bewährungszeit immer wieder verstoßen, insbesondere indem er mehrfach monatelang keine Nachweise über den Fortgang seiner Behandlung und Blutspiegel vorlegte und sich wiederholt auch der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers entzog, als er keine festen und regelmäßigen Betreuungstermine wahrnahm. Positive Befunde in Bezug auf Alkohol- oder illegalen Drogenkonsum wurden im gesamten Bewährungs- und Führungsaufsichtszeitraum nicht erhoben. Am 20.04.2017 hat der Verurteilte eine Beleidigung begangen, weshalb er mit seit 02.09.2017 rechtskräftigem Strafbefehl des Amtsgerichts Buchen vom 10.08.2017 zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 10 Euro verurteilt wurde.
Im Rahmen einer Anhörung am 06.10.2017 wurde dem Verurteilten erklärt, dass er mit dem Widerruf der Bewährung rechnen müsse, sollte sich sein Verhalten im Rahmen der Bewährungsüberwachung nicht bessern. Entgegen den Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung (BA S. 3) wurde die Bewährungszeit im vorliegenden Verfahren nicht verlängert.
Nach mündlicher Anhörung des nicht anwaltlich vertretenen Verurteilten und seines Bewährungshelfers am 18.04.2018 hat die Strafkammer mit dem angefochtenen Beschluss die bewilligte Strafaussetzung und die Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung widerrufen, da der Verurteilte die mit Beschluss vom 14.10.2016 erteilten Weisungen gröblich und beharrlich nicht erfüllt habe, was Anlass zur Besorgnis der Begehung neuer Straftaten gebe gem. „§ 56f Abs. 1 Ziff. 2, § 67 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 StGB“ (gemeint offensichtlich § 67g Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 StGB). Wegen der weiteren Begründung wird auf den Beschluss Bezug genommen. Zu § 56f Abs. 3 Satz 3 StGB verhält sich die Entscheidung nicht.
Gegen den ihm am 24.04.2018 zugestellten Beschluss hat der Verurteilte mit am 27.04.2018 Landgericht Mosbach eingegangenem Schreiben sofortige Beschwerde eingelegt, die mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 30.05.2018, u.a. mit einem Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der erforderlichen Begutachtung durch einen Sachverständigen, begründet wurde. Die Generalstaatsanwaltschaft trägt auf Verwerfung der sofortigen Beschwerde als unbegründet an.
II.
Die sofortige Beschwerde ist nach §§ 453 Abs. 2 Satz 3, 311 StPO zulässig und hat auch in der Sache - zumindest vorläufig - Erfolg.
1. Auf der Grundlage der bisher erfolgten Sachaufklärung kann der Senat nicht beurteilen, ob sich aus den vom Landgericht festgestellten Weisungsverstößen bzw. dem festgestellten Sich-Entziehen der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers ergibt, dass der Zweck der Maßregel die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus erfordert (§ 67g Abs. 1 Halbsatz 2 StGB) bzw. der Beschwerdeführer dadurch Anlass zu der Besorgnis gibt, dass er erneut Straftaten begehen wird (§ 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB; zum verfassungsrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachaufklärung BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 28.09.2010 - 2 BvR 1081/10 -, juris; BVerfG NStZ-RR 2013, 115; zuletzt BVerfG RuP 2018, 27 mwN).
a. Zu einem Widerruf können die in § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB genannten Verstöße nach dem Gesetz nur dann führen, wenn sie erneute Straftaten der verurteilten Person befürchten lassen. Das Gericht hat somit unter Abwägung des Verstoßes und des gesamten Verhaltens der verurteilten Person in der Bewährungszeit eine erneute Prognose zu stellen (zum Erfordernis hinreichender fachgerichtlicher Darlegung einer prognostischen Gefahr weiterer Straftatbegehung im Rahmen des § 56f StGB vgl. BVerfG NStZ-RR 2007, 338 mwN). Die Prognose hat sich hierbei an der für die Strafaussetzung maßgebenden Erwartung auszurichten. Es muss Anlass zu der Besorgnis bestehen, dass die verurteilte Person sich die Verurteilung nicht zur Warnung dienen lässt und sich ohne Einwirkung des Strafvollzugs nicht straffrei verhält. Der Weisungsverstoß indiziert das nicht ohne Weiteres (Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 56f Rn. 15 mwN). Es geht insbesondere nicht um Ahndungen von Disziplinlosigkeiten in der Lebensführung oder Unbotmäßigkeit gegenüber dem Bewährungshelfer (Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 56f Rn. 11a mwN). Das Widerrufsgericht hat eine erneute Prognose zu stellen, wobei konkrete und objektivierbare Anhaltspunkte dafür dargelegt werden müssen, dass und warum der Weisungsverstoß Anlass zu der Besorgnis gibt, der Beschwerdeführer werde weitere Straftaten begehen (KG Berlin StRR 2013, 155 mwN).
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b. Verstöße nach § 67g Abs. 1 Satz 1 Nr. 1. und 2 StGB begründen den Widerruf der Aussetzung nur, wenn aus ihnen die Notwendigkeit der Unterbringung folgt. Es ist somit unter Abwägung des Verstoßes und des gesamten Verhaltens der verurteilten Person in der Zeit der Führungsaufsicht sowie der zur Verfügung stehenden Mittel, auf sie einzuwirken, eine erneute Prognose zu stellen. Diese hat sich am Maßregelzweck auszurichten. Es muss, soll der Widerruf erfolgen, Anlass zu der Besorgnis bestehen, dass die verurteilte Person ohne die Unterbringung erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird (Schönke/Schröder, aaO, § 67g Rn. 6; KG Berlin, aaO). Für den Widerruf der Aussetzung der Unterbringung gelten die gleichen Maßstäbe wie für die Anordnung der Maßregel. Der Begriff der Gefahr entspricht dem Begriff der Gefährlichkeit in § 63 StGB. Es muss also eine „Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ für die Begehung entsprechend qualifizierter neuer rechtswidriger Taten vorliegen (BGH NStZ-RR 2017, 76; BGH NStZ-RR 2017, 139 jeweils mwN). Schließlich kann ein Widerruf nicht erfolgen, wenn mildere Maßnahmen gem. §§ 68a ff. iVm § 68d Abs. 1 StGB oder eine befristete (Wieder-)Invollzugsetzung gem. § 67h Abs. 1 StGB ausreichend sind, um den Maßregelzweck zu erreichen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 08.10.2008 - 2 Ws 443/08 -, juris). Letzteres kommt auch dann in Betracht, wenn die Vollstreckung der Unterbringung von Anfang an zur Bewährung ausgesetzt war (Senat, Beschluss vom 13.11.2014 - 2 Ws 401/14 -, juris).
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2. Eine diesen Anforderungen jeweils genügende Prognoseentscheidung konnte die Kammer allein auf der Grundlage des festgestellten Verlaufs der Bewährungs- bzw. Führungsaufsichtszeit sowie der Anhörung des Untergebrachten und des Bewährungshelfers nicht treffen. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben sich auch verfahrensrechtliche Anforderungen, die der hohen Bedeutung des Freiheitsrechts ausreichend Rechnung zu tragen haben (BVerfG NStZ-RR 2013, 115 m.w.N.). Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben (vgl. BVerfGE 86, 288; 109, 133; 117, 71; BVerfGK 15, 390). Dem wird die Sachaufklärung im angefochtenen Beschluss nicht gerecht, da keine konkreten und objektivierbaren Anhaltspunkte dafür dargelegt sind, dass und warum der Weisungsverstoß Anlass zu der Besorgnis gibt, der Beschwerdeführer werde weitere Straftaten begehen bzw. er werde ohne die Unterbringung erhebliche rechtswidrige Taten begehen.
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Im Hinblick auf die potentiell lebenslange Dauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sind nicht nur bei der Entscheidung über die Fortdauer einer Unterbringung, sondern auch bei dem Widerruf ihrer Aussetzung erhöhte Anforderungen an die Sachaufklärung zu stellen (KG Berlin NStZ-RR 2009, 61). Angesichts dessen, dass das letzte schriftliche psychiatrische Sachverständigengutachten in diesem Verfahren vom 07.06.2016 datiert und in der Hauptverhandlung am 14.10.2016 mündlich erstattet worden ist, und dass keine sonstige verfahrensbezogene ärztliche Stellungnahme vorliegt, war die Einholung eines neuen Gutachtens vor der Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung schon deshalb geboten. Die Kammer hat nach dem Akteninhalt auch nicht erwogen, die den Beschwerdeführer seit 06.09.2013 regelmäßig behandelnde Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K - nach entsprechender Schweigepflichtsentbindung - zur weiteren Sachaufklärung anzuhören.
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Vor dem Hintergrund, dass der 27 Jahre alte Beschwerdeführer, der an einer hirnorganischen Störung leidet, im Bewährungs- bzw. Führungsaufsichtsverlauf durchwegs wechselnde Ausbildungs- und Arbeitsstellen inne hatte und damit seit Jahren in vielfältigen sozialen Bezügen steht und sich auch seit 06.09.2013 durchgehend in regelmäßiger nervenärztlichen Behandlung bei einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie befindet, jedoch seit der am 19.10.2014 begangenen Anlasstat strafrechtlich allein wegen einer am 20.04.2017 begangenen Beleidigung zum Nachteil seiner Fallmanagerin im Jobcenter (die er als „dicke, fette Kuh“ bezeichnete) in Erscheinung getreten ist, kann die (schon nicht ausdrückliche jedoch offensichtlich gewollte) Annahme der Kammer, er werde ohne die Unterbringung erhebliche rechtswidrige Taten begehen, nicht nachvollzogen werden (zu den Anforderungen an die negative Gefährlichkeitsprognose bei Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 Satz 1 bzw. Satz 2 StGB in der Fassung vom 08.07.2016 vgl. BGH NStZ-RR 2018, 86; NStZ-RR 2017, 76; NStZ-RR 2017, 170; StV 2017, 575; NStZ 2017, 694; StV 2017, 580, StV 2017, 584 und StV 2017, 585 jeweils mwN; Fischer, aaO, § 63 Rn. 24-42). Hinzu kommt, dass der Sachverständige Dr. T in seinem schriftlichen Gutachten vom 07.06.2016 zum Ergebnis gelangte, die Gefahr, dass der Verurteilte in Zukunft erneut mit Delikten wie beispielsweise Körperverletzung oder Widerstand strafrechtlich auffällig werde - unter der Voraussetzung einer Alkoholkarenz, der Fortführung seiner psycho-pharmakologischen Behandlung und regelmäßigen Lebensführung – könne als eher gering bezeichnet werden und der Verurteilte gegen das ihm auferlegte Konsumverbot von Alkohol und illegalen Drogen im gesamten Bewährungs- bzw. Führungsaufsichtsverlauf nicht nachweislich verstoßen hat.
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Auch eine Auseinandersetzung mit den Fragen, ob mildere Maßnahmen gem. § 56f Abs. 2 Satz 1 StGB ausreichen, um von einem Widerruf der Strafaussetzung abzusehen, bzw. mildere Maßnahmen gem. §§ 68a ff. iVm § 68d Abs. 1 StGB oder eine befristete (Wieder)Invollzugsetzung gem. § 67h Abs. 1 StGB ausreichend sind, um den Maßregelzweck zu erreichen, ist auf der Grundlage der bisher erfolgten Sachaufklärung nicht möglich.
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3. Der aufgezeigte Verfahrensfehler, der die Einholung eines psychiatrischen, kriminalprognostischen Gutachtens und die mündlichen Anhörung des Sachverständigen erforderlich macht, führt dazu, dass die Sache entgegen § 309 Abs. 2 StPO erneut an das Landgericht zurückzuverweisen ist (Meyer-Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 463 Rn. 10c und § 309 Rn. 8). Im Hinblick darauf, dass der Sachverständige Dr. T den Verurteilten seit dem Jahr 2013 bereits wiederholt begutachtet hat, ist es aus Sicht des Senats geboten, einen anderen Sachverständigen mit der Begutachtung des Beschwerdeführers zu beauftragen. Zudem wird der Beschwerdeführer zu befragen sein, ob er die ihn seit 06.09.2013 behandelnde Fachärztin, Frau Dr. K aus B, von ihrer Schweigepflicht entbindet.

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