Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 2 Ws 1/20

Tenor

1. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Freiburg gegen den Beschluss des Landgerichts Freiburg vom 11.12.2019 wird als unbegründet zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeschuldigten trägt die Staatskasse.

Gründe

 
I.
Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrem Rechtsmittel gegen die Aufhebung des gegen den Angeschuldigten am 23.10.2019 erlassenen Haftbefehls des Amtsgerichts Freiburg durch den im Tenor genannten Beschluss. Der Haftbefehl enthält folgende Ausführungen zu den Tatvorwürfen:
„Der Beschuldigte, der zumindest unter einer Autismusstörung und einer Intelligenzminderung leidet und zum Konsum psychotroper Substanzen neigt, sprach in der Vergangenheit immer wieder bevorzugt Mädchen in einer Altersspanne zwischen acht und elf Jahren in der Öffentlichkeit an, wobei er jeweils aufgrund des Aussehens und des Auftretens des Mädchens, die er nicht persönlich kannte, deren kindliches Alter erfasste, verwies in mehreren Fällen darauf, dass er sich eingekocht und/oder eingenistet hatte, und zeigte den Mädchen im Folgenden auch sein Glied vor, um sich hierdurch sexuell zu erregen. Die Wahrnehmung durch die Mädchen war ihm jeweils wichtig. Gegenüber Personen, die sich ihm gegenüber einschränkend zeigten und ihn auf sein Fehlverhalten hingewiesen, wurde der Beschuldigte verbal ausfällig.
1. Bd. II und Bd. I: Tat zum Nachteil von A. (*22.12.2007) und B. (*17.06.2007)
An einem nicht genau bestimmbaren Tag Anfang der 20. Kalenderwoche im Jahr 2018 (mutmaßlich am 14. oder 15.05.2018) begleitete die altersentsprechend entwickelter Geschädigter A. ihre gleichaltrige Freundin B in X. nach Hause. In der Ortsmitte auf Höhe der Kaffeerösterei im ... Weg … trafen sie auf dem Beschuldigten, an dem sie starken Uringeruch und ferner einen Kotfleck an seiner Hose wahrnahmen. Der Beschuldigte nahm Blickkontakt zu den beiden Mädchen auf, deren Alter er aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes zumindest billigend in Kauf genommen hatte, entblößte vor diesen [sein] Glied unter seiner kurzen Hose und zeigte es den beiden Mädchen vor. Die beiden Mädchen fühlten sich durch diese Situation belästigt und traten verängstigt schnell den Heimweg an.
2. Bd. I: Tat zum Nachteil von C. (*14.06.2007), D. (*24.11.2009), E. (*14.04.2007) und F. (*11.05.2010)
Der Beschuldigte hielt sich am 07.09.2018 nach 20:00 Uhr am Ausgang des Spielplatzgeländes im Y. auf. Dort beobachtete er die spielenden Kinder C. (*14.06.2007), D. (*24.11.2009), E. (*14.04.2007) und F. (*11.05.2010). Das Alter der altersentsprechend entwickelten und auch altersentsprechend agierenden Kinder erkannte der Beschuldigte und empfand es als erregend. Er kotete sich vor den Kindern ein und wies die Kinder auf diesen Umstand hin, als sie kurz nach acht Uhr den Spielplatz verließen. Ferner zeigte er Ihnen sein entblößtes Glied, wobei unter onanierenden Bewegungen an diesem zumindest von den Kindern C. und D. wahrgenommen wurden. Die Kinder wandten sich in der Folge hilfesuchend an den in der Nähe befindlichen Zeugen V.F., der den Beschuldigten mit den Vorwürfen konfrontierte und zurechtwies. Alle Kinder waren durch das Aufeinandertreffen aufgeschreckt und nachhaltig irritiert.
3. Bd. III: Tat zum Nachteil von CD.
Der Beschuldigte war am 08.09.2018, dem Folgetag von der Tat Ziff. 2, CD., dem Vater von C. und D., nach Wiedererkennen gestellt und bis zum Eintreffen der Polizei und der durch diese erfolgten Festnahme festgehalten worden. Hierüber erbost sprach der Beschuldigte CD. bei einem zufälligen Aufeinandertreffen mit CD. diesen am 09.01.2019 gegen 17:15 Uhr an der Straßenbahnhaltestelle M-Platz an, verpasste ihm einen Schlag gegen die Schulter, der keine Schmerzen verursachte, und beleidigte ihn mit den Worten „Du Bastard, du wirst dein Wunder noch erleben!“, um ihm gegenüber seine Missachtung zu bekunden. Die Handlung hat den Geschädigten stark verunsichert.
Strafantrag wurde form- und fristgerecht gestellt.
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4. Bd. IV: Tat zum Nachteil von G. (*08.09.2009)
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Am 24.06.2019 befand sich die am 08.09.2009 geborene Geschädigte G. in Begleitung ihrer 18 Monate alten Pflegeschwester gegen 18:00 Uhr auf dem Weg zum Spielplatz in Y.. Der lediglich mit einer Badehose bekleidete Beschuldigte saß auf dem Weg auf seinem Fahrrad. Er manipulierte währenddessen mit beiden Händen an seinem entblößten Glied und setzte diese Handlung auch fort, nachdem er zu der Geschädigten Blickkontakt aufgenommen hatte. Die Geschädigte fühlte sich belästigt und irritiert und schlief deswegen in der Nacht bei ihrer Mutter.
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5. Bd. V: Tat zum Nachteil von H. (*29.05.2010)
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Der Beschuldigte sprach am 25.06.2019 kurz nach 17:00 Uhr die zu diesem Tatzeitpunkt äußerlich deutlich erkennbar erst neun Jahre alte Geschädigte H. im Bereich zwischen dem K-Gymnasium und der Ecke O. in Y. an und fragte sie nach der nächsten Toilette. Dabei zeigte er auf die Rückseite seiner Hose, die erkennbar bereits eingekotet war. In der Folge drehte er sich nach vorne zu der Geschädigten um und zeigte sein entblößtes Glied mit der Bemerkung „Ups“. Das verschreckte Mädchen entfernte sich darauf rennend.
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6. Bd. VI: Tat zum Nachteil von I. (*01.06.2009) und J. (*27.12.2012)
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Der Beschuldigte sprach am 26.06.2019 kurz nach 17:00 Uhr die sechs und zehn Jahre alten Mädchen auf ihrem Nachhauseweg von der Bibliothek im Z. an. Der Beschuldigte führte hierbei ein Fahrrad mit sich, dass er zwischen die Beine geklemmt hatte. Zunächst wies er die Mädchen darauf hin, dass er sich bereits eingekotet hätte, anschließend präsentierte er ihnen sein entblößtes Glied.
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7. Bd. VII: Tat zum Nachteil von K. (*01.10.2008) und L. (*09.11.2007)
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Der Beschuldigte bremste am 27.06.2019 gegen 16:00 Uhr sein Fahrrad auf dem Weg hinter dem Kindergarten in Y., ab und stieg von diesen ab, als er die beiden elf Jahre alten Mädchen wahrnahm. Ihr Alter ungefähr zutreffend einschätzend fragte er sie nach der nächstgelegenen Toilette, wobei er wiederum darauf verwies und darlegte, sich bereits eingekotet zu haben. In der Folge zeigte er durch Herunterziehen der getragenen Hose den Mädchen auch sein entblößtes Glied.
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8. Bd. VIII: Beleidigung zum Nachteil von V.F.
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Der Beschuldigte zeigte am 22.07.2019 gegen 20:00 Uhr gegenüber dem Geschädigten V.F., der im Fall Ziff. 2 den geschädigten Kindern beigestanden hatte, den entblößten Mittelfinger, um seine Missachtung auszudrücken. Der Beschuldigte erkannte im Bus vorne sitzend auf der F. Straße in Y., den Geschädigten als den Mann wieder, der ihn auf sein ungebührliches Verhalten angesprochen hatte.
20 
Strafantrag wurde form- und fristgerecht gestellt.
21 
9. Bd. IX: Tat zum Nachteil von M. (geb. am 25.11.2008) und N. (geb. am 25.12.2008)
22 
Der Beschuldigte drehte am 13.09.2019 gegen 17:00 Uhr mit einem E-Bike Runden um den Spielplatz an der A-Straße im... Stadtteil B.. Dabei nahm er die beiden sich dort befindlichen neun Jahre alten Geschädigten M. und N. wahr, zog vor diesen seine Hose herunter und zeigte ihnen sein entblößtes Glied. Die Mädchen entfernte sich durch die Tat verschreckt schnell.
23 
Die Staatsanwaltschaft hält wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung jeweils ein Einschreiten von Amts wegen für geboten.“
II.
24 
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
25 
Der Angeschuldigte ist zwar der ihm zur Last gelegten Taten dringend verdächtig (1.), bei denen es sich um erhebliche sexuelle Handlungen i.S.d. § 184h StGB handelt (2.). Dem Erlass eines Haftbefehls steht aber entgegen, dass der vorliegend allein in Betracht kommende Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO) nicht vorliegt (3.)
26 
1. Zutreffend hat die Jugendkammer dargelegt, dass der Angeschuldigte der ihm im Haftbefehl vorgeworfenen Taten dringend verdächtig ist, wobei aber ebenfalls in Übereinstimmung mit den Ausführungen der Jugendkammer einschränkend festzuhalten ist, dass jedenfalls kein dringender Verdacht dahingehend besteht, dass der Angeschuldigte dabei onaniert oder sonst wie an seinem Genital manipuliert hat. Insoweit kann auf die Ausführungen im angegriffenen Beschluss verwiesen werden.
27 
2. Soweit die Jugendkammer die Annahme eines sexuellen Missbrauchs von Kindern gem. § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB mangels erheblicher sexueller Handlung i. S. d. § 184h Nr. 1 StGB verneint hat, tritt der Senat dem nicht bei.
28 
a) Eine sexuelle Handlung liegt nach dieser Vorschrift vor, wenn ein Tun gegeben ist, das aus der Sicht eines objektiven Betrachters unmittelbar der Befriedigung geschlechtlicher Bedürfnisse eines Menschen dient. Die Verhaltensweise muss das Geschlechtliche im Menschen zum unmittelbaren Gegenstand haben und bereits nach ihrem äußeren Erscheinungsbild für das allgemeine Verständnis sexualbezogen sein (Ziegler in BeckOK StGB, Stand 01.11.2019, § 184h Rn. 3 m.w.N.). Nur bei äußerlich mehrdeutigen Handlungen kommt es maßgeblich darauf an, ob der Täter sexuell motiviert handelt oder nicht (BGH, Urteil vom 21.09.2016 - 2 StR 558/15 -; juris Rn. 12; Ziegler a.a.O.). Dabei ist bereits aus der Regelung des § 183 Abs. 4 Nr. 2 StGB zu schließen, dass nach dem gesetzgeberischen Willen auch exhibitionistische Handlungen von § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB erfasst werden oder zumindest erfasst werden können (vgl. dazu BGH, Urteil vom 10.01.2019 - 1 StR 463/18 -, juris Rn. 23; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 183 Rn. 4). Unter einer exhibitionistischen Handlung ist das Vorzeigen des Glieds gegenüber einer anderen Person ohne deren Einverständnis in der Absicht, sich selbst hierdurch oder zusätzlich durch die Reaktion des Gegenübers sexuell zu erregen oder zu befriedigen, zu verstehen (Fischer a.a.O.). Einer Manipulation am Geschlechtsteil bedarf es zur Tatbestandsverwirklichung nicht, was sich schon aus dem Begriff selbst ergibt.
29 
Nach vorläufiger Würdigung des derzeitigen Verfahrensstandes erscheint es ganz überwiegend wahrscheinlich, dass es dem Angeschuldigten bei seinem Handeln darum ging, sexuell motiviert den Kindern sein Geschlechtsteil zu präsentieren. Dafür spricht bereits die schiere Zahl der im wesentlichen gleichartigen Vorfälle. Die Fälle 5, 6 und 7 sind nach jetzigem Stand zudem an aufeinander folgenden Tagen begangen worden, was für gezieltes handeln und nicht bloß für zufällige Begegnungen mit Kindern spricht. Weiter waren die jeweils geschädigten Kinder im vorpubertären Alter, wobei sich unter ihnen immer Mädchen befanden. Dies spricht für eine Auswahl unter den in Betracht kommenden Geschädigten. Auch legte der Angeschuldigte bei vorläufiger Bewertung des Akteninhalts zudem keine besondere Scham an den Tag, wenn es um den Umgang mit seiner eingekoteten Hose oder mit der Sichtbarkeit seines Genitals ging. Demnach sprechen Häufigkeit, die betroffene Personengruppe und das sonstige Verhalten des Angeschuldigten dafür, dass er z. B. in den Fällen 5 und 7 nicht nur versehentlich sein Geschlechtsteil entblößt hat, auch wenn dies den Geschädigten offensichtlich suggeriert werden sollte. Nachdem die Geschehnisse fast ausnahmslos im Zusammenhang mit dem Einkoten der Hose stehen und der Angeschuldigte zumindest eingeräumt hat, früher Internetseiten mit koprophilem Inhalt aufgesucht zu haben, ist bei vorläufiger Würdigung der Sexualbezug sehr wahrscheinlich, zumal sonstige Gründe für sein Verhalten sowie Anhaltspunkte für ein sonst erfülltes Sexualleben bei dem unter Autismus leidenden und damit auch nach eigenem Bekunden in seiner Kontaktfähigkeit eingeschränkten Angeschuldigten nicht bestehen.
30 
b) Die sexuellen Handlungen, deren der Verurteilte dringend verdächtig ist, sind auch von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB. Bei der Bestimmung der Erheblichkeitsschwelle sind Art, Intensität und Dauer des sexualbezogenen Vorgehens sowie der Handlungsrahmen und die Beziehung der Beteiligten untereinander zu berücksichtigen (Ziegler a.a.O., Rn. 5). Insbesondere muss bei der gebotenen Gesamtbetrachtung das betroffene Rechtsgut berücksichtigt werden; von Bedeutung ist deshalb auch, ob die sexuelle Handlung gegenüber einem Kind oder einer erwachsenen Person vorgenommen wird (BGH StV 2019, 550; Ziegler a.a.O.). Durch § 176 StGB wird die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern geschützt, weshalb sie von vorzeitigen sexuellen Erlebnissen freigehalten werden sollen (BGH, Beschluss vom 18.12.2018 - 3 StR 427/18 -, juris Rn. 5). Dabei ist nicht erforderlich, dass die Kinder den sexuellen Bezug der Handlung erfassen (Fischer a.a.O., § 176 Rn. 9; Ziegler a.a.O., § 176 Rn. 21).
31 
Unter Beachtung der genannten Kriterien ist bei allen Tatvorwürfen des Haftbefehls mit Sexualbezug die Erheblichkeitsschwelle überschritten. Die ältesten Kinder waren zum vermutlichen Tatzeitpunkt elf Jahre alt. Erwachsene, die den Kindern hätten zu Hilfe eilen können, befanden sich nicht in unmittelbarer Nähe. Die Kinder kannten den Angeschuldigten zuvor nicht und wurden überraschend an einem Ort, an dem damit nicht zu rechnen war, mit dessen entblößtem Glied konfrontiert. Dementsprechend stellte sich auch das lediglich kurzzeitige Präsentieren des nackten Genitals als ein äußerst verstörenden Vorgang dar, wie sich zum Teil schon aus den Folgen des Geschehens für die Geschädigten ergibt. Angesichts der Tatsache, dass ein Onanieren über der Hose und unter der vorgehaltenen Stofftasche in der S-Bahn gegenüber einem zehnjährigen Jungen bereits eine erhebliche sexuelle Handlung darstellt (BGH - 1 StR 463/18 -, a.a.O.), war auch hier die Erheblichkeit zu bejahen.
32 
3. Der für den Erlass eines Haftbefehls erforderliche Haftgrund liegt nicht vor.
33 
a) Auch unter Berücksichtigung der im Haftbefehl unter Nr. 3 und 8 aufgeführten Taten liegt die Annahme von Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 b StPO) fern, weil jedenfalls nicht zu erwarten ist, dass durch das Handeln des Angeschuldigten die Ermittlung der Wahrheit erschwert werden wird.
34 
b) Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gem. § 112a StPO ist ebenfalls nicht gegeben.
35 
Die wegen Wiederholungsgefahr (§ 112 a StPO) angeordnete Untersuchungshaft stellt kein Mittel der Verfahrenssicherung dar, sondern ist eine vorbeugende Maßnahme zum Schutze der Rechtsgemeinschaft vor weiteren erheblichen Straftaten dar, ist somit präventiv-polizeilicher Natur (vgl. BVerfGE 19, 342). Aus verfassungsrechtlichen Gründen sind deshalb strenge Anforderungen an den Haftgrund der Wiederholungsgefahr zu stellen (BVerfGE 35, 185; OLG Karlsruhe - Senat -, Die Justiz 2011, 73; OLG Jena StraFo 2009, 21; OLG Bremen NStZ-RR 2001, 220). Wiederholungsgefahr i.S. des § 112 a Abs. 1 StPO setzt danach zunächst voraus, dass bestimmte Tatsachen die Annahme einer so starken Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Straftaten erkennen lassen, dass die Gefahr zur Begehung gleichartiger Taten bis zur rechtskräftigen Verurteilung in der den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens bildenden Sache besteht (OLG Bremen a.a.O.; OLG Jena StV 2014, 750). Die zu besorgende Begehung von Taten, die einen der in § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO aufgeführten Tatbestände erfüllen, rechtfertigt nach dem Gesetz jedoch nur dann die Anordnung von Untersuchungshaft, wenn es sich um erhebliche Taten handelt. Nachdem es sich dabei um eine zur Begehung einer oder mehrerer der in § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO aufgeführten Anlasstat zusätzlichen tatbestandlichen Voraussetzung handelt, geht der damit erforderliche Schweregrad über die in § 184h StPO vorausgesetzte Erheblichkeit hinaus. Im Übrigen bestehen zwar Unterschiede in der Auslegung des in § 112a Abs. 1 StPO verwendeten Erheblichkeitsbegriffs; Einigkeit besteht jedoch insoweit, dass dafür er nicht durch solche Straftaten erfüllt wird, die nicht wenigstens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (KG NStZ-RR 2010, 291; LR-Lind, StPO, 27. Aufl., § 112a Rn. 63; KK-Graf, StPO, 8. Aufl., § 112a Rn. 18; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 112a Rn. 12; MK-Böhm, StPO, § 112a Rn. 52; SK-Paeffgen, StPO, 5. Aufl., § 112a Rn. 17; HK-Posthoff, StPO, 6. Aufl., § 112a Rn. 18; Krauß in Graf, StPO, 3. Aufl., § 112a Rn. 14). Dazu rechnen im Allgemeinen Straftaten, für die das Gesetz im Höchstmaß Freiheitsstrafe von fünf Jahren oder mehr androht, wobei es jedoch einer Betrachtung des Gewichts im Einzelfall bedarf (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 24.7.2013 - 2 BvR 298/12; juris; vom 12.12.2013 - 2 BvR 1690/13, juris und vom 22.8.2017 - 2 BvR 2039/16, juris; BGH NJW 2013, 3383 und Beschluss vom 16.6.2014 - 4 StR 111/14, juris - alle zu § 63 StGB).
36 
Nach diesen Maßstäben liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr nicht vor.
37 
aa) Soweit die mehrfache Begehung von Anlasstaten ein starkes Indiz für die Gefahr der Begehung weiterer gleichartiger Taten darstellt, ist in die gleichwohl gebotene Gesamtwürdigung vorliegend einzubeziehen, dass sich der Angeschuldigte aufgrund des am 23.10.2019 erlassenen Haftbefehls bis zu dessen Aufhebung durch den angefochtenen Beschluss vom 11.12.2019 - erstmals - in Untersuchungshaft befunden hat und nach einer vom Senat eingeholten Auskunft keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er seit seiner Entlassung durch weitere, den ihm im Haftbefehl und der Anklageschrift vom 25.11.2019 vorgeworfenen Taten vergleichbare Verfehlungen aufgefallen ist. Bereits dadurch ist die Annahme, es werde noch vor der Aburteilung zu der Begehung solcher Taten kommen, in Frage gestellt.
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bb) Unabhängig erreicht das Handeln des Angeschuldigten in Gestalt des sexuell motivierten Entblößens des Geschlechtsteils vor Kindern, ungeachtet ihrer fraglosen Eignung zu nachhaltiger negativer Beeindruckung der Betroffenen und der damit verbundenen Störung des sozialen Friedens, aus folgenden Erwägungen nicht die in § 112a Abs. 1 StPO vorausgesetzte Erheblichkeitsschwelle:
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§ 183 Abs. 4 Nr. 2, Abs. 3 StGB eröffnet die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung einer wegen § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB verhängten Strafe auch dann, wenn zu erwarten ist dass der Täter erst nach einer längeren Behandlung keine einschlägigen Straftaten mehr begehen wird. Im Hinblick auf eine erhoffte erfolgreiche Behandlung nimmt der Gesetzgeber damit für einen längeren Zeitraum in Kauf, dass auch nach der rechtskräftigen Verurteilungen weitere Straftaten nach § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB begangen werden (BGH - 1 StR 463/18 - a.a.O., Rn 23). Dementsprechend können exhibitionistische Handlungen vor Kindern nicht generell als erhebliche, für die Allgemeinheit gefährliche Straftaten angesehen und damit eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB angeordnet werden (BGH - 1 StR 463/18 - a.a.O., Rn 23; OLG Braunschweig, Beschluss vom 05.02.2014 - 1 Ws 340/13 -; juris Rn. 13). So hat der Bundesgerichtshof bei einer Anlasstat, bei der der Täter in einer Kirche vor drei dreizehnjährigen Mädchen am entblößten Glied onanierte, nicht beanstandet, dass die Vorinstanz die Erwartung weiterer erheblicher Straftaten verneint hat (BGH - 1 StR 463/18 - a.a.O.).
40 
Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen müssen die genannten Umstände auch bei der Auslegung des Begriffs der Erheblichkeit bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr herangezogen werden. Soweit Taten nicht das Gewicht haben, trotz schlechter Prognose und damit bestehender Wiederholungsgefahr in jedem Fall zur Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung zu führen, können sie auch nicht pauschal die Inhaftierung wegen Wiederholungsgefahr vor einer rechtskräftigen Verurteilung rechtfertigen.
41 
Bei derzeitigem Stand ist nicht damit zu rechnen, dass der Angeschuldigte, unterstellt, er hat die im Haftbefehl aufgeführten Taten begangen, gewichtigere Taten als die ihm vorgeworfenen begehen wird. Über den Zeitraum der hier zu bewertenden Tatvorwürfe ist allenfalls eine Steigerung in der Häufigkeit, nicht aber in der Intensität feststellbar, sodass im Raum steht, dass der Angeschuldigte erneut Kinder zwischen acht und elf kurz anspricht, ihnen die verkotete Hose und seinen entblößten Penis zeigt und sich alsbald entfernt. Bereits die autistische Störung lässt es wenig wahrscheinlich erscheinen, dass der Angeschuldigte zukünftig das Gespräch mit den Kindern suchen wird, um sie zu berühren, von ihnen berührt zu werden oder zum Mitgehen zu bewegen. Anzeichen dafür, dass der Angeschuldigte in der konkreten Situation gegenüber den Kindern mit Drohungen agieren oder gar Gewalt einsetzen könnte, haben sich bisher nicht ergeben. Mithin sind bei der zur Zeit gegebenen Sachlage keine erheblichen Straftaten i. S. d. § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO zu befürchten. Dementsprechend bedarf es hier auch keines Eingehens darauf, inwieweit aufgrund der Tatsache, dass es sich beim Angeschuldigten um einen Heranwachsenden handelt, zusätzliche Anforderungen an die Wiederholungsgefahr zu stellen sind (dazu Posthoff in Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO, 6. Aufl., § 112a, Rn. 16; Graf a.a.O. Rn. 16).
III.
42 
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 StPO.
IV.
43 
Abschließend sei noch folgendes angemerkt: Mögen im Hinblick auf die gemachten Ausführungen auch Bedenken bestehen, ob, wie die Staatsanwaltschaft annimmt, eine Zuständigkeit der Jugendkammer nach §§ 41 Abs. 1 Nr.5, 108 Abs. 1 JGG besteht, so wird die Jugendkammer jedenfalls ihre Zuständigkeit nach §§ 41 Abs. 1 Nr. 4, 108 Abs. 1 JGG sorgfältig zu prüfen haben.

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