Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - Ausl 310 AR 16/19

Tenor

1. Die Auslieferung des Verfolgten nach Ungarn zur Strafvollstreckung aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Gerichtshofs in Y./Ungarn vom 19. Juli 2019 wird für zulässig erklärt.

2. Die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vom 20. Dezember 2019, keine Bewilligungshindernisse geltend machen zu wollen, wird nach vollumfänglicher Überprüfung gerichtlich bestätigt.

3. Die Auslieferungshaft hat fortzudauern (§ 26 IRG).

Gründe

 
I.
Gegen den sich seit seiner vorläufigen Festnahme am 11.12.2019 aufgrund des Senatsbeschlusses vom 16.12.2019 in Auslieferungshaft befindlichen Verfolgten besteht ein Europäischer Haftbefehl des Gerichtshofs in Y./Ungarn vom 19.07.2019, aus welchem sich ergibt, dass der Verfolgte durch vollstreckbares Urteil des Amtsgerichts Z./Ungarn vom 13.03.2017, rechtskräftig durch das Urteil des Gerichtshofs in Y./Ungarn vom 24.04.2018, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt wurde, welche noch vollständig zu Verbüßung ansteht.
Dem Verfolgten werden im Europäischen Haftbefehl nebst rechtlicher Würdigung die Begehung folgender Straftaten vorgeworfen:
Wird ausgeführt:
Der Verfolgte hat einer vereinfachten Auslieferung bei seinen richterlichen Anhörungen am 12.12.2019 vor dem Amtsgericht E/Deutschland und am 18.12.2019 vor dem Amtsgericht F./Deutschland nicht zugestimmt und die gegen ihn erhobenen Vorwürfe in Abrede gestellt. Von den abgeurteilten Straftaten habe er nur eine begangen, bei den anderen Diebstahlstaten sei er gar nicht dabei gewesen. Die Polizei habe ihn zur Abgabe eines Geständnisses gezwungen, weshalb die Staatsanwaltschaft in Y./Ungarn auch ein Verfahren gegen die Polizeibehörde eingeleitet habe. Er sei nur verurteilt worden, weil er schon früher Diebstahlstaten begangen habe und dafür inhaftiert worden sei. Mit seiner jetzigen Lebensgefährtin wohne er etwa seit einem Jahr in Deutschland, auch seine Mutter und sein Bruder lebten hier. Seine Lebensgefährtin erwarte ein Kind von ihm, wohingegen seine zwei eigenen Kinder weiterhin in Ungarn bei seiner früheren Lebenspartnerin lebten, zu welcher er aber keinen Kontakt mehr pflege. In den vergangenen Jahren sei er bei verschiedenen Baufirmen in Deutschland, Belgien und Holland beschäftigt gewesen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat am 20.12.2019 beantragt, die Auslieferung des Verfolgten im nachgesuchten Umfang für zulässig zu erklären. Zugleich hat sie entschieden, dass nicht beabsichtigt sei, Bewilligungshindernisse geltend zu machen. Hierzu hat sich die Rechtsbeiständin innerhalb der ihr bis zum 21.02.2020 gesetzten Frist nicht geäußert.
Weitere Einwendungen gegen die Zulässigkeit seiner Auslieferung hat der Verfolgte auch über seine Rechtsbeiständin nicht erhoben.
II.
Die Auslieferung des Verfolgten nach Ungarn zur Strafvollstreckung aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Gerichtshofs in Y./Ungarn vom 19.07.2019 ist zulässig, da die Auslieferungsvoraussetzungen vorliegen und Auslieferungshindernisse nicht bestehen. Insoweit nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Gründe seiner Beschlüsse vom 16.12.2019 und 11.02.2020, welche unverändert fortgelten. Ergänzend ist lediglich zu bemerken:
Soweit der Verfolgte bei seinen richterlichen Anhörungen vor den Amtsgerichten E./Deutschland und F./Deutschland den gegen ihn von den ungarischen Justizbehörden erhobenen und vorliegend sogar rechtskräftig abgeurteilten Tatvorwurf in Abrede stellt, verkennt er, dass eine Tatverdachtsprüfung auch und gerade bei Auslieferungen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls grundsätzlich nicht stattfindet (Senat StV 2007, 650, und Beschlüsse vom 10.11.2015 - 1 AK 111/14 - und 27.06.2016 - 1 AK 127/15 – und zuletzt vom 28.02.2019, Ausl 301 AR 185/18; BVerfG, Beschluss vom 28.07.2016 - 2 BvR 1468/16 - jeweils abgedruckt bei juris; Hackner in: Schomburg/Lagodny, IRG, 6. Auflage 2020, § 10 Rn. 29 ff., 51 ff.; § 78 Rn. 14 ff.; Böhm, in: Ahlbrecht/Böhm/Esser/Eckelmanns, Internationales Strafrecht, 2. Auflage 2017, Rn. 932 ff.). Das deutsche Auslieferungs-verfahren ist nämlich kein eigenständiges Strafverfahren, sondern lediglich ein Verfahren zur Unterstützung einer ausländischen Strafverfolgung. Es überlässt deshalb jedenfalls im vertraglichen Auslieferungsverkehr die Prüfung des Tatverdachts dem ausländischen Verfahren und überträgt dem inländischen Richter, der über die Zulässigkeit der Auslieferung zu befinden hat, nur die Prüfung der in den Auslieferungsbestimmungen geschaffenen  -formellen- Sicherungen gegen eine unzulässige Unterstützung des ausländischen Verfahrens. Dem deutschen Richter ist es deshalb grundsätzlich verwehrt, bei seiner Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung eine Prüfung des Tatverdachts (Schuldverdachts) vorzunehmen, und zwar regelmäßig grundsätzlich auch dann, wenn er Anlass zu der Annahme hat, dass das ausländische Gericht zu Unrecht den Tatverdacht bejaht hat (BGHSt 32, 314).
Besondere Umstände (§ 10 Abs. 2 IRG), welche ausnahmsweise eine andere Bewertung rechtfertigen könnten, liegen nicht vor. Solche wären etwa anzunehmen, wenn und soweit hinreichende Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der ersuchende Staat seinen Anspruch auf Auslieferung missbräuchlich geltend macht oder die besonderen Umstände des Falles befürchten lassen, der Verfolgte wäre einem Verfahren ausgesetzt gewesen, das gegen unabdingbare, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze und damit gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard im Sinne des Art. 25 GG verstoßen hätte, und die Tatverdachtsprüfung darüber Aufschluss geben könnte.
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Hiervon kann vorliegend nach Überzeugung des Senats keine Rede sein. Allein das Vorbringen des Verfolgten, seine Familie habe mit der Polizei in Z./Ungarn kein gutes Verhältnis und es bestünden Probleme, reicht hierfür nicht aus, zumal der Verfolgte selbst angibt, er habe insoweit eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet und seine Vorwürfe würden dort geprüft. Hinzu kommt, dass das Vorbringen des Verfolgten über sein „polizeilich erzwungenes Geständnis“ auch bei den Verhandlungen am 13.03.2017 vor dem Amtsgericht in Z./Ungarn und in der Berufungsinstanz vor dem Gerichtshof in Y./Ungarn am 24.04.2018 - sein entsprechendes Vorbringen unterstellt - gerichtlich geprüft worden ist oder hätte überprüft werden können, zumal der Verfolgte insoweit auch keine verfahrensrechtlichen Beanstandungen erhoben hat.
III.
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Die vom Senat nach § 79 Abs. 2 Satz 3 IRG zu überprüfende Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vom 20.12.2019, keine Bewilligungshindernisse geltend machen zu wollen, ist rechtsfehlerfrei getroffen und wird vorliegend zudem gerichtlich bestätigt.
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1. Insoweit bedarf jedoch die bisherige ständige Rechtsprechung des Senats der Ergänzung (vgl. hierzu zuletzt Senat, Beschluss vom 06.06.2019, Ausl 301 AR 208/18, abgedruckt bei juris; Böhm, in: Ahlbrecht/ Böhm/Esser/Eckelmanns, a.a.O., Rn. 1095 ff, 1109). Nach dieser handelt es sich beim Merkmal des „Überwiegens des schutzwürdigen Interesses“ i.S.d. § 83 b Abs.2 Satz 1 lit. b IRG um ein vom Senat vollumfänglich zu überprüfendes Tatbestandsmerkmal (a.A. weitgehende Ermessens entscheidung der Bewilligungsbehörde, vgl. OLG Oldenburg StV 2018, 584; KG StraFo 2018, 425 -Strafverfolgung-; Hackner, a.a.O., § 79 Rn. 17), dessen Bejahung im Regelfall die Annahme eines Bewilligungs-hindernisses indiziert. Ein vom Senat zu berücksichtigendes Restermessen der Generalsstaatsanwaltschaft besteht jedoch dann, wenn der ersuchende Staat ein legitimes und berechtigtes Interesse an der Vollstreckung der Strafe in seinem Hoheitsbereich hat (vgl. Senat a.a.O.),
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2. In seinen beiden Urteilen vom 27.05.2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH, Urt. v. 27.05.2019 – C-508/19 und C – 82/19 PPU, NJW 2019, 2145 ff.) ausgesprochen, dass ein Europäischer Haftbefehl als justizielle Entscheidung nach Art. 6 Abs.1 Rb-EuHB nur von einer Justizbehörde ausgestellt werden könne und gefordert, dass diese vollständig unabhängig sein müsse. Insoweit sei zu gewährleisten, dass in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auch der freie Verkehr strafrechtlicher justizieller Entscheidungen möglich sei. Diese Vorgabe sicherte der EuGH durch ein zweistufiges System ab. Zunächst müsse jede dem Europäischen Haftbefehl zugrundeliegende nationale Haftgrundlage gerichtlich überprüfbar sein, wobei an der Einhaltung im Hinblick auf die deutsche Rechtsordnung nicht gezweifelt wurde. Anders jedoch bei der zweiten Stufe. Danach müsse die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens auch bezüglich der im Regelfalle kurz nach dem Erlass der nationalen Haftanordnung erfolgten Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls insbesondere im Hinblick auf die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gewährleistet sein. Deshalb sei es erforderlich, dass die den Europäischen Haftbefehl „ausstellende Justizbehörde“ in der Lage sei, diese Aufgabe in objektiver Weise wahrzunehmen und ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Entscheidungsbefugnis Gegenstand externer Anordnungen oder Weisungen, insbesondere seitens der Exekutive werde. Dies setze aber deren vollständige Unabhängigkeit voraus, weshalb sie nicht der Gefahr ausgesetzt sein dürfe, einer Einzelweisung seitens der Exekutive unterworfen zu werden.
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Eine solche Abhängigkeit vermochte der EuGH allerdings bezüglich der deutschen Staatsanwaltschaft nicht auszuschließen, zumal diese als Behörde und nicht als Einrichtung der Justiz organisiert ist. Als solche unterliegt sie einem externen Weisungsrecht (§ 147 GVG), welches gerade auch den Landesjustizverwaltungen hinsichtlich aller staatsanwaltschaftlichen Beamten des betreffenden Landes zusteht.
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Insoweit reiche es -so der EuGH- aus, dass politische Einflussnahmen in Deutschland aufgrund der bestehenden Rechtslage nicht ausgeschlossen werden können, so dass die deutsche Staatsanwaltschaft nicht als ausstellende Justizbehörde i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Rb-EuHB angesehen werden kann und zur Ausstellung nur Gerichte befugt sind (vgl. hierzu OLG Hamm, Beschluss vom 01.08.2019, 2 Ws 96/19; OLG Schleswig, Beschluss vom 06.02.2020, 2 Ws 13/20; OLG Zweibrücken NJW 2019, 2869; OLG Frankfurt NStZ-RR 2019, 356, alle abgedruckt bei juris; vgl. hierzu auch zustimmend Böhm NZWiSt 2019, 325; krit. Oehmichen/Schmid StraFo 2019, 397).
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3. Diese Entscheidung kann nicht ohne Auswirkungen auf die Einstufung der vollstreckenden Justizbehörde nach Art. 6 Abs. 2 Rb-EuHB bleiben, welche nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaates für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zuständig ist. Dies ist nach deutschem Recht die Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht, der – soweit vorliegend erheblich– nicht nur die Entscheidung über die letztendliche Bewilligung der Auslieferung obliegt, sondern die auch im Rahmen der sog. Vorabbewilligung die Entscheidung über die Geltendmachung von Bewilligungshindernissen nach §§ 79, 83b IRG zu treffen hat. Zwar besteht nach § 79 Abs.1 IRG für die Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht eine grundsätzliche Pflicht zur Bewilligung von Auslieferungen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, aber nur dann, wenn keine Bewilligungshindernisse (§ 83 b IRG) vorliegen. Insoweit kommt ihr bei der Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung -wie oben ausgeführt- selbst nach der einschränkenden Rechtsprechung des Senats im Bereich der Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung ein nur eingeschränkt auf Rechtsfehler gerichtlich überprüfbares Restbewilligungs-ermessen zu.
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4. Unter Zugrundelegung der für den Senat insoweit verbindlichen und nicht in Frage zu stellenden Rechtsprechung des EuGH zur ausstellenden Justizbehörde handelt es sich bei der Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht, welche ebenfalls externen Weisungen nach § 147 GVG unterworfen ist, nicht um eine i.S.d. Art. 6 Abs.2 Rb-EuHB unabhängige Justizbehörde, so dass dieser im Hinblick auf die Frage der Geltendmachung von Bewilligungshindernissen von Rechts wegen kein eigener, nicht vollumfänglicher überprüfbarer und auf eine Ermessenskontrolle beschränkter Entscheidungsspielraum zukommen darf.
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Die der Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht einen Ermessens-spielraum einräumenden Vorschriften der §§ 79, 83b Abs.2 IRG sind jedoch deshalb nicht rechtswidrig, vielmehr können und müssen diese -soweit rechtlich möglich- rahmenbeschlusskonform ausgelegt werden (vgl. hierzu grundlegend EuGH, Urteil vom 16.06.2019, Cs 105/03 „Pupino“, NJW 2005, 2839; ders. Urteil vom 29.06.2017, C- 579/15 Rn. 31 ff., abgedruckt bei juris; vgl. auch Gleß/Wahl in: Schomburg/Lagodny, a.a.O., III. Rn. 93). Der Wortlaut der Normen steht einer Auslegung dahingehend, dass das Oberlandesgericht zu einer vollumfänglichen gerichtlichen Kontrolle einer Vorabbewilligung verpflichtet ist, nicht entgegen; auch wird kein Strafgesetz zum Nachteil des Betroffenen angewendet, sondern lediglich der gerichtliche Prüfungsumfang bei der neben der gerichtlichen Zulässigkeitsentscheidung zusätzlich im deutschen Recht national vorgesehenen Bewilligungsentschließung der Generalstaatsanwaltschaft den Vorgaben des Rb-EuHB angepasst. Im Ergebnis steht diese vollumfängliche Überprüfung einer vom EuGH als ausreichend angesehenen gerichtlichen „Bewilligung“ einer vorhergehenden staatsanwaltschaftlichen Entscheidung gleich (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 09.10.2019, C-489/19 PPU -Österreich-; abgedruckt bei juris).
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5. Bezüglich des Merkmals des „Überwiegens des schutzwürdigen Interesses“ i.S.d. § 83 b Abs. 2 Satz 1 lit. b IRG sind nach der ständigen Rechtsprechung des Senats vor allem folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Maßgeblich ist zunächst, ob durch die Verbüßung der Strafe im Inland die Resozialisierungschancen des Verfolgten merklich erhöht werden können (vgl. EuGH, Urteil vom 17.07.2008, C-66/08 - Kozlowski; Senat NStZ-RR 2009, 107; KG NJW 2010, 3177; siehe hierzu auch Böhm, in: Ahlbrecht/Böhm/Esser/Eckelmanns, a.a.O., Rn. 1095 ff, 1109), Der hiesige Strafvollzug muss also der Aufgabe, den Verurteilten zu einem künftigen Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu befähigen (§ 2 Satz 1 StVollzG, § 1 JVollzGB III BW), besser gerecht werden als die Strafvollstreckung im ersuchenden Staat. Insoweit ist über den gewöhnlichen Aufenthalt des Verfolgten in Deutschland hinaus - auch unter Beachtung des Gesichtspunktes des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs.1 GG (vgl. Senat NJW 2007, 2567) und der Gewährleistungen des Art. 8 Abs. 1 MRK - von Bedeutung, in welchem Maße die beruflichen, wirtschaftlichen, familiären und sozialen Beziehungen des Verfolgten im Inland verfestigt sind. Vor allem spielt aber der Zeitraum des Aufenthalts im Inland eine Rolle. Hält sich jemand nämlich bereits länger als fünf Jahre ununterbrochen im Inland auf, kann schon allein die Dauer dieses Aufenthalts ausreichen, um einen indiziellen Schluss auf eine ausreichende Integration im Inland zu rechtfertigen (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 16.04.2013 - 1 AK 19/13; EuGH, Urteil vom 05.09.2012, C-42/11 - Lopes da Silva Jorge - NJW 2013, 141, ders., Urteil vom 06.10.2009, C-123/08 - Wolzenburg - NJW 2010, 283). Auch stellt die Beherrschung der deutschen Sprache für die Annahme einer Integration einen gewichtigen Umstand dar. Gleiches gilt für eine länger andauernde rechtmäßig ausgeübte festangestellte oder freiberufliche Arbeits- oder Berufstätigkeit, denn eine solche belegt den Willen zur Integration. Andererseits ist anzunehmen, dass im Falle einer Vollstreckung der Strafe im Herkunftsstaat von vornherein keine der Resozialisierung entgegenstehenden sprachlichen und kulturellen Probleme bestehen (vgl. Senat, in: Ahlbrecht/Böhm/Esser/Eckelmanns a.a.O.; KG a.a.O.; OLG Celle StV 2013, 315). Im Allgemeinen müssen deshalb bei drohender Strafvollstreckung im Herkunftsland die Bindungen an Deutschland von besonderer Ausprägung sein, um ein Bewilligungshindernis zu begründen (vgl. KG a.a.O.). Auch ist wie bei jeder Auslieferungsentscheidung der Grundsatz des § 79 Abs. 1 IRG zu beachten, wonach eine zulässige Auslieferung nach dem gesetz-geberischen Willen im Regelfall auch zu bewilligen ist (vgl. BT-Drucksache 16/1024, 13).
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6. Unter Zugrundelegung dieses nunmehr vollumfänglich durch den Senat zu überprüfenden Prüfungsmaßstabes geht die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe in ihrer vom Senat gebilligten Entschließung vom 20.12.2019, auf welche verwiesen wird, vorab zu Recht davon aus, dass der Verfolgte im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Auch der von der Generalstaatsanwaltschaft angelegte Maßstab, ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse im Sinne des § 83b Abs. 2 lit b IRG sei nur anzunehmen, wenn dadurch die Resozialisierungschancen des Verfolgten wesentlich erhöht werden, trifft zu (vgl. Senat NStZ-RR 2009, 107; EuGH, Urteil vom 17.07.2008, C-66/08 - Kozlowski). Insoweit ist zunächst zu sehen, dass der Verfolgte noch keine fünf Jahre ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland lebt, weil er sich bis Dezember 2018 in Ungarn aufgehalten hat, so dass allein die Dauer seines Aufenthalts noch keinen indiziellen Schluss auf eine ausreichende Integration im Inland rechtfertigt. Hinzu kommt, dass der Verfolgte als ungarischer Staatsangehöriger der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig ist und weiterhin über Bindungen nach Ungarn verfügt. Allein der Umstand, dass der Verfolgte nunmehr seit einem Jahr mit seiner neuen und von ihm schwangeren Lebenspartnerin in Deutschland lebt, rechtfertigt nicht die Annahme, dass durch eine Inlandsvollstreckung die Resozialisierungschancen des Verfolgten wesentlich erhöht werden. Auch Art. 8 MRK ist nicht verletzt, zumal weiterhin briefliche und besuchsmäßige Kontakte zu seiner Lebenspartnerin, wenn diese in Deutschland bleiben sollte, möglich sind.
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7. Der Senat hat auch geprüft, ob eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung von Art.6 Abs. 2 Rb-EuHB geboten ist. Er hat dies nach Sachprüfung aus mehreren Gründen verneint. Es ist vorrangig Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob sein Recht in einer rahmenbeschlusskonformen Weise ausgelegt werden kann. Das nationale Gericht trägt auch die wesentliche Verantwortung für die Einhaltung der Grenzen einer solchen Auslegung. Kommt es bei der mithin zunächst ihm obliegenden Auslegung zu dem Ergebnis, die Voraussetzungen für die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (hier: nach Art. 267 AEUV) seien nicht gegeben, weil die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum ist ("acte claire-Doktrin") so ist es -auch als letztinstanzliches Gericht- zur Einholung dieser Vorabentscheidung nicht verpflichtet.
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Dies ist vorliegend der Fall. Der Senat ist -wie sich aus obigen Ausführungen ergibt- der Überzeugung, dass weder der Gerichtshof der Europäischen Union noch Gerichte anderer Mitgliedstaaten die Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 Rb-EUHb anders auslegen würden als der Senat dies vorliegend getan hat (vgl. BGHSt 57, 258 ff.). Es ist kein nachvollziehbarer Grund für eine unter-schiedliche rechtliche Bewertung zwischen der „ausstellenden Justizbehörde i.S.d. Art. 6 Abs. 1. Rb-EuHB“ und der „vollstreckenden Justizbehörde i.S.d. Art. 6 Abs.2 Rb-EuHB“ ersichtlich. Beide Behörden haben nach deutschem Recht einen eigenen nicht gerichtlich vollständig überprüfbaren Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum und können nach derzeit (noch) geltendem Recht -unabhängig ob dies tatsächlich in der forensischen Praxis erfolgt oder zu befürchten steht- externen ministeriellen Weisungen unterworfen werden, so dass ihnen im Lichte der Urteile des EuGH vom 27.05.2019 (EuGH, Urteil vom 27.05.2019 – C-508/19 und C – 82/19 PPU; NJW 2019, 2145 ff.) die Unabhängigkeit fehlt. Insoweit ist die Rechtslage auch in einer Weise geklärt, die für den Senat keinen vernünftigen Zweifel offenlässt ("acte éclairé").
IV.
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Die Auslieferungshaft hat fortzudauern. Es besteht auch weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 15 Abs.1 Nr.1 IRG), da zu befürchten steht, der kurz nach seiner letztinstanzlichen Verurteilung durch den Gerichtshof in Y./Ungarn am 24.04.2018 von Ungarn nach Deutschland übergesiedelte Verfolgte würde sich auf freiem Fuß belassen dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung durch Untertauchen im Inland zu entziehen suchen. In Anbetracht der seit 11.12.2019 andauernden Inhaftierung des Verfolgten ist die Auslieferungshaft auch weiterhin als

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