Hinweisbeschluss vom Oberlandesgericht München - 3 U 7524/19

Tenor

I. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 19.300,00 € festzusetzen sowie das Ersturteil des Landgerichts Deggendorf im Rubrum, in dem Familienname und Vorname des Klägers vertauscht sind, gemäß § 319 Abs. 1 ZPO zu berichtigen.

II. Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts Deggendorf, Az.: 32 O 274/19, vom 05.12.2019 durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.

Gründe

Zu I.:

Bei dem Pkw VW Golf handelt es sich um ein Fahrzeug der unteren Mittelklasse; anders als bei den sogenannten Premium-Fahrzeugen erachtet der Senat hier die Annahme einer Gesamtlaufleistung von 250.000 km im Wege der Schätzung (§ 287 ZPO) als naheliegend. Der Kläger hat am 05.11.2014 das Fahrzeug mit einem Kilometerstand Null erworben, es wies am 31.10.2019 einen Tachostand von 80.423 km auf (vergleiche klägerischen Schriftsatz vom 25.10.2019, Bl. 51 d. A.). Dies entspricht einer jährlichen Durchschnittsfahrleistung von 16.000 km. Nach dem Ablauf eines Vierteljahres seitdem ist von einem Kilometeransatz 3.750 km entsprechend der jährlichen Durchschnittsfahrleistung auszugehen, somit von einem Kilometerstand von 84.170. Dies entspricht 33,6% der Gesamtfahrleistung, bezogen auf den Nutzungsersatz von ca. 9.700,00 €, ergibt sich ein Berufungsstreitwert von 19.300,00 €. Entgegen der Formulierung in der Klageschrift handelt es sich bei dem (dort zu niedrig) angesetzten Nutzungsersatz nicht um ein Element der Zug-um-Zug-Leistung, sondern um einen Abzugsposten, der vom Kaufpreis zu saldieren ist. Nur im Wege dieser Saldierung ergibt sich das Ausmaß der klägerischen Beschwer durch eine (nicht zu seinen Gunsten ausfallende) Berufungsentscheidung.

Zu II.:

Der Senat erachtet die Berufung für offensichtlich unbegründet. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung ist nicht geboten.

Das Erstgericht hat am 31.10.2019 mündlich verhandelt und die auf Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des VW Golf unter Anrechnung der Nutzungsentschädigung sowie auf Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage, nebst Hilfsantrag über einen ins Ermessen des Gerichts gestellten Schadensersatz in Höhe von mindestens 8.700,00 € an die Klagepartei mit am 05.12.2019 verkündetem Endurteil abgewiesen. Der Senat nimmt auf diese ausführliche und überzeugende Begründung des Erstgerichts Bezug und macht sich diese zu eigen.

Die mit der Berufungsbegründung vom 23.12.2019 erhobenen Einwände gegen das Ersturteil sind nicht geeignet, eine anderweitige Beurteilung herbeizuführen. Zusammenfassend und ergänzend ist hierzu vom Senat noch auszuführen:

Ein Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte ergibt sich zunächst nicht aus § 826 BGB, weil ihm von der Beklagten nicht in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich ein Schaden zugefügt worden ist.

a) Zwar mag in Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung im Inverkehrbringen eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen ist, eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung gesehen werden - wenn nämlich hierdurch der Widerruf der Typengenehmigung oder zumindest die Stilllegung des konkreten Fahrzeugs drohen würde. Die weitere Betrachtung der hier vorliegenden Fallkonstellation unter dem rechtlichen Aspekt des § 826 BGB stützt jedoch das Berufungsvorbringen nicht.

b) Vorliegend hat sich der Kläger auf zwei verschiedene Sachverhalte berufen, die er für eine unzulässige Vorgehensweise der Beklagten hält, nämlich die Minderung der Abgasrückführung durch das sogenannte Thermofenster sowie die Zykluserkennung und Abschalteinrichtungen beim neu entwickelten streitgegenständlichen Dieselmotor EA 288.

1) Was ersteres angeht, ist das Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit diesem Thermofenster nicht als sittenwidrige Handlung zu bewerten. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Im Allgemeinen genügt es dafür nicht, dass der Handelnde eine Pflichtverletzung und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zu Tage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. In diesem Rahmen spielen Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden, die die Bewertung eines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen, eine Rolle.

Bezüglich des Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden kommt es im Wesentlichen auf die berechtigten Verhaltenserwartungen im Verkehr an (Staudinger/Oechsner, BGB, § 826, Rn. 31).

Legt man diese Maßstäbe zugrunde, ist das Verhalten der Beklagten, ein mit einem sogenannten Thermofenster ausgestattetes Fahrzeug in den Verkehr zu bringen, vorliegend nicht als sittenwidrige Handlung zu bewerten. Dabei kommt es vorliegend nicht darauf an, ob das im streitgegenständlichen Fahrzeug installierte Thermofenster eine objektiv unzulässige Abschalteinrichtung darstellt oder nicht. Zwar mag bei einer sogenannten „Schummelsoftware“, wie sie in dem VW-Motor EA189 verwendet worden war, von Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung die Sittenwidrigkeit des Handelns per se aus der Verwendung einer Umschaltlogik abgeleitet worden sein, weil die Verwendung einer solchen Abschalteinrichtung eindeutig unzulässig und dies den Handelnden bzw. den Verantwortlichen auch bewusst ist. Bei einer anderen die Abgasreinigung (Abgasrückführung und Abgasnachbehandlung) beeinflussenden Motorsteuerungssoftware, wie hier dem Thermofenster, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand, und bei der Gesichtspunkte des Motorrespektive Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft angeführt werden können, kann bei Fehlen jedweder konkreter Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein gehandelt hatten, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Demgegenüber muss bei dieser Sachlage, auch wenn - einmal unterstellt - hinsichtlich des Thermofensters von einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung ausgegangen werden sollte, eine möglicherweise falsche aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe in Betracht gezogen werden (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019, Az.: 3 U 148/18, Juris, Rn. 6). Eine Sittenwidrigkeit käme daher hier nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von der Verwendung einer Software mit der in Rede stehenden Funktionsweise im streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen, und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (OLG Köln, a. a. O.). Solche Anhaltspunkte behauptet die Klagepartei in der Berufungsbegründung nur pauschalierend (Seite 8 unten/Seite 9). Zudem vermengt die klägerische Darstellung die in der beim Vorgängermotor EA 189 für die Prüfstandsmanipulation behauptete Vorgehensweise in der Entwicklungsabteilung der Beklagten mit dem „Thermofenster“ im weiterentwickelten Dieselmotor EA 288.

In dem Fall, dass die Beklagte die Rechtslage fahrlässig verkannt hätte, würde es ihr an dem für die Sittenwidrigkeit in subjektiver Hinsicht erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit fehlen (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl. 2019, § 826, Rn. 8). Soweit die Klagepartei darlegen will, dass auf Seiten der Beklagten das Bewusstsein eines möglichen Gesetzesverstoßes, verbunden mit einer zumindest billigenden Inkaufnahme desselben, vorhanden gewesen sei, ist dies nicht nachvollziehbar.

Wie die kontrovers geführte Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 a VO (EG) 2007/715 zeigt, ist die Gesetzeslage an dieser Stelle nicht unzweifelhaft und eindeutig. Nach Einschätzung der vom Bundesverkehrsministerium eingesetzten Untersuchungskommission Volkswagen liegt ein Gesetzesverstoß durch die von allen Autoherstellern eingesetzten Thermofenster jedenfalls nicht eindeutig vor. So heißt es im Bericht der Kommission zur Auslegung der vorerwähnten Ausnahmevorschrift ausdrücklich (Bericht Stand April 2016, Seite 123): „Zudem verstößt eine weitere Interpretation durch die Fahrzeughersteller und die Verwendung von Abschalteinrichtungen mit der Begründung, dass eine Abschaltung erforderlich ist, um den Motor vor Beschädigung zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, angesichts der Unschärfe der Bestimmung, die auch weite Interpretationen zulässt, möglicherweise nicht gegen die VO (EG) Nr. 715/2007. Konsequenz dieser Unschärfe der europäischen Regelung könnte sein, dass unter Berufung auf den Motorschutz die Verwendung von Abschalteinrichtungen letztlich stets dann gerechtfertigt werden könnte, wenn von Seiten des Fahrzeugherstellers nachvollziehbar dargestellt wird, dass ohne die Verwendung einer solchen Einrichtung dem Motor Schaden droht, sei dieser auch noch so klein.“ Zudem zeigt auch der in der Literatur (etwa Führ, NWVZ 2017, 265) betriebene erhebliche Begründungsaufwand, um das „Thermofenster“ als unzulässige Abschalteinrichtung einzustufen, dass keine klare und eindeutige Rechtslage gegeben war, gegen welche die Beklagte seinerzeit bewusst verstoßen hätte (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019, a. a. O., OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019, 10 U 134/19, Juris, Rn. 89).

Von daher ist eine Auslegung, wonach ein Thermofenster eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, jedenfalls nicht unvertretbar. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann nicht als besonders verwerfliches Verhalten angesehen werden (vgl. OLG Stuttgart, a. a. O., Rn. 90). Letztlich bestand auch - trotz entsprechender Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Behörden für diese Materie - kein Anlass zu einem Rückruf seitens des Kraftfahrtbundesamts und zu einer Aufforderung an die Beklagte, die Abgasreinigung auf andere Weise vorzunehmen.

2) Soweit sich der Kläger in seiner Berufungsbegründung darauf stützt, die Beklagte habe das mit dem Dieselmotor EA288 ausgestattete Fahrzeug mit Zykluserkennungen und Abschalteinrichtungen in Verkehr gebracht, räumt die Berufungsbegründung eingangs (Seite 2 unten/Seite 3 oben) selbst ein, dass dieser Vorwurf mit der Klageschrift „noch nicht erhoben“ wurde. Damit wäre er mit diesem Vortrag nach § 531 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen, da Zulassungsgründe bereits nicht vorgetragen werden. Selbst wenn man diesen Vortrag nicht als verspätet ansähe, ist dieser unpräzise und nicht hinreichend, um die Anspruchsvoraussetzungen für eine deliktische Haftung darzulegen. Der zum Anlass für diese Ausführungen genommene Artikel in der Zeitschrift „Auto Motor & Sport“ (Anlage BB 1) verhält sich zu der Art der Manipulation nur sehr pauschal; über die Verantwortlichkeit für die Konfiguration des Dieselmotors EA288, der nach dem Bericht seit Ende 2012 verwendet worden sein soll, enthält die Berufungsbegründung keine Aussage.

Die Behauptungen, der streitgegenständliche Wagen enthalte unzulässige Abschalteinrichtungen und „Gaukler“ (sic) auf einem Prüfstand unzutreffend günstige Ergebnisse vor, erfolgten letztlich pauschal und „ins Blaue hinein“. Eine Beweiserhebung über diese Behauptungen des Klägers liefe letztlich auf einen in der ZPO nicht vorgesehenen Ausforschungsbeweis hinaus. Zudem bezieht sich der vorgelegte Pressebericht nicht auf das streitgegenständliche Fahrzeugmodell, sondern auf andere Fahrzeuge (Golf VII und Audi A3). Allein die Tatsache, dass ein vereinzeltes Landgericht sich zu einer Beweiserhebung, ob in einem VW Golf VII mit EA288-Diesel eine unerlaubte Abschalteinrichtung eingebaut sei, veranlasst sah, führt nicht dazu, dass im vorliegenden Fall noch in der Berufungsinstanz spekulativen Behauptungen nachgegangen werden müsste. Angesichts des Bestreitens der Beklagten (zuletzt erstinstanziell mit Schriftsatz vom 21.11.2019, Blatt 57/81 d. A.) hätte sich die Klagepartei auch nicht insoweit mit dem pauschalen substanzlosen Vortrag begnügen dürfen.

Der Senat teilt auch die Argumentation des Erstgerichts im Übrigen, so dass die Berufung voraussichtlich zurückzuweisen sein wird.

Die weiteren Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO liegen vor. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO). Der Rechtsstreit betrifft lediglich die Anwendung gesicherter Rechtsgrundsätze im konkreten Einzelfall; entscheidungserhebliche und klärungsbedürftige abstrakt-generelle Rechtsfragen zeigt die Berufung nicht auf. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 09.03.2020.

Folgendes ist zu beachten:

Der Senat gewährt im Rahmen seiner Hinweise nach § 522 Abs. 2 ZPO geräumige Fristen zur Stellungnahme. Zur Vermeidung eines unnötigen Verwaltungsmehraufwandes werden diese Fristen nur ganz ausnahmsweise und nur bei Vorliegen eines glaubhaft gemachten triftigen Grundes verlängert, wozu im allgemeinen nicht eine geltend gemachte Arbeitsüberlastung und die pauschale Behauptung zählen, dass mit der vertretenen Partei noch kein Kontakt zustande gekommen sei. Bei Fristverlängerungsgesuchen, die erst in der Woche vor Ablauf der Frist eingehen, kann mit einer Verbescheidung des Gesuchs im Fall der Ablehnung nicht in jedem Fall gerechnet werden.

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