Beschluss vom Oberlandesgericht Naumburg - 1 Ws (RB) 91/15

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Stendal vom 29. Juli 2015 aufgehoben, soweit das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO ausgesetzt worden ist.

2. Die Sache wird an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Stendal zurückverwiesen.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Antragstellers trägt die Landeskasse.

Gründe

I.

1

Mit Antrag vom 16. Juni 2015 begehrt der Antragsteller die gerichtliche Entscheidung über seinen Antrag, die Antragsgegnerin zu verpflichten, den von ihr im Wege der Aufrechnung eines Schadensersatzanspruches aus der Beschädigung von Anstaltskleidung von seinem Eigengeldkonto abgebuchten Betrag in Höhe von 20,75 € zurückzuerstatten.

2

Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Stendal hat mit Beschluss vom 29. Juli 2015 (509 StVK 261/15, 262/15) u. a. das Verfahren ausgesetzt und der Antragsgegnerin aufgegeben, ihren Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz binnen eines Monats vor dem Zivilgericht geltend zu machen.

3

Hiergegen wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer bei dem Landgericht Stendal am 06. August 2015 eingegangenen Beschwerde vom selben Tag. Die Strafvollstreckungskammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Oberlandesgericht Naumburg zur Entscheidung vorgelegt.

II.

4

Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig (§ 120 Abs. 1 StVollzG, § 304 StPO). Die Aussetzung eines Verfahrens gemäß §§ 109ff. StVollzG nach § 120 Abs. 1 StVollzG, § 262 Abs. 2 StPO ist anfechtbar, wenn - wie hier - geltend gemacht wird, dass die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen des § 262 Abs. 2 StPO nicht vorliegen und die Aussetzung daher nur verfahrensverzögernd wirkt (vgl. OLG Düsseldorf MDR 192, 989; OLG Rostock, Beschluss vom 12. November 2012 – I Ws 321/12 -; OLG Köln, Beschluss vom 13. Februar 1990 - 2 Ws 648/89, jeweils juris). Da die Aussetzung im Ermessen des Gerichts steht, ist auch dessen Ausübung auf Ermessensfehler hin überprüfbar.

5

Die Beschwerde hat in der Sache – zumindest vorläufig – Erfolg.

6

Die Strafvollstreckungskammer hat grundsätzlich in eigener Zuständigkeit über den im Verfahren nach §§ 109ff. StVollzG geltend gemachten Einwand der Aufrechnung zu befinden. Dies schließt die Entscheidung über Grund und Höhe des von der Justizvollzugsanstalt zur Aufrechnung gestellten Schadenersatzanspruchs ein. Dies folgt bereits aus der allgemeinen prozessualen Erwägung, dass die Strafvollstreckungskammer als erkennendes Gericht grundsätzlich alle für ihre Entscheidung bedeutsamen Vorfragen, zu denen auch die Aufrechnung als Einwendung gehört, selbst zu entscheiden hat. Der Umstand, dass gemäß § 93 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 StVollzG für die – klageweise - Geltendmachung von Schadensersatzforderung der ordentliche Rechtsweg gegeben ist, besagt nicht zwingend, dass die Überprüfung dieser - nicht beim Zivilgericht rechtshängigen - Ansprüche, sofern sie im Verfahren nach §§ 109ff. StVollzG einwendungsweise geltend gemacht werden, der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer entzogen sein müssten (vgl. OLG München NStZ 1987, 45f.; Arloth, StVollzG, 3. Aufl., Rn. 5 m. w. Nw.). Schließlich hat der Gesetzgeber die Aufrechnungsmöglichkeit bewusst nicht auf rechtskräftig festgestellte oder unbestrittene Forderungen beschränkt, sondern diese Frage der weiteren Rechtsprechung überlassen (vgl. Sonderausschuss BT-Drs. 7/3998, 35). Diese bejaht die uneingeschränkte Aufrechnungsmöglichkeit mit der Folge, dass der Gefangene gegen die Aufrechnung als Verwaltungsakt der Vollzugsbehörde den Anfechtungsantrag nach § 109 Abs. 1 StVollzG stellen kann. Die Strafvollstreckungskammer kann dann über das Bestehen und die Fälligkeit des Aufwendungsersatzanspruches der Anstalt als Vorfrage entscheiden, § 120 Abs. 1 StVollzG, § 262 Abs. 1 StPO (vgl. OLG München, a. a. O., OLG Dresden NStZ 1999, 446f. M; OLG Stuttgart MDR 1986, 170; Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 5. Aufl., § 93 Rn. 6). Eine solche Lösung ist nicht systemwidrig, da etwa ebenso im Adhäsionsverfahren der Gesetzgeber dem Strafrichter die Aufgabe zuweist, mit Rechtskraftwirkung über zivilrechtliche Ansprüche zu entscheiden (§ 406 Abs. 3 StPO). Auch wenn das Verfahren nach § 109ff. StVollzG weitgehend dem Verwaltungsgerichtsprozess nachgebildet ist, rechtfertigt dies allein kein anderes Ergebnis. Vielmehr ist in den Blick zu nehmen, dass der Gesetzgeber ein Auseinanderklaffen der Rechtswege als ungünstig und eine inzidente Entscheidung der Vollstreckungsgerichte über zivilrechtliche Vorfragen als geboten angesehen hat (vgl. Seebode, NStZ 1987, 48). Hierfür sprechen sowohl die Sachnähe der Strafvollstreckungskammer, da die tatsächlichen Grundlagen der zivilrechtlichen und der strafvollzugsrechtlichen Ansprüche durch die Verhältnisse des Strafvollzuges geprägt sind, als auch die Gründe der Prozessökonomie, der Verfahrensbeschleunigung und der Praktikabilität. Ansonsten hätte sich der Gefangene über das durch den Grundsatz der Amtsermittlung geprägte Verfahren nach § 109 StVollzG hinaus in einem kontradiktorischem Zivilverfahren gegen den von der Anstalt ursprünglich im Wege der Aufrechnung geltend gemachten Schadensersatzanspruch zu verteidigen, der in diesen Fällen den Hausgeldanspruch des Gefangenen betragsmäßig nicht übersteigt und daher von eher geringerer Höhe sein dürfte. Denn bei betragsmäßig größeren Schadensersatzansprüchen wird die Anstalt einen Titel zur Vollstreckung in anderes, ggf. künftiges Vermögen benötigen und daher den Schadensersatzanspruch klageweise gemäß § 93 Abs. 3 StVollzG vor den Zivilgerichten geltend machen müssen.

7

Soweit die Strafvollstreckungskammer aus den dargelegten Erwägungen bei der Aufrechnung der Anstalt mit einem Schadensersatzanspruch zur Entscheidung über dessen Grund und Höhe als Vorfrage berufen ist, steht es in ihrem pflichtgemäßen Ermessen, das Verfahren in geeigneten Fällen gemäß § 120 Abs. 1 StVollzG, § 262 Abs. 2 StPO in entsprechender Anwendung auszusetzen. Dagegen ist eine solche Verfahrensaussetzung nicht zwingend, wie dies teilweise vertreten wird (vgl. KG Berlin NStZ-RR 2003, 317ff.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22. Mai 2014 – 1 Ws 83/14, juris; AK-Feest/Köhne, StVollzG, 6. Aufl., § 93 Rn. 12).

8

Die Strafvollstreckungskammer hat zur Begründung der Verfahrensaussetzung ausgeführt: "Die Kammer ist nicht berechtigt, über die gegen den Gefangenen geltend gemachten Schadensersatzforderung, mit der der Anstaltsleiter aufgerechnet hat, mitzuentscheiden, obgleich für sie der Zivilrechtsweg eröffnet ist." und sich dabei auf die Entscheidung des Kammergerichts mit Beschluss vom 09. Mai 2003 – 5 Ws 135/03 Vollz. bezogen.

9

Die Kammer ist damit davon ausgegangen, dass ihr weder die Kompetenz zur Entscheidung über die gegen den Antragsteller geltend gemachte zivilrechtliche Forderung noch folglich ein Ermessen im Hinblick auf die Aussetzung des Verfahrens zusteht. Damit liegt ein Fall des Ermessensnichtgebrauch vor.

10

Der Senat verweist daher unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses die Sache an das Landgericht zurück. Die Strafvollstreckungskammer wird bei ihrer erneuten, nach pflichtgemäßen Ermessen zu treffenden Entscheidung über die entsprechenden Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO die Höhe der von der Anstalt im Wege der Aufrechnung geltendgemachten Schadensersatzforderung von 20,75 €, die Schwierigkeit der Vorfrage, die maßgeblich von dem im angefochtenen Beschluss als übersichtlich bezeichneten Sachverhalt mitbestimmt wird, und das Gebot der Verfahrensbeschleunigung zu berücksichtigen haben.

III.

11

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 121 Abs. 4 StVollzG, § 467 Abs. 1 S. 1 StPO.


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