Beschluss vom Oberlandesgericht Rostock (Vergabesenat) - 17 Verg 7/20

Tenor

I. Die Vorlage der 3. Vergabekammer bei dem Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern vom 21.12.2020 wird zurückgewiesen.

II. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe

I.

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Gegenstand des Verfahrens ist ein gegen die Mitglieder der Vergabekammer gerichtetes Ablehnungsgesuch der Antragstellerin.

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Die Antragstellerin wendet sich in der Hauptsache mit einem Nachprüfungsantrag gegen die Aufhebung eines Ausschreibungsverfahrens durch die Antragsgegnerin; diese führt dafür wirtschaftliche Gründe an, nachdem das einzig eingegangene Angebot der Antragstellerin die verfügbaren Mittel um mehr aus 129 Prozent übersteige.

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In der Verhandlung vor der Vergabekammer hat die Antragstellerin deren Mitglieder wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, weil ihr eine ausreichende Akteneinsicht nicht gewährt werde und die Vergabekammer ihr entscheidungserheblichen Vortrag der Antragsgegnerin während des Nachprüfungsverfahrens vorenthalte; auch sehe die Vergabekammer keine Veranlassung zu einer Prüfung des Wahrheitsgehaltes des Vorbringens der Antragsgegnerin trotz teilweise ersichtlich unzutreffender Darlegungen.

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Die Vergabekammer hat das Ablehnungsgesuch analog § 45 Abs. 3 ZPO dem Vergabesenat vorgelegt, weil sie mangels weiterer hauptamtlicher Entscheider keine ordnungsgemäße Besetzung gewährleisten könne.

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Die Antragstellerin ist der Auffassung, eine Zuständigkeit des Vergabesenats sei nicht gegeben. Eine entsprechende Anwendung von § 54 Abs. 1 VwGO komme nicht in Betracht, weil die Vergabekammer einem Gericht nicht vergleichbar sei; vielmehr seien allein die Vorschriften des VwVfG M-V heranzuziehen.

II.

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Die Vorlage der Vergabekammer zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch ist unzulässig; denn eine Zuständigkeit des Vergabesenates besteht insoweit nicht.

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1. Enthalten die speziellen verfahrensrechtlichen Vorschriften für das vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer in den §§ 160 ff. GWB weder ausdrücklich noch durch Verweisung eine Regelung über das Ablehnungsverfahren, scheidet für dieses ein Rückgriff auf §§ 54 VwGO i. V. m. 41 ff. ZPO aus; diese Vorschriften betreffen nämlich nur eine Ablehnung von Entscheidungsträgern eines Gerichts, während es sich bei einer Vergabekammer nicht um ein solches handelt.

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a. In dem durch Gewaltenteilung geprägten Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland ist die rechtsprechende Gewalt gemäß Art. 92 GG den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, die im GG vorgesehenen Bundesgerichte und die Gerichte der Länder ausgeübt. Zu Recht geht die Antragstellerin davon aus, dass eine Vergabekammer nicht die Funktion eines Gerichts ausübe oder einem Gericht zumindest ähnlich sei. Den Vergabekammern ist zwar die Aufgabe zugewiesen, die Vergabe von Aufträgen zu überprüfen. Bei dieser, dem Individualrechtsschutz dienenden "kontrollierenden" Tätigkeit handelt es sich jedoch nicht um Rechtsprechung, sondern um Verwaltungshandeln. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Gesetzgeber den Vergabekammern als Handlungsinstrument nach § 168 Abs. 3 Satz 1 GWB lediglich den Verwaltungsakt zugebilligt hat, nicht jedoch zum Beispiel den Erlass einer einstweiligen Anordnung, eines Gestaltungs- oder eines Feststellungsurteils. Ebenso wenig hat er die Vergabekammern mit Amtswaltern besetzt, die den formellen Status eines Richters im Sinne von Art. 92, 98 Abs. 1 und 3 GG i. V. m. §§ 8 ff. DRiG innehaben. In § 157 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 Satz 1 GWB ist lediglich vorgesehen, dass es sich bei dem Vorsitzenden der Kammer und dem hauptamtlichen Beisitzer um Beamte handelt, die für eine Amtszeit von fünf Jahren und nicht - wie bei Richtern üblich - auf Lebenszeit als Mitglieder der Vergabekammer bestellt werden; die ihnen in § 157 Abs. 4 Satz 2 GWB zugebilligte "Unabhängigkeit" verändert diesen Status nicht. Der Umstand, dass die Vergabekammer in der Besetzung von einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern "unabhängig und in eigener Verantwortung" entscheidet und mindestens der hauptamtliche Beisitzer Beamter auf Lebenszeit mit der Befähigung zum Richteramt sein muss, macht die Vergabekammer nicht zu einem Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit und ihre Entscheidungen nicht zu Gerichtsentscheidungen. Vielmehr bleiben die Entscheidungen der Vergabekammern Verwaltungsakte einer allenfalls gerichtsähnlich arbeitenden Behörde (vgl. BSG, Beschluss vom 22.04.2008, Az.: B 1 SF 1/08 R, - zitiert nach juris -, Rn. 39 m. w. N.).

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b. Damit sind für die Behandlung eines gegen Mitglieder der Vergabekammer gerichteten Ablehnungsgesuches stattdessen (unmittelbar) §§ 20 Abs. 4, 21 Abs. 1 und 2, 71 Abs. 1 und Abs. 3 VwVfG M-V anzuwenden (vgl. auch OLG Naumburg, Beschluss vom 31. Januar 2011 – 2 Verg 1/11 –, Rn. 18 ff., juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. November 2012 – Verg 42/12 –, Rn. 13, juris in Abweichung vom Beschluss vom 23. Januar 2006 – Verg 96/05 –, Rn. 16, juris; Summa in: Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Aufl., § 157 GWB (Stand: 01.10.2016), Rn. 18; aA Steck in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 5. Aufl. 2020, § 157 Rn. 17) die bei einer Behörde angesiedelte Vergabekammer ist einem Ausschuss im Sinne von § 88 VwVfG M-V zumindest sehr ähnlich (vgl. Summa in: Heiermann/Zeiss/Summa, a. a. O., § 157 GWB Rn. 16 m. w. N.).

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2. Das zuvor Gesagte gilt insbesondere auch für den Fall, dass die Vergabekammer - wie hier - aufgrund des Ablehnungsgesuches beschlussunfähig wird und eine bestehende behördliche Vertretungskette erschöpft ist. Unter derartigen Umständen hat die für die Einsetzung des Ausschusses zuständige Behörde, d. h. in dem vorliegenden Fall gemäß §§ 1 und 2 VgNG M-V das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern über das weitere Verfahren zu entscheiden (vgl. Henkel/Enders in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl., 2019, § 71 Rn. 36; Sachs/Kamp in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl., 2018, § 71 Rn. 39; Wysk in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 21. Aufl., 2020, § 71 Rn. 22, jeweils m. w. N.); einer Befassung des Vergabesenates gemäß §§ 54 Abs. 1 VwGO, 45 Abs. 3 ZPO bedarf es daher auch in einer solchen Situation nicht (vgl. wie hier OLG Naumburg, Beschluss vom 31. Januar 2011 – 2 Verg 1/11 –, Rn. 9 ff., juris; Horn/Hofmann in: Burgi/Dreher, Beck'scher Vergaberechtskommentar, 3. Aufl., 2017, § 157 GWB Rn. 28). Die unter Hinweis darauf, dass sonst der Behördenleiter bzw. Dienstvorgesetzte Äußerungen der (unabhängigen) Mitglieder der Vergabekammer zu bewerten hätte, vertretene abweichende Ansicht (vgl. Steck in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, a. a. O., § 157 Rn. 16 f.; ohne Begründung auch Summa in: Heiermann/Zeiss/Summa, a. a. O., § 157 GWB Rn. 29) teilt der Senat nicht. Der Behördenleiter bzw. Dienstvorgesetzte wird sich mit Blick auf die den Mitgliedern der Vergabekammer zugebilligte Unabhängigkeit (§ 157 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 2 GWB) einer inhaltlichen Bewertung zu enthalten und stattdessen für eine hinreichende personelle Ausstattung der Vergabekammer Sorge zu tragen haben, so dass eine Entscheidung über das Ablehnungsgesuch durch die Vergabekammer in der Vertreterbesetzung ergehen kann. Dieses Verständnis steht auch im Einklang mit der weiteren Verfahrensweise im Fall der Begründetheit eines Ablehnungsgesuchs. Auch in diesem Fall bleibt der Vergabesenat nur zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen eine ergangene oder gemäß § 171 Abs. 2 GWB fingierte Entscheidung der Vergabekammer berufen. Die unmittelbare Bescheidung eines Nachprüfungsantrags durch den Senat kommt demgegenüber nicht in Betracht, auch nicht über die bei Erschöpfung der Vertretungskette im gerichtlichen Kontext geltenden §§ 22b Abs. 2, 70 Abs. 1, 117 GVG. Auch in diesem Fall hätte also das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern Vertreter zu bestellen.

III.

11

Eine Kostengrundentscheidung ist nicht veranlasst; das gerichtliche Ablehnungsverfahren ist gebührenfrei und die anwaltliche Tätigkeit nach § 15 Abs. 1 RVG durch die Geschäftsgebühr nach Ziffer 2300 VV-RVG abgegolten. Damit ist die Festsetzung eines Gegenstandswertes für das gerichtliche Verfahrens ebenfalls entbehrlich.

IV.

12

Eine Vorlage nach § 179 Abs. 2 Satz 1 GWB ist nicht geboten. Zum einen besteht nach Sinn und Zweck der Vorschrift keine entsprechende Pflicht bezogen auf eine Zwischenentscheidung (vgl. Dicks in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., 2020, § 179 GWB Rn. 9; Stockmann in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl., 2021, § 179 GWB Rn. 19; Antweiler in: Burgi/Dreher, a. a. O., § 179 GWB Rn. 17, jeweils m. w. N.). Zum anderen ist divergierende Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte von vornherein nicht (mehr) ersichtlich (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. November 2012 – Verg 42/12 –, Rn. 13, juris, wonach an eine Vergabekammer gerichtete Befangenheitsanträge nach dem VwVfG zu beurteilen seien, während in den Beschlüssen vom 23. Januar 2006 – Verg 96/05 –, Rn. 16 und vom 24. August 2008 – Verg 24/08 –, jeweils zitiert nach juris, noch auf § 54 Abs. 1 VwGO abgestellt worden war; siehe im Übrigen die Fundstellen bei OLG Naumburg, a. a. O., Rn. 26).

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