Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht (2. Strafsenat) - 2 Ws 13/20
Tenor
Die weitere Beschwerde wird auf Kosten des Beschuldigten als unbegründet verworfen.
Gründe
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Die nach § 310 Abs. Abs. 1 Nr. 1 StPO statthafte und zulässig ausgeführte weitere Beschwerde des Beschuldigten hat in der Sache keinen Erfolg. Mit seiner weiteren Beschwerde wendet sich der Beschuldigte inhaltlich gegen die formelle Rechtswidrigkeit des vom Amtsgericht Kiel am 11. November 2019 ausgestellten Europäischen Haftbefehls.
I.
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Die weitere Beschwerde ist entgegen der Auffassung des Landgerichts nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO zulässig, da durch die angefochtene Entscheidung die Beschwerde gegen den Europäischen Haftbefehl des Amtsgerichts Kiel vom 11. November 2019 - 43 Gs 4958/19 - als unbegründet verworfen wurde und es sich bei einem Europäischen Haftbefehl nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses des Europäischen Rates vom 13. Juni 2002 (2002/584/JI) in der Fassung des Rahmenbeschlusses des Europäischen Rates vom 26. Februar 2009 (2009/299/JI) - RB EUHb - um eine justizielle Entscheidung handelt, welche die Festnahme einer gesuchten Person im Ausland bezweckt. Auch wenn es sich bei dem Europäischen Haftbefehl in erster Linie um ein Fahndungsinstrument zur Umsetzung eines nationalen Haftbefehls handelt, bildet er - zusammen mit dem nationalen Haftbefehl - doch die Grundlage für eine Verhaftung und kann zur Festnahme und Übergabe der gesuchten Person im europäischen Ausland führen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 27. Mai 2019 (C-508/18 und C-82/19 PPU, Rn. 70, 75) zudem festgestellt, dass der Erlass des Europäischen Haftbefehls zum Zwecke der Strafverfolgung „auf einem gerichtlicher Kontrolle unterworfenen nationalen Verfahren“ beruhen müsse und „die Ausstellung eines solchen Haftbefehls und insbesondere ihre Verhältnismäßigkeit in einer Weise gerichtlich überprüfbar sein“ müsse, „die den Erfordernissen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes voll und ganz genügt.“ Der Senat sieht vor diesem Hintergrund keine Veranlassung, den Erlass des Europäischen Haftbefehls nicht als Anwendungsfall einer „Verhaftung“ im Sinne von § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO, also eines Ergreifens des Gesuchten aufgrund eines Haftbefehls, zu behandeln.
II.
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Die damit zulässige weitere Beschwerde ist in der Sache jedoch unbegründet.
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Die Entscheidung des Landgerichts, die Beschwerde gegen den Europäischen Haftbefehl des Amtsgerichts Kiel als unbegründet zu verwerfen, ist nicht zu beanstanden. Insoweit wird ergänzend auch auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung und des Nichtabhilfebeschlusses vom 17. Januar 2020 verwiesen. Die Verteidigung rügt zu Unrecht, der Europäischen Haftbefehl des Amtsgerichts Kiel vom 11. November 2019 sei ohne rechtliche Grundlage ausgestellt worden.
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Eine rechtliche Grundlage für den Erlass eines Europäischen Haftbefehls ist im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) nicht enthalten. Auch § 74 IRG enthält keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für den Erlass eines solchen. Dort geregelt ist lediglich die grundsätzliche Zuständigkeit der Exekutive für Rechtshilfeersuchen in Strafsachen. Hiervon umfasst ist nicht die Frage, unter welchen zusätzlichen prozessualen Voraussetzungen gegen einen bestimmten Beschuldigten im konkreten Fall bestimmte grenzüberschreitende Maßnahmen wie Durchsuchungen, Beschlagnahmen, Vernehmungen o.a. zu ergreifen sind, bzw. ergriffen werden dürfen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 1. August 2019 - 2 Ws 96/19, Rn. 18 - beck-online). Diese Fragen sind daher nach allgemeinem inländischen Verfahrensrecht zu beurteilen (OLG Hamm a.a.O.). Dieser Einschätzung schließt sich der Senat an. Daher sind grundsätzlich nach § 77 Abs. 1 IRG insoweit die Vorschriften der Strafprozessordnung heranzuziehen.
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Die gesetzliche Grundlage für den vom Amtsgericht Kiel ausgestellten Europäischen Haftbefehl vom 11. November 2019 findet sich daher in § 131 StPO mit §§ 112, 112a, 113 StPO. Inhaltlich handelt es sich bei dem Europäischen Haftbefehl nämlich um ein Ersuchen des Amtsgerichts Kiel an die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, den Beschuldigten aufgrund eines nationalen Haftbefehls festzunehmen und dem Gericht zu übergeben. Ein solches Ersuchen stellt sich damit inhaltlich als Ausschreibung des Beschuldigten zur Festnahme dar. Für eine solche Ausschreibung zur Festnahme im Sinne von § 131 StPO ist das Amtsgericht Kiel örtlich und sachlich zuständig.
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Eine solche Ausschreibung zur Festnahme beinhaltet dabei naturgemäß stets auch das Ersuchen um eine Übergabe der Person, nachdem sie festgenommen worden ist. Der Europäische Haftbefehl stellt sich damit insbesondere als EU-weites Fahndungsinstrument dar (vgl. OLG Zweibrücken NJW 2019, 2869; OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2019, 356). Es ist auch nicht erkennbar, dass sich eine Ausschreibung zur Festnahme nach § 131 StPO nur an nationale Behörden richten könnte (vgl. OLG Zweibrücken a.a.O.). Eine solche Einschränkung ergibt sich weder aus dem Wortlaut des § 131 StPO, noch aus dem IRG. Es mag sein, dass bisher von den Staatsanwaltschaften § 131 StPO bei Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht als Ermächtigungsgrundlage herangezogen wurde. Dies spricht aber nicht dagegen, dass ein Gericht die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls, welcher gerade die Festnahme und vereinfachte Übergabe zwischen den Justizbehörden der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bezweckt (vgl. RB EUHb, 5. Erwägungsgrund), auf § 131 StPO stützt.
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Allerdings ist § 131 StPO bei Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls im Sinne des RB EUHb europarechtskonform auszulegen. Das ausstellende Gericht hat daher die allgemeinen Grundsätze des RB EUHb zu beachten und bei Erlass eines Europäischen Haftbefehls insbesondere zu überprüfen, ob „die für seine Ausstellung erforderlichen Voraussetzungen“ vorliegen und „und ob seine Ausstellung in Anbetracht der Besonderheiten des Einzelfalls verhältnismäßig“ ist (vgl. o.g. Urteil des EuGH, Rn. 71).
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Die formalen Voraussetzungen für den Erlass eines Europäischen Haftbefehls beschränken sich nach Art. 8 RB EUHb allerdings auf Inhalt und Form des Haftbefehls. Aus Art 8 Abs. 1 c) RB EUHb lässt sich ableiten, dass ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung vorliegen muss.
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Darüber hinaus stellen die §§ 112, 112a, 113 StPO deshalb zur Überzeugung des Senats, ergänzend zu § 131 StPO, die gesetzliche Grundlage für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls durch ein Gericht dar, weil das ausstellende Gericht nicht nur die formalen Voraussetzungen für die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls zu überprüfen hat, sondern auch betrachten muss, ob die Voraussetzungen für den Erlass des nationalen Haftbefehls zum Zeitpunkt der Ausstellung eines europäischen Haftbefehls weiterhin vorliegen. Dieses ergibt sich auch daraus, dass das EuGH ausdrücklich im o.g. Urteil vom 27. Mai 2019 festgehalten hat, dass die dem nationalen Haftbefehl nachfolgende Ausstellung des Europäischen Haftbefehls das Grundrecht auf Freiheit des Betroffenen weiter beeinträchtigen kann (EuGH, a.a.O., Rn. 68). Daher ist bei der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls, welcher die Verhaftung der gesuchten Person auf dem Gebiet der Europäischen Union ermöglicht und der damit einen dem nationalen Haftbefehl vergleichbaren, inhaltlich aber bezüglich des Territoriums abweichenden weiteren Grundrechtseingriff ermöglicht, einerseits zu prüfen, ob beim Erlass des nationalen Haftbefehls die Verfahrens- und Grundrechte gewahrt worden sind (EuGH a.a.O. Rn. 66), also die Voraussetzungen der §§ 112 - 113 StPO vorlagen, und andererseits, ob diese Voraussetzungen noch vorliegen und nicht möglicherweise weggefallen sind. Diese Prüfung mag sich in der Regel auf eine Plausibilitätsprüfung dahingehend beschränken, dass die Staatsanwaltschaft dem Gericht vor Ausstellung des Europäischen Haftbefehls mitteilt, ob die Voraussetzungen, welche die Grundlage für den Erlass des bereits vorliegenden nationalen Haftbefehls bildeten, weiterhin vorliegen. Allerdings ist es möglich, dass im konkreten Einzelfall gerade die Ausschreibung über den Erlass eines Europäischen Haftbefehls sich als unverhältnismäßig erweist.
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Eine darüber hinausgehende gesetzliche Grundlage ist für die Ausstellung des Europäischen Haftbefehl nicht erforderlich, schließlich geht seine Wirkung im engeren Sinne - nämlich die Verhaftung - nicht über den nationalen Haftbefehl hinaus. So ist im vorliegenden Verfahren der Haftbefehl des Amtsgerichts Kiel vom 7. Oktober 2019 vom Beschuldigten mit seiner Beschwerde im Übrigen auch nicht angegriffen worden. Insoweit kommt es auf die Ausführungen der Verteidigung in der Begründung der weiteren Beschwerde zu möglichen Grundrechtsverletzungen nicht an, da schon die §§ 112,112a, 113 StPO grundsätzlich eine geeignete gesetzliche Grundlage für entsprechende Eingriffe in das Freiheitsrecht darstellen.
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Vor diesem Hintergrund ist der Erlass des Europäischen Haftbefehls und die Verwerfung der gegen den Erlass gerichteten Beschwerde des Beschuldigten durch das Landgericht nicht zu beanstanden. Die von der Verteidigung gerügte formelle Rechtswidrigkeit des Europäischen Haftbefehls konnte der Senat nicht feststellen. Für die Anordnung, den Beschuldigten in Haft zu nehmen, und für das Ersuchen um Ergreifung und Übergabe ist zudem das Amtsgericht Kiel aufgrund von §§ 112 ff., 131 StPO sachlich zuständig. Für den Erlass eines Haftbefehls ist das Amtsgericht Kiel nach § 125 Abs. 1 StPO örtlich zuständig, da die Taten in K. und S. begangen wurden. Für die Ausschreibung zur Festnahme ist der Ermittlungsrichter nach §§ 131, 162 Abs. 1 Satz 1 StPO zuständig, also ebenfalls das Amtsgericht Kiel.
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Die weitere Beschwerde ist schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen begründet. Soweit der Verteidiger rügt, es liege ihm noch keine Entscheidung des Senats zu der weiteren Beschwerde vor, ist darauf hinzuweisen, dass das Verfahren am 30. Januar 2020 beim Senat eingegangen ist und daher von einer rechtstaatswidrigen Verzögerung aufgrund der zeitnahen Bearbeitung durch den Senat keine Rede sein kann. Eine Aufhebung des Europäischen Haftbefehls vom 11. November 2019 oder des nationalen Haftbefehls vom 7. Oktober 2019 ist derzeit auch nicht etwa unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten geboten. Der Beschuldigte befindet sich nach Auskunft des Verteidigers seit Ende November 2019 und damit erst seit etwas mehr als zwei Monaten in Auslieferungshaft in P.. Ihm wird u.a. ein Verbrechen vorgeworfen, nämlich die gemeinschaftliche Begehung einer versuchten schweren räuberischen Erpressung, was mit einer erheblichen Freiheitsstrafe bedroht ist, so dass die Haftdauer nicht als unverhältnismäßig bezeichnet werden kann.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
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Referenzen
- IRG § 77 Anwendung anderer Verfahrensvorschriften 1x
- StPO § 473 Kosten bei zurückgenommenem oder erfolglosem Rechtsmittel; Kosten der Wiedereinsetzung 1x
- StPO § 113 Untersuchungshaft bei leichteren Taten 3x
- 43 Gs 4958/19 1x (nicht zugeordnet)
- 2 Ws 96/19 1x (nicht zugeordnet)
- StPO § 131 Ausschreibung zur Festnahme 10x
- StPO § 310 Weitere Beschwerde 3x
- StPO § 162 Ermittlungsrichter 1x
- StPO § 112 Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe 3x
- StPO § 125 Zuständigkeit für den Erlass des Haftbefehls 1x
- §§ 112 ff., 131 StPO 1x (nicht zugeordnet)
- IRG § 74 Zuständigkeit des Bundes 1x
- StPO § 112a Haftgrund der Wiederholungsgefahr 3x