Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 6 - 2 StE 1/14

Gründe

 
I.
Das erstinstanzliche Strafverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart richtet sich gegen vier seit über einem Jahr in Untersuchungshaft befindliche Angeklagte mit dem jeweiligen Vorwurf der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (DHKP-C) nach § 129 b StGB. Die Ermittlungsakten umfassen insgesamt 140 Stehordner. Darin sind eine Fülle von Dokumenten (schriftliche Mitteilungen, E-Mail-Verkehr, der Organisation zugeschriebene Satzungen und Beschlüsse, Anweisungen, Berichte, verschriftete TKÜ-Maßnahmen etc) aufgenommen. Die Hauptverhandlung hat begonnen. Die Angeklagten machen keinerlei Angaben zur Person oder Sache. Die Dauer des Verfahrens läßt sich noch nicht absehen. Das Gericht hat zu Beginn der Hauptverhandlung 5 Stehordner (ca. 1.550 Blatt) an verlesbaren Selbstlesedokumenten zusammengestellt und in Kopien an die Verfahrensbeteiligten ausgegeben. Gegen die ergangenen Selbstleseverfügungen des Vorsitzenden haben die Verteidiger Widersprüche erhoben und diese mit dem Verstoß gegen Verfahrensgrundsätze und Verfahrensrechte der Angeklagten begründet. Der Senat hat die Widersprüche durch Beschluss zurückgewiesen.
II.
Die Widersprüche sind unbegründet; die von der Verteidigung behaupteten Verstöße gegen allgemeine strafprozessuale Verfahrensmaximen liegen nicht vor. Auch im Lichte der Vorgaben durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (vgl. hierzu etwa BGH, Beschl. v. 28.12.2012 - Az. 5 StR 251/12) ist festzustellen, dass die Angeklagten durch die in Rede stehenden Selbstleseverfahren in ihren Rechten nicht verletzt werden. Auch allgemeine Verfahrensgrundsätze sind nicht beeinträchtigt. Hierzu im Einzelnen:
1. Das vom Gesetzgeber zur Verfahrensstraffung beim Urkundenbeweis konzipierte Selbstleseverfahren dient in erster Linie der Verfahrenskonzentration / -beschleuni-gung bei der Beweisaufnahme umfangreichen Urkundenmaterials (vgl. hierzu Meyer-Goßner, StPO, 57. Aufl., § 249 Rdnr. 17).
Der (legitime) Zweck der Vorgehensweise nach § 249 Abs. 2 StPO besteht mithin darin, „durch Vereinfachung des Beweisverfahrens ein zeitraubendes und ermüdendes Vorlesen umfangreichen Schriftmaterials in der Hauptverhandlung“ zu vermeiden und so deren Dauer zu verkürzen (vgl. KK-Diemer, StPO, 7. Aufl., § 249 Rdnr. 32). Mit der Durchführung des - auf Prozesswirtschaftlichkeit ausgerichteten - Selbstleseverfahrens soll letztlich auch dem Beschleunigungsgebot sowie dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der genaue Inhalt eines Schriftstücks durch eigenes Lesen häufig besser und schneller erfasst bzw. inhaltlich verstanden werden kann als durch längere Verlesungen im Gerichtssaal (vgl. L-R-Mosbacher, StPO, 26. Aufl., § 249 Rdnr. 53 f., zitiert n. juris).
Demzufolge kommt die Anordnung und Durchführung des Selbstleseverfahrens insbesondere dann in Betracht, wenn in Großverfahren durch die Einführung von Urkunden nach § 249 Abs. 2 StPO die Hauptverhandlung von langwierigen Verlesungen zahlreicher Schriftstücke entlastet werden soll. In entsprechenden Umfangsverfahren würde das „monotone Verlesen in öffentlicher Hauptverhandlung das Verfahren nur aufhalten, ohne den Verfahrensbeteiligten oder dem Publikum den Überblick über das Verfahren und das Erfassen der wesentlichen Verfahrensvorgänge zu erleichtern.“ (vgl. L-R-Mosbacher, a. a. O., Rdnr. 54 m. w. N.).
Im Hinblick auf die Qualität des Erkenntnisvorgangs ist der Urkundenbeweis durch das Selbstlesen dem Verlesen in der Hauptverhandlung gleichwertig. Die Durchführung des Selbstleseverfahrens, dem im Hinblick auf die Vorgaben des historischen Gesetzgebers ein „Ausnahmecharakter“ im System der strafprozessualen Beweiserhebung zugeschrieben werden kann (vgl. BGH, a. a. O.), ist immer dann in Erwägung zu ziehen, wenn umfangreiche Schriften oder ganze Druckwerke vorliegen, deren genauer Wortlaut im Einzelnen festzustellen ist (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., Rdnr. 19 m. w. N.). Potentiell mit der Durchführung des Verfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO verbundene „Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises“ sind „von den Verfahrensbeteiligten prinzipiell zu akzeptieren“ (vgl. BGH, a. a. O., m. w. N.).
2. Allgemeine strafprozessuale Verfahrensgrundsätze werden nicht verletzt.
Der (verfassungsrechtlich garantierte) Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch das Selbstleseverfahren nicht eingeschränkt: Jeder Verfahrensbeteiligte behält das Recht und die Möglichkeit, vom Inhalt der jeweiligen, in die Selbstleseliste aufgenommenen Urkunden Kenntnis zu nehmen, sich in der Hauptverhandlung hierzu zu äußern und gegebenenfalls für erforderlich gehaltene Anträge zu stellen.
Vor diesem Hintergrund wird auch der Grundsatz der Mündlichkeit der Beweisaufnahme, dessen Einschränkung der Gesetzgeber mit der Einführung der Regelung des § 249 Abs. 2 StPO bewusst in Kauf genommen hat, in seinem Kern nicht tangiert (vgl. L-R-Mosbacher, a. a. O., § 249 Rdnr. 56). Da den Verfahrensbeteiligten das vom Verfahren nach § 249 Abs. 2 StPO erfasste Schriftwerk vollumfänglich zugänglich und dadurch gewährleistet ist, dass das entsprechende Beweismaterial selbstständig aufgenommen bzw. erfasst und bewertet werden kann, bleiben damit verknüpfte Beweisthemen, deren konkrete Verfahrensrelevanz und hieraus ableitbare Einschätzungen insbesondere auch für die Verteidigung und die Angeklagten ausreichend erkenn- / fixier- sowie in mündlicher Hauptverhandlung (ggf.) ohne Einschränkung hinterfragbar.
10 
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit des Verfahrens wird durch das Vorgehen des Gerichts nach § 249 Abs. 2 StPO nicht berührt; vielmehr ist die Selbstlesung eines Schriftstücks die (denkbar) unmittelbarste Möglichkeit, vom Inhalt eines Schriftstücks Kenntnis zu nehmen.
11 
Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist gewährleistet, wenn Zuhörer / -schauer die Hauptverhandlung so mitverfolgen können, wie sie im konkreten Einzelfall nach der Verfahrensordnung abläuft. Ein Anspruch dahingehend, dass der Öffentlichkeit sämtliche Wahrnehmungen (direkt) durch den Richter bzw. das Gericht vermittelt werden, besteht hingegen nicht.
12 
Eine allenfalls in temporärer Hinsicht mit der Durchführung des Selbstleseverfahrens verbundene Transparenzreduktion kann im Wege zusammenfassender Erörterungen des wesentlichen Inhalts der in Rede stehenden Schriftstücke und ergänzenden Hinweisen auf ihre jeweilige Bedeutung für die Beweisführung im Rahmen offener Verhandlungsführung in gebotener Kürze (vollständig) kompensiert werden (vgl. dazu auch Ventzke, StV 2014, 114, ff.).
13 
Überdies bleibt es den Verfahrensbeteiligten unbenommen, durch Erklärungen nach § 257 StPO, Antragstellungen oder etwa im Rahmen sonstiger Ausführungen die Inhalte der im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführten Urkunden zu thematisieren und auf diesem Wege die Gerichtsöffentlichkeit hierüber in Kenntnis zu setzen. Weiter bleibt festzustellen, dass der Gesetzgeber mit der Einführung der Regelung des § 249 Abs. 2 StPO eine ggf. damit verbundene „Einschränkung vor allem des Öffentlichkeitsprinzips (…) bewusst in Kauf genommen“ hat (vgl. KK-Diemer, a. a. O., a. E., m. w. N.).
14 
Schließlich wird auch die gerichtliche (Amts-) Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO durch das Selbstleseverfahren nicht verletzt: Durch das Verfahren nach § 249 Abs. 2 StPO wird der Inhalt eines Schriftstücks in vollem Umfang der Kognition des Gerichts erschlossen; (auch) insoweit lässt sich die entsprechende Beweiserhebung gegenüber der Verlesung eines Dokuments in der Hauptverhandlung nicht als defizitär beurteilen (L-R-Mosbacher, a. a. O., Rdnr. 66).
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3. Bei Zugrundlegung dieser Maßstäbe ist die Durchführung der Selbstleseverfahren vorliegend nicht zu beanstanden:
16 
Die Strafsache richtet sich gegen vier Angeklagte und ist im Hinblick auf den Aktenumfang und die voraussichtliche Dauer des Verfahrens als Großverfahren zu beurteilen In entsprechenden Umfangssachen liegt eine Beweiserhebung im Wege der Anordnung und Durchführung des Selbstleseverfahrens nahe. Dies gilt unter Berücksichtigung bzw. zur Gewährleistung des Beschleunigungsgebots insbesondere dann, wenn – wie hier – Untersuchungshaft vollzogen wird.
17 
Anhand der in den zugehörigen Verfügungen des Vorsitzenden enthaltenen Listung der erfassten Urkunden mit Angabe der zugehörigen Fundstelle(n) in den Sach- / Gerichtsakten ist das Beweisprogramm und der geplante Gang der gerichtlichen Beweisaufnahme ohne Weiteres ersichtlich und für sämtliche Verfahrensbeteiligte hinreichend transparent. Eine Gefährdung von Verteidigungsbelangen ist hiernach ausgeschlossen. Anzumerken bleibt, dass im Hinblick auf den bezeichneten Gesamtumfang der Sachakten lediglich ein geringer Teil des zugehörigen Schriftwerks von den in Rede stehenden Selbstleseverfahren erfasst wird.
18 
Im Zuge der Hauptverhandlung haben sämtliche Verfahrensbeteiligte im Rahmen anstehender (zahlreicher) Zeugenvernehmungen, die Gelegenheit, die entsprechenden (Auskunfts-) Personen zu den von den Selbstleseverfahren erfassten Beweisthemen mit den jeweils zugehörigen Schriftstücken (insbesondere auch zu den aufgenommenen Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen) ausführlich zu befragen bzw. im Zuge dessen Stellungnahmen abzugeben. Eine umfassende und detaillierte Erörterung ist hiernach sowohl hinsichtlich relevanter Fragen zur Entstehung, Zielsetzung und den strukturellen Gegebenheiten bzw. Aktivitäten der Organisation (DHKP-C) wie auch zu den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten bzw. dem gegen sie erhobenen Tatvorwurf gewährleistet und somit sichergestellt, dass der Prozessstoff den Beteiligten nicht nur zur Kenntnis gebracht, sondern gleichzeitig zur Diskussion unterbreitet wird.
19 
Allem nach bleibt auch für die - im Zuge der Widerspruchsbegründung(en) vorgebrachte - Annahme, die Durchführung der Selbstleseverfahren beeinträchtige das Recht der Angeklagten auf ein faires Verfahren, kein Raum.

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