Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (3. Senat) - 3 Bs 242/16

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 24. November 2016 unter Ziffer 2. mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,-- Euro festgesetzt.

2. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt und Frau Rechtsanwältin … zur Vertretung beigeordnet.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller begehrt die Verlängerung einer ihm erteilten Fiktionsbescheinigung.

2

Der 24 Jahre alte und in Deutschland geborene Antragsteller war im Besitz einer bis zum 17. Juni 2012 gültigen Aufenthaltserlaubnis. Am 2. August 2012 beantragte er deren Verlängerung. Die Antragsgegnerin ordnete daraufhin gemäß § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG die Fiktionswirkung an, die sie mehrfach – zuletzt am 18. März 2016 bis zum 17. Juni 2016 – verlängerte.

3

Mit Verfügung vom 27. Mai 2016 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag des Antragstellers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab. Es erging eine Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung. Hiergegen erhob der Antragsteller Widerspruch.

4

Am 27. August 2016 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Im Laufe des gerichtlichen Verfahrens hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller unter dem 26. September 2016 mitgeteilt, dass sie die Vollziehung des Bescheides vom 27. Mai 2016 gemäß § 80 Abs. 4 VwGO bis zur Entscheidung über den Widerspruch aussetze. In der dem Antragsteller ausgestellten Bescheinigung heißt es weiter, die Abschiebung sei gemäß § 84 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 60a Abs. 2 AufenthG vorübergehend ausgesetzt, der Aufenthalt gelte als geduldet. Der Antragsteller hat daraufhin auf Nachfrage des Verwaltungsgerichts mitgeteilt, er halte an seinem Eilantrag fest. Er habe Anspruch auf Verlängerung der Fiktionsbescheinigung und nicht auf Erteilung einer Duldung.

5

Das Verwaltungsgericht hat die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 24. November 2016 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller eine Fiktionsbescheinigung in Form einer sog. Verfahrensfiktion entsprechend § 81 Abs. 5 AufenthG zu erteilen: Der Antrag sei, nachdem die Antragsgegnerin die Vollziehung des Bescheides vom 27. Mai 2016 ausgesetzt habe, in der tenorierten Weise auszulegen. Eine Verlängerung der Fiktionsbescheinigung könne zwar nicht erfolgen, weil die Fiktion durch die Antragsablehnung erloschen sei. Der Antragsteller habe aber einen Anspruch auf Erteilung einer Fiktionsbescheinigung entsprechend § 81 Abs. 5 AufenthG. Die aufschiebende Wirkung des erhobenen Widerspruchs habe zur Folge, dass der angefochtene Ablehnungsbescheid nicht vollzogen werden dürfe. Dies bedeute, dass aus ihm keine nachteiligen Folgerungen gezogen werden dürften. Hieraus folge, dass der Antragsteller so zu behandeln sei, als bestehe die Fiktionswirkung noch fort. Dem werde durch die von der Antragsgegnerin erteilte sog. Verfahrensfiktion, der zufolge der Aufenthalt des Antragstellers als geduldet gelte, nicht hinreichend Rechnung getragen. Denn die Rechtsstellung eines geduldeten Ausländers bleibe hinter der Rechtsstellung eines Ausländers, dessen Verlängerungsantrag Fiktionswirkung entfalte, zurück.

II.

6

Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

7

Mit den dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO) hat die Antragsgegnerin die tragenden Erwägungen der angefochtenen Entscheidung ernsthaft in Zweifel gezogen. Der Annahme des Verwaltungsgerichts, dem Antragsteller müsse eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt werden, weil die Antragsgegnerin keine für ihn nachteiligen Folgerungen aus der suspendierten Ablehnung seines Verlängerungsantrags ziehen dürfe, tritt die Antragsgegnerin mit beachtlichen Erwägungen entgegen. Insbesondere verweist sie auf das Regelungssystem der §§ 81 Abs. 5, 84 Abs. 2 AufenthG und darauf, dass es im Ergebnis einem Wiederaufleben der Fortbestehensfiktion aus § 81 Abs. 4 AufenthG gleichkomme, wenn der Ausländer einen Anspruch auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung habe, obwohl sein Verlängerungsantrag abgelehnt worden sei.

8

Da die tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts ernsthaft in Zweifel gezogen worden sind, ist das Beschwerdegericht berechtigt, den gesamten Streitstoff – auch soweit er nicht Gegenstand der Beschwerdebegründung ist – zu würdigen. Diese Würdigung ergibt, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen ist. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch, d.h. einen Anspruch auf Erteilung einer Fiktionsbescheinigung, nicht glaubhaft gemacht.

9

Ein Anspruch auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung ergibt sich nicht aus § 81 Abs. 5 AufenthG in direkter Anwendung. Diese Vorschrift gewährt einen Anspruch auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung, solange die Erlaubnis- bzw. Fortbestehensfiktion aus § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG andauert. Mit der Ablehnung des Verlängerungsantrags bzw. mit dem Ablauf der letzten dem Antragsteller erteilten Fortbestehensanordnung gemäß § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG ist die Fiktion seines rechtmäßigen Aufenthalts aber erloschen. Der Widerspruch gegen die Anlehnungsentscheidung führt ebenso wenig wie die Suspendierung des Ablehnungsbescheides dazu, dass die erloschene Fiktion wieder auflebt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.1.2002, 1 C 6.01, BVerwGE 115, 352, juris Rn. 21; Urt. v. 1.2.2000, 1 C 14.99, NVwZ-RR 2000, 540, juris Rn. 10; OVG Hamburg, Beschl. v. 10.5.2011, 3 Bs 49/11, BA S. 6; VGH München, Beschl. v. 18.9.2009, 19 CE 09.2038, juris Rn. 3; OVG Bremen, Beschl. v. 17.9.2010, 1 B 140/10, NordÖR 2010, 441, juris Rn. 23; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 24.6.2008, OVG 2 S 36.08, AuAS 2008, 184, juris Rn. 4).

10

Ein Anspruch auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung folgt auch nicht aus § 81 Abs. 5 AufenthG in analoger Anwendung, weil die Analogievoraussetzungen nicht vorliegen. Es fehlt an einer Regelungslücke. Der Gesetzgeber hat mit § 81 Abs. 5 AufenthG zum Ausdruck gebracht, dass die Fiktionsbescheinigung nur auszustellen ist, solange die Fiktionswirkung aus § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG andauert. Die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung auch dann, wenn Widerspruch bzw. Klage gegen die Ablehnungsentscheidung aufschiebende Wirkung haben, hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Vielmehr hat er die Rechtsstellung eines Ausländers, dessen Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden ist, in § 84 Abs. 2 AufenthG geregelt und dort gerade keine dem § 81 Abs. 5 AufenthG entsprechende Bestimmung aufgenommen (vgl. OVG Greifswald, Beschl. v. 28.9.2010, 2 M 138/10, juris Rn. 7).

11

Etwas anderes gilt auch nicht deshalb, weil die aufschiebende Wirkung von Widerspruch bzw. Klage gegen die Ablehnungsbescheidung dazu führt, dass deren Vollziehbarkeit gehemmt ist (so aber VGH München, Beschl. v. 18.9.2009, 19 CE 09.2038, juris Rn. 4; OVG Bremen, Beschl. v. 17.9.2010, 1 B 140/10, NordÖR 2010, 441, juris Rn. 23). Dies hat zwar zur Folge, dass die Behörde für die Dauer des durch die Anfechtung des Verwaltungsaktes herbeigeführten Schwebezustandes alle Maßnahmen zu unterlassen hat, die – in einem weiten Sinne – als Vollziehung zu qualifizieren sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.1.2016, 9 C 1.15, BVerwGE 154, 68, juris Rn. 12, m.w.N.). Dass trotz Bestehens der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gegen den Ablehnungsbescheid keine (Erlaubnis- bzw. Fortbestehens-) Fiktion gilt und deshalb auch keine Fiktionsbescheinigung auszustellen ist, bedeutet aber nicht, dass die Behörde nachteilige Folgen an den suspendierten Ablehnungsbescheid knüpft und hierdurch die Vollziehbarkeitshemmung unbeachtet lässt. Denn das Fehlen der Fiktion – und damit auch der fehlende Anspruch auf Erteilung einer Fiktionsbescheinigung – trotz Suspendierung der Ablehnungsentscheidung ergeben sich unmittelbar aus dem Gesetz (§§ 81 Abs. 3 bis 5, 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Es beruht auf einer gesetzgeberischen Entscheidung, die Rechtsstellung desjenigen Ausländers, dessen Rechtsbehelf gegen einen die Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis betreffenden Ablehnungsbescheid aufschiebende Wirkung hat, anders auszugestalten als die Rechtsstellung eines Ausländers, dessen noch nicht beschiedener Erteilungs- oder Verlängerungsantrag gemäß § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG zunächst die Fiktionswirkung auslöst. Die Entscheidung der Behörde, dem Ausländer, dessen Erteilungs- bzw. Verlängerungsantrag abgelehnt worden ist, keine Fiktionsbescheinigung (sondern eine Duldung) zu erteilen, bedeutet deshalb keine unzulässige behördliche Vollziehung, sondern die bloße Umsetzung der entsprechenden Entscheidung des Gesetzgebers.

12

Art. 19 Abs. 4 GG gebietet kein anderes Ergebnis. Die Möglichkeit, sich gegen die Ablehnung eines Antrags auf Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gerichtlich zur Wehr zu setzen, wird nicht dadurch in verfassungswidriger Weise beschränkt, dass der Gesetzgeber die Rechtsstellung des im Eilverfahren obsiegenden Ausländers anders ausgestaltet hat als desjenigen Ausländers, der (zunächst) in den Genuss einer Fiktion nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG kommt. Dass die Rechtsstellung des im Eilverfahren obsiegenden Ausländers in verfassungswidriger Weise unzureichend ist, wenn ihm in der Folge keine Fiktionsbescheinigung (sondern „nur“ eine Duldung) ausgestellt wird, ist wegen der durch eine obsiegende Eilentscheidung ausgelösten Vollziehbarkeitshemmung – mit der Folge, dass eine Abschiebung nicht erfolgen kann, vgl. § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG – und mit Blick auf § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht ersichtlich (vgl. OVG Greifswald, Beschl. v. 28.9.2010, 2 M 138/10, juris Rn. 8).

13

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.

14

Dem Antragsteller ist nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 114 Abs. 1 Satz 1, 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO Prozesskostenhilfe für das Verfahren der zweiten Instanz zu bewilligen, da er in erster Instanz obsiegt hat und nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann.

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