Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 Bs 207/16

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 3. November 2016 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller, ein aserbaidschanischer Staatsangehöriger, begehrt vorläufigen Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG. Vorliegend wendet sich die Antragsgegnerin gegen die vom Verwaltungsgericht erlassene einstweilige Anordnung, von einer Abschiebung des Antragstellers bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eines die Hauptsache betreffenden erstinstanzlichen Urteils abzusehen.

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Der Antragsteller kam im Alter von 14 Jahren zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern (wohl) im September 2004 in die Bundesrepublik Deutschland. Die Familie gab dabei den Namen … an und behauptete, keine Pässe zu besitzen. Die Antragsgegnerin forderte die Familie bestandskräftig zur Ausreise auf und drohte die Abschiebung an. Ab 18. November 2004 erhielt der Antragsteller fast ununterbrochen Duldungen. Nachdem er volljährig geworden war, forderte die Antragsgegnerin ihn wiederholt vergeblich auf, sich Identitätspapiere zu beschaffen und diese vorzulegen. Anfang Dezember 2013 gab die Mutter des Antragstellers – der Vater hatte sich zuvor von der Familie getrennt – bei einer Vorsprache bei der Ausländerbehörde zu, dass die bisher von der Familie verwendeten Personalien falsch seien; richtige Papiere sollten besorgt und vorgelegt werden. Ende März 2014 legte der Antragsteller einen bereits am 18. März 2004 ausgestellten aserbaidschanischen Personalausweis mit den jetzigen Personalien vor, im November 2014 ferner einen gültigen aserbaidschanischen Pass.

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Nachdem dem Antragsteller erstmals im Mai 2015 die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt worden war, begann er Mitte Juli 2015 mit einer Beschäftigung bei einem Personalservice-Unternehmen.

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Bereits am 12. Dezember 2014 hatte der Antragsteller die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen beantragt und in der Folge wiederholt daran erinnert. Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK und des (künftigen) § 25b AufenthG dürften erfüllt sein. Mit Bescheid vom 17. Juni 2016 lehnte das Einwohner-Zentralamt der Antragsgegnerin den Antrag ab. Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG sei abzulehnen. Aufgrund der langen zielgerichteten Verschleierung der Identität sei zwar die zeitliche Voraussetzung eines mindestens achtjährigen geduldeten Aufenthalts erreicht. Eine nachhaltige Integration liege aber nicht vor. Das erst seit Mitte Juli 2015 bestehende Beschäftigungsverhältnis reiche, auch wenn der Antragsteller hieraus aktuell seinen finanziellen Grundbedarf fast decke, nicht aus, eine positive Prognose abzugeben; hiergegen spreche auch, dass der Antragsteller keinen Schulabschluss habe und über keine Berufsausbildung verfüge. Auch die Voraussetzungen von § 25 Abs. 5 AufenthG lägen nicht vor. Den Widerspruch des Antragstellers wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 21. September 2016, dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 26. September 2016 zugestellt, zurück. Die langjährigen Täuschungshandlungen des Antragstellers hätten ein solches Gewicht, dass ein Ausnahmefall von der Regelannahme der nachhaltigen Integration gegeben sei. Am 15. November 2016 übersandte der Antragsteller-Bevollmächtige die Klageschrift vom 14. Oktober 2016 per Telefax an das Verwaltungsgericht und beantragte zugleich mit gesondertem Schriftsatz die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

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Bereits am 7. Oktober 2016 hatte der Antragsteller, den die Antragsgegnerin am Tag zuvor hatte abschieben wollen, beantragt, die Antragsgegnerin mittels einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen. Diesem Antrag gab das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. November 2016 insoweit statt, als es die Antragsgegnerin verpflichtete, bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eines die Hauptsache betreffenden erstinstanzlichen Urteils von einer Abschiebung des Antragstellers abzusehen.

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Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus: Der Antragsteller erfülle die in § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG aufgeführten Regelvoraussetzungen für die Annahme einer nachhaltigen Integration. Das Gericht könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit einen Ausnahmefall feststellen, in dem trotz Erfüllung der genannten Voraussetzungen eine nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu verneinen sei. Die zurückliegende langjährige Täuschung des Antragstellers über seine Identität, die keinen Versagungsgrund nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG erfülle, begründe keinen atypischen Ausnahmefall. Da sich der Gesetzgeber bewusst gewesen sein, dass viele geduldete Ausländer ihren Duldungsstatus maßgeblich durch Identitätstäuschung erlangt hätten, erscheine es fraglich, ob zurückliegende Täuschungshandlungen überhaupt einen ungeschriebenen Ausnahmefall begründen könnten. Allerdings solle nach der Gesetzesbegründung nicht jedes in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten amnestiert werden. Somit könne ein ungeschriebener Ausnahmefall aufgrund zurückliegender Täuschungshandlungen allenfalls dann angenommen werden, wenn den Täuschungshandlungen in einem atypischen Fall eine besondere Verwerflichkeit beizumessen sei. Dies sei im Fall des Antragstellers nicht gegeben. Weder sei die fast zehnjährige Dauer der Identitätstäuschung im Anwendungsbereich des § 25b AufenthG untypisch noch sei das Verhalten des Antragstellers, der in das Täuschungsverhalten gleichsam hineingewachsen sei, in besonderem Maße verwerflich. Ebenso dürfte der Umstand, dass der Antragsteller auch aufgrund vieler unentschuldigter Fehlzeiten keinen Schulabschluss erreicht habe, noch keinen atypischen Ausnahmefall begründen; § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG zeige nämlich, dass dann, wenn der Lebensunterhalt tatsächlich überwiegend gesichert werde, eine Prognose der Erwerbsmöglichkeiten anhand der Schul- und Ausbildungssituation nicht angestellt werden müsse. Dem Antragsteller sei auch kein (schwerwiegendes) Ausweisungsinteresse (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) entgegenzuhalten. Das frühere Fehlverhalten gefährde aktuell die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland nicht; es sei nicht zu erwarten, dass der Antragsteller künftig gleichartige Rechtsverstöße wieder begehen werde. Im übrigen wäre es ein Wertungswiderspruch, wenn vergangene Identitätstäuschungen bei Prüfung der nachhaltigen Integration im Sinn von § 25b Abs. 1 AufenthG grundsätzlich keinen atypischen Ausnahmefall begründen könnten, im Rahmen der Prüfung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen aber zur Annahme eines Ausweisungsinteresses und damit zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis führten.

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Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin. Sie ist der Ansicht, dass dann, wenn jemand über Jahre über seine Identität getäuscht habe, nicht von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen werden könne. In einem solchen Fall sei von einem gegen eine Integration sprechenden Ausnahmefall auszugehen. In Übereinstimmung mit Entscheidungen verschiedener Oberverwaltungsgerichte sei sie der Auffassung, dass die langjährige Identitätstäuschung des Antragstellers nach Art und Dauer so bedeutsam sei, dass sie das Gewicht der in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG aufgeführten Integrationsleistungen beseitige. Auch sei vorliegend ein Ausweisungsinteresse zu bejahen; der vom Verwaltungsgericht angenommene Wertungswiderspruch bestehe nicht. Immer dann, wenn ein Ausweisungsinteresse bestehe, müsse auch davon ausgegangen werden, dass sich der Ausländer nicht nachhaltig in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert habe. Schließlich sei zu befürchten, dass die Beschäftigungsverhältnisse des Antragstellers aufgrund seiner fehlenden Schul- und Berufsausbildung künftig immer prekär sein würden, auch wenn er gegenwärtig seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichere.

II.

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Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene und begründete Beschwerde der Antragsgegnerin hat im Ergebnis keinen Erfolg. Zwar hat die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerdebegründung tragende Teile der Begründung des angefochtenen Beschlusses in ausreichender Weise in Zweifel gezogen. Hierdurch ist das Beschwerdegericht berechtigt, ohne die Begrenzung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO eigenständig über den Anordnungsantrag des Antragstellers zu entscheiden. Indes ergibt diese Prüfung, dass das Verwaltungsgericht zu Recht eine einstweilige Anordnung zugunsten des Antragstellers erlassen hat.

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1. Das Beschwerdegericht geht für das einstweilige Rechtsschutzverfahren davon aus, dass der Ablehnungsbescheid des Einwohner-Zentralamts vom 17. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. September 2016 noch nicht bestandskräftig ist.

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a) Der Widerspruchsbescheid vom 21. September 2016 wurde dem Antragsteller-Bevollmächtigten am 26. September 2016 per Empfangsbekenntnis zugestellt (S. 455 der Ausländerakte). Die Klagefrist endete am 26. Oktober 2016, ohne dass bis dahin eine Klage beim Verwaltungsgericht eingegangen war. Damit wurde der Ablehnungsbescheid zunächst bestandskräftig; unter diesen Umständen hätte das Verwaltungsgericht am 3. November 2016 dem Eilantrag des Antragstellers nicht stattgeben dürfen; die dennoch erlassene einstweilige Anordnung ging zunächst ins Leere.

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b) Indes bewirkt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, dass die eingetretene Bestandskraft des Ablehnungsbescheides nachträglich wieder entfällt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2015, § 60 Rn. 1). Solches dürfte hier in Betracht kommen. Die auf den 14. Oktober 2016 datierte Klageschrift wurde per Telefax am 15. November 2016 an das Verwaltungsgericht übersandt (Verfahren 17 K 6798/16). Ebenfalls am 15. November 2016 ging beim Verwaltungsgericht ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein. Über diesen muss originär zwar das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren entscheiden (§ 60 Abs. 4 VwGO), doch ist im Rahmen der Beschwerdeentscheidung eine Prognose über den voraussichtlichen Erfolg dieses Antrags zu stellen.

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aa) Die Ausführungen im Wiedereinsetzungsantrag dürften wohl ausreichend sein, um Wiedereinsetzung wegen unverschuldeter Fristversäumnis zu gewähren. Nach den Kanzleiunterlagen sei die Klage am 14. Oktober 2016 gefertigt und dem Bevollmächtigten zur Unterschrift vorgelegt worden. Dieser habe die unterschriebene und mit weiteren Schriftstücken versehene Klage an die Kanzleiangestellte zurückgegeben, die sie zur Gerichtspost gelegt habe. Frau Rechtsanwältin H. aus der Bürogemeinschaft des Bevollmächtigten habe am Dienstag, den 18. Oktober 2016 den Postausgangskorb geleert und die Post in der Poststelle des Amtsgerichts Hamburg (die auch zur Entgegennahme von an das Verwaltungsgericht gerichteter Post zuständig ist) abgegeben. Am Tag des Fristablaufs sei die Erledigung mit positivem Ergebnis überprüft worden.

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Kritisch mag sein, dass die Kanzleimitarbeiterin in ihrer eidesstattlichen Versicherung lediglich "davon ausgeht", dass sie die gefertigte und vom Anwalt unterzeichnete Klageschrift in den Ausgangskorb für Gerichtspost gelegt habe, da sie dort hinein "gehört hätte", und dass keine Erklärung der Rechtsanwältin H. ... über das Leeren des Gerichtspostausgangskorbes und das Abgeben der Gerichtspost bei der Gemeinsamen Annahmestelle des Amtsgerichts Hamburg am 18. Oktober 2016 vorliegt. Ein lückenloser Nachweis von Routinevorgängen für jeden Einzelfall wird aber nicht verlangt werden können. Bei der Aktenkontrolle am Tag des Fristablaufs (26. Oktober 2016) zeigte sich, dass sich in der Handakte – wie das bei ordnungsgemäßer Erledigung einer solchen Fristsache üblicherweise der Fall ist – eine Klageschriftkopie mit der Bemerkung befand, der Mandant habe eine Abschrift der Klageschrift erhalten. Der Umstand, dass noch keine Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichts vorlag, musste – abgesehen davon, dass zwischen der angenommenen Mitnahme der Post durch Frau Rechtsanwältin H. ... und dem Ende der Klagefrist nur acht Tage lagen – hier nicht zwingend eine Nachfrage beim Verwaltungsgericht veranlassen, da die Klage mit gut ausreichendem Zeitvorlauf abgesandt worden war bzw. worden sein soll. Eine Nachfrage beim Verwaltungsgericht oder gar eine vorsichtshalber noch vorgenommene Übersendung der Klageschrift per Fax wäre allenfalls dann veranlasst gewesen, wenn zweifelhaft gewesen wäre, ob die gewählte Übersendungsart ausgereicht hätte, die Frist zu wahren (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 29.12.1994, 2 BvR 106/93, NJW 1995, 1210, juris Rn. 19).

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bb) Der Wiedereinsetzungsantrag dürfte auch rechtzeitig – innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses (§ 60 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. VwGO) – gestellt worden sein. Der Bevollmächtigte hat im Wiedereinsetzungsantrag angegeben, er habe die Säumnis "im Rahmen der Prozessvorbereitung am Montag, 14.10.2016 bemerkt", weil die Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichts noch nicht vorgelegen habe; eine telefonische Nachfrage seitens seiner Kanzleiangestellten beim Verwaltungsgericht "am 15.10.2016" habe ergeben, dass eine Klage dort nicht vorliege. Soweit sich die Datumsangaben auf den Monat Oktober zu beziehen scheinen, handelt es sich erkennbar um ein Versehen. Der 14. Oktober 2016 war – anders als der 14. November – kein Montag, sondern ein Freitag. Wenn die Klageschrift vom 14. Oktober 2016 datiert, konnte an diesem Tag noch keine Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichts vorliegen. Auch der Umstand, dass die Klageschrift vom 14. Oktober 2016 am 15. November 2016 ans Gericht gefaxt wurde, spricht dafür, dass die Säumnis erst am 14. November 2016 bemerkt worden war. Von einem Versehen hinsichtlich der Datumsabgabe geht auch der Bevollmächtigte des Antragstellers aus. Mit der Formulierung "im Rahmen der Prozessvorbereitung" meinte er, wie er auf Nachfrage mitgeteilt und belegt hat, die Vorbereitung auf eine strafrechtliche Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Hamburg.

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Es kann dahinstehen, ob dem Bevollmächtigten bereits bei sorgfältiger Lektüre des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses vom 3. November 2016 hätte auffallen müssen, dass bis zu diesem Zeitpunkt beim Verwaltungsgericht noch keine Klage eingegangen war, da die Ausführungen auf Seite 3 des Beschlusses nur für diesen Fall Sinn machten. Aber auch dann, wenn auf den Empfang dieses Beschlusses (laut Empfangsbekenntnis am 10. November 2016) abgestellt würde, wäre mit dem Wiedereinsetzungsantrag vom 15. November 2016 die Zwei-Wochen-Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 und 3 VwGO gewahrt.

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2. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht zugunsten des Antragstellers eine einstweilige Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO des Inhalts erlassen, dass der Antragsteller vorläufig nicht abgeschoben werden darf.

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Ein Anordnungsgrund liegt offenkundig vor: Die Antragsgegnerin hatte Vorbereitungen getroffen, den Antragsteller am 6. Oktober 2016 abzuschieben; das Vorhaben scheiterte allein daran, dass der Antragsteller am Morgen dieses Tages nicht in seiner Wohnung angetroffen worden war. Die Mutter des Antragstellers war bereits am 19. Juli 2016 nach Aserbaidschan abgeschoben worden.

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Der Antragsteller kann sich auch auf einen Anordnungsanspruch berufen. Es kommt zumindest ernsthaft in Betracht, dass die Antragsgegnerin über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG erneut zu entscheiden haben wird. Angesichts dessen überwiegt das Interesse des Antragstellers, vorläufig von Abschiebemaßnahmen verschont zu bleiben. Ein Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG dürfte kaum erfolgreich aus dem Ausland betrieben werden können, da es dann schon an der gesetzlichen Voraussetzung des "geduldeten Ausländers" fehlen würde.

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a) Das Beschwerdegericht hat Bedenken, dem Verwaltungsgericht in seiner Ansicht zu folgen, der Antragsteller erfülle "unstreitig die regelmäßigen Voraussetzungen für eine nachhaltige Integration nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG". So ist den Sachakten und Gerichtsakten nicht zu entnehmen, ob der Antragsteller sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet sowie über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse verfügt (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 4 AufenthG). Dass dem Antragsteller solche Kenntnisse in der Schule vermittelt worden sind, ist fraglich. Die im Jahr 2016 ausgestellte Bescheinigung über den Besuch der Klasse ABC der Schule ... vom 29. Oktober 2004 bis 31. Juli 2005 – kurz nach der Einreise der Familie – enthält keine Angaben über die Intensität des Schulbesuchs und ggf. erzielte Leistungen. Die Zeugnisse der Berufsvorbereitungsschule (Vorbereitungsjahr für Migranten) weisen für den Zeitraum von 6. Februar 2006 bis zum 31. Januar 2008 hohe Fehlzeiten und überwiegend "mangelhafte" Leistungen (soweit überhaupt bewertbar) aus. – Allerdings hat die Antragsgegnerin diese Fragen bisher nicht thematisiert, so dass dem Antragsteller nicht vorzuhalten ist, er habe das Vorliegen der genannten Voraussetzungen im vorliegenden Verfahren nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller wird die Erfüllung dieser Voraussetzungen allerdings im Hauptsacheverfahren noch nachweisen müssen.

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b) Die übrigen Integrationsanforderungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4 AufenthG (die Nr. 5 ist hier nicht einschlägig) sind erfüllt.

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aa) Der Antragsteller hält sich seit September 2004 ununterbrochen in Deutschland auf. Sein Aufenthalt ist jedenfalls seit 18. November 2004 auch formell geduldet. Geringfügige Unterbrechungen bei den Duldungszeiträumen beruhten darauf, dass sich der Antragsteller in Untersuchungshaft (März 2010) bzw. in stationärer Krankenhausbehandlung (Ende 2014/Anfang 2015) befand. Die Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ist somit erfüllt.

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bb) Der Antragsteller dürfte seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG).

23

Der Antragsteller erhielt erstmals am 11. Mai 2015 eine Duldung, in der ihm die Beschäftigung erlaubt wurde. Bei der Antragsgegnerin legte er in der Folge Verdienstabrechnungen über eine Tätigkeit bei der P. Service Zeitarbeit UG in Hamburg von Juli 2015 bis Februar 2016 vor. Mit dem aus diesem Arbeitsverhältnis erzielten Lohn vermochte der Antragsteller laut Berechnung der Antragsgegnerin (angenommener Grundbedarf: 715,24 Euro, siehe Ausländerakte S. 366) seinen Lebensunterhalt fast vollständig zu sichern; die Unterdeckung lag unter 10 Euro.

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Da der Antragsteller in seinem Eilantrag vom 7. Oktober 2016 lediglich ausgeführt hatte, er gehe auch weiterhin einer Beschäftigung nach, forderte das Beschwerdegericht Nachweise hierüber an. Aus den im März und Mai 2017 vorgelegten Lohnabrechnungen ergibt sich, dass der Antragsteller bei der P… Service Zeitarbeit UG von Juli 2015 bis Ende Mai 2016 beschäftigt war, anschließend vom 27. Juni bis 27. Juli 2016 bei der T. … Personaldienstleistung GmbH. Vom 15. August bis 20. Oktober 2016 und wieder ab 1. Dezember 2016 bis zumindest Februar 2017 (Bescheinigung im März 2017 übersandt) war bzw. ist der Antragsteller bei der H. … Personal Service GmbH beschäftigt.

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Aus den Lohnabrechnungen ergibt sich für die Zeit von Januar bis Mai 2016 ein Bruttolohn von insgesamt 7.008,01 Euro (netto: 5.244,36 Euro), für Juni/Juli 2016 (nur zeitweilig beschäftigt) von insgesamt 1.186,65 Euro brutto (netto: 934,15 Euro) und für die Monate August bis Oktober 2016 (im August und Oktober nur teilweise beschäftigt) insgesamt 3.428,29 Euro brutto (netto: 2.479,66 Euro). Im Dezember 2016 verdiente der Antragsteller schließlich 2.045,11 Euro brutto (netto: 1.405,78 Euro). Die Bruttosumme über das ganze Jahr 2016 beträgt damit 13.668,06 Euro, die Nettosumme 10.063,95 Euro.

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Die Bezüge für die beiden ersten Monate des Jahres 2017, bezogen jeweils von der H. … Personal Service GmbH, beliefen sich auf brutto 1.078,84 Euro und 1.663,74 Euro (netto: 828,23 Euro und 1.341,74 Euro).

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Jedenfalls mit dem hieraus zu errechnenden Durchschnittsverdienst sichert der Antragsteller seinen Lebensunterhalt (monatlicher Grundbedarf: 715,24 Euro, siehe oben) überwiegend durch Erwerbstätigkeit, selbst wenn vom Nettoverdienst noch die Beträge nach § 11b Abs. 2 und 3 SGB II abgezogen werden (zur Maßgeblichkeit der Bedarfsermittlung nach den entsprechenden Bestimmungen des SGB II vgl. BVerwG, Urt. v. 26.8.2008, 1 C 32.07, BVerwGE 131, 370, juris Rn. 19 ff.).

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Die Beschäftigungsbiografie des Antragstellers seit Juli 2015 rechtfertigt insgesamt die Annahme, dass der Antragsteller auch künftig in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit zu sichern. Zwar finden sich in dieser Zeit einige Lücken, in denen der Antragsteller nicht beschäftigt war, wobei dies in Einzelfällen möglicherweise auch auf sein eigenes Verhalten zurückzuführen war (vgl. Bemerkungen auf den Lohnabrechnungen der T. … Personaldienstleistung GmbH, Gerichtsakte Bl. 141 f.). Doch ist es dem Antragsteller immer wieder relativ zeitnah gelungen, erneute Beschäftigungen zu finden. Durch die Verdiensthöhen mag es ihm auch gelungen sein, Zeiten zu überbrücken, in denen er kein Geld verdiente.

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Angesichts dessen kommt es auf die gesetzliche Alternative einer positiven Prognose künftiger Lebensunterhaltssicherung aufgrund der bisherigen Schul-, Ausbildungs-, Einkommens- sowie der familiären Lebenssituation nicht an. Das Gesetz stellt in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG die beiden dort genannten Möglichkeiten durch Verwendung des Wortes "oder" als Alternativen nebeneinander.

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c) Die Täuschung des Antragstellers über seine Identität, die auch nach Erreichen der Volljährigkeit im Jahr 2008 noch mehrere Jahre andauerte, verbunden mit der Weigerung, an der Beseitigung von Ausreisehindernissen mitzuwirken, dürfte dazu führen, dass – im Fall der Erfüllung aller Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG (siehe oben) – ein Ausnahmefall vom Sollanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt (ee). In diesem Fall wäre von der Antragsgegnerin (erneut) nach Ermessen über den Antrag des Antragstellers zu entscheiden. Der Umstand, dass die Täuschung inzwischen seit über drei Jahren zurückliegt und seit 2 ½ Jahren ein gültiger Pass vorliegt, lässt eine Anwendung von § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nicht zu (aa), rechtfertigt aber auch nicht schon, das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten gänzlich unberücksichtigt zu lassen (bb). Auch ist es mit dem Wortlaut und der Systematik von § 25b AufenthG kaum zu vereinbaren, aufgrund des früheren Fehlverhaltens die Annahme einer nachhaltigen Integration im Sinn des Gesetzes zu verneinen (cc). Das zurückliegende Fehlverhalten ist jedenfalls im vorliegenden Fall nicht mehr geeignet, ein noch aktuelles Ausweisungsinteresse im Sinn von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu begründen (dd).

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aa) § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG schließt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nur für den Fall zwingend aus, dass der Ausländer (noch) aktuell die Aufenthaltsbeendigung u.a. durch Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen verhindert oder verzögert (so auch Samel in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 31; Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 21; OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.9.2015, 2 M 121/15, EzAR-NF 33 Nr. 45, juris Rn. 10; OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 8). Dies ergibt sich klar aus der Verwendung der Präsensform "verhindert oder verzögert" im Gesetzestext und entspricht auch dem gesetzgeberischen Willen (vgl. BT-Dr. 18/4097, S. 44 zu Absatz 2 Nr. 1: "Diese Regelung knüpft nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers an, …"), auch wenn einzuräumen ist, dass die Gesetzesbegründung hier nicht widerspruchsfrei ist. So heißt es kurz vorher (a.a.O., zu Absatz 2), die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei ausgeschlossen, wenn der Ausländer … "die Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich verhindert oder hinausgezögert hat."

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bb) Die Verwendung der Präsensform in § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG rechtfertigt für sich allerdings nicht, das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Dem stehen verschiedene Öffnungsmöglichkeiten im Gesetzestext (Abs. 1 Satz 1: "soll"; Abs. 1 Satz 2: "regelmäßig"; Anwendbarkeit von § 5 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 Satz 2 AufenthG) sowie Formulierungen in der Gesetzesbegründung entgegen. So soll die Anknüpfung "nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers" im Ausschlussgrund nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG "keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren" sein (BT-Drs. 18/4097, S. 44). Allerdings bleibt offen, an welcher Stelle der Normanwendung das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten berücksichtigt werden soll (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 11.4.2017, 1 Bs 55/17, juris Rn. 13 ff.).

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cc) Verschiedentlich wird angenommen, aufgrund früheren Fehlverhaltens könne ausnahmsweise die Annahme einer nachhaltigen Integration im Sinn des Gesetzes verneint werden (so OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 8 ff.; offengelassen von OVG Bautzen, Beschl. v. 2.9.2016, 3 B 368/16, juris Rn. 6; ablehnend Kluth in: Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 2016, § 25b AufenthG Rn. 10). Dem schließt sich der Senat nicht an.

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Schon rein tatsächlich wird eine Integration nicht zu bestreiten sein, wenn ein illegal eingereister Ausländer rasch gut Deutsch lernt, einen guten Schul- oder Berufsabschluss erreicht, danach einen qualifizierten Arbeitsplatz mit gutem Verdienst erhält und sich im übrigen auch noch sozial oder im Bereich des Sports (z.B. Trainer) engagiert, allerdings – aus welchen Gründen auch immer – über längere Zeit über seine Identität getäuscht hat.

35

Auch der Gesetzestext des § 25b AufenthG spricht im genannten Beispielsfall für die Annahme einer nachhaltigen Integration. In Absatz 1 Satz 2 ist die Beachtung der Rechtsordnung bzw. straffreies Verhalten nicht als notwendiges Element einer nachhaltigen Integration aufgeführt. Allerdings ist einzuräumen, dass die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 45) dies anders zu sehen scheint. Dort heißt es (allerdings zu Abs. 2 Nr. 2), grundsätzlich sollten "nur Ausländer, die sich an Recht und Gesetz halten, wegen ihrer vorbildlichen Integration begünstigt werden". Die Formulierung "Dies setzt regelmäßig voraus" zu Beginn von Absatz 1 Satz 2 ist nach dem Wortlaut und nach der Gesetzesbegründung allerdings (nur) eine Öffnung für besondere Integrationsleistungen von vergleichbarem Gewicht, wenn einzelne der in Satz 2 aufgeführten Voraussetzungen nicht vollständig erfüllt sind (siehe BT-Drs. 18/4097, S. 42). Wörtlich heißt es in der Begründung:

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"Sofern die in Satz 2 genannten Voraussetzungen vorliegen, ist von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland auszugehen. Nur in Ausnahmefällen kann von der Titelerteilung abgesehen werden."

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Dabei ist der erste Satz aus diesem Zitat wörtlich der Begründung des Gesetzentwurfs des Bundesrats für einen neuen § 25b AufenthG - BR-Drs. 505/12 (Beschluss) vom 22. März 2013 - entnommen. Damals begann der ansonsten textgleiche Satz 2 allerdings noch mit "Dieses [nachhaltige Integration] ist insbesondere der Fall, wenn". Anders als der Bundesrats-Vorschlag erscheint der aktuelle Gesetzestext zwar eher auch für die etwaige Hinzufügung weiterer Erfordernisse offen zu sein, die auch im Nichtvorliegen negativ zu bewertender Umstände (z.B. keine Strafbarkeit, kein Täuschungshandlungen in der Vergangenheit) liegen können. Das würde aber mit der Gesetzesbegründung nicht recht zusammenpassen. Der dortige Satz "Nur in Ausnahmefällen kann von der Titelerteilung abgesehen werden." dürfte sich eher auf die Sollbestimmung des Abs. 1 Satz 1 beziehen (siehe unten bei ee). Außerdem nimmt die Begründung zu der in Satz 2 enthaltenen Formulierung "setzt regelmäßig voraus" allein auf sonstige (positive) Integrationsleistungen Bezug, die im Einzelfall in der Gesamtschau das Fehlen einzelner der in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG aufgeführten Elemente kompensieren können (vgl. zu dieser Problematik – noch zur Entwurfsfassung – insgesamt auch OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 9).

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Auch die Allgemeinen Anwendungshinweise (AAH) des Bundesministeriums des Inneren zu § 25b AufenthG erwähnen in Teil II (zu den Tatbestandsvoraussetzungen des Absatzes 1) unter "A Allgemeine Hinweise" nur die Möglichkeit, dass wegen besonderer anderer Integrationsleistungen auf die Erfüllung der ausdrücklich aufgeführten Voraussetzungen im Einzelfall verzichtet werden kann.

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Schließlich führt § 25b Abs. 2 AufenthG bestimmte Verhaltensweisen bzw. Bestrafungen (bzw. ein daraus folgendes Ausweisungsinteresse) erst als zwingende Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 aus. Das lässt darauf schließen, dass das in Absatz 2 erfasste Fehlverhalten gesetzessystematisch nicht schon zur Verneinung einer nachhaltigen Integration führt, da sonst hätte formuliert werden können: "Eine nachhaltige Integration liegt nicht vor, wenn …". Allerdings ist einzuräumen, dass die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 45 zu Abs. 2 Nr. 2) dies anders zu sehen scheint, wenn es dort heißt, bei Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG n.F werde "ebenfalls regelmäßig keine nachhaltige Integration gegeben sein" (ähnlich in Teil I der AAH). Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass – wie gezeigt – wiederholt zwischen dem Gesetzestext und der Begründung des Gesetzentwurfs gewisse Brüche bestehen.

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dd) Die Anwendbarkeit von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Nichtvorliegen eines Ausweisungsinteresses) im Rahmen von § 25b AufenthG ist im Grundsatz unstreitig. Sie wird in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 45 zu Absatz 2 Nr. 2) auch ausdrücklich erwähnt. § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG enthält ausdrückliche Abweichungen von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG; § 25b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG regelt ferner insofern eine Abweichung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, als für die dort geregelten Fälle – strenger als die allgemeine Vorschrift – zwingend die Versagung der Aufenthaltserlaubnis vorgeschrieben wird. Im übrigen bleibt es bei der Geltung der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen (vgl. auch - zu § 25a AufenthG - BVerwG, Urt. v. 14.5.2013, 1 C 17.12, BVerwGE 146, 281, juris Rn. 18 ff.).

41

Ein Ausweisungsinteresse muss allerdings noch aktuell sein: Nicht die Verwirklichung eines Ausweisungstatbestandes in der Vergangenheit, sondern der Fortbestand des Ausweisungsinteresses, also eine aktuell bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Zeitpunkt der Entscheidung über den Aufenthaltserlaubnis-Antrag, soll die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hindern (vgl. Samel in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 5 AufenthG Rn. 55). Hieran kann man erheblich zweifeln, wenn die bisher zweifelhafte Identität inzwischen eindeutig geklärt ist bzw. – wie im Fall des Antragstellers – eine falsche Identität durch Vorlage richtiger Dokumente vor inzwischen mehreren Jahren richtiggestellt wurde. Die Bejahung eines fortbestehenden Ausweisungsinteresses in einem solchen Fall geriete zudem in ein Spannungsverhältnis zu § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, wonach nur aktuelle Täuschungen oder Verletzungen der Mitwirkungspflicht (dann allerdings zwingend) negativ zu beachten sind (vgl. hierzu unter aa). Soweit ein Ausweisungsinteresse noch aktuell ist, kann allerdings bei der Anwendung von § 25b AufenthG gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vom Erfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden (vgl. zu den hierbei anzustellenden Erwägungen BVerwG, Urt. v. 14.5.2013, a.a.O., Rn. 31; zur Übertragung dieser Gedanken auf § 25b AufenthG: Hailbronner, AuslR, Stand Oktober 2016, § 25b AufenthG Rn. 12; siehe auch Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 23).

42

ee) Ein in der Vergangenheit liegendes Fehlverhalten in Form von Identitätstäuschungen, fehlender Mitwirkung an der Beseitigung von Ausreisehindernissen o.ä. lässt sich systematisch am besten in der Form erfassen, dass es als möglicher Ausnahmefall von der Regelerteilungsnorm des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG angesehen wird (so wohl auch Hailbronner, a.a.O., § 25b AufenthG Rn. 9; OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.9.2015, 2 M 121/15, EzAR-NF 33 Nr. 45, juris Rn. 10; angedeutet auch bei OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 15, dort wohl unter Vertauschung von Satz 1 und 2).

43

§ 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG räumt nur einen Soll-Anspruch ein. Das ermöglicht es, besondere Umstände zu berücksichtigen und im Hinblick auf diese die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis trotz vorliegender nachhaltiger Integration ausnahmsweise zu versagen (vgl. zur Bedeutung einer Soll-Regelung: BVerwG, Urt. v. 17.12.2015, 1 C 31.14, BVerwGE 153, 353, juris Rn. 21 f.).

44

Die Gesetzesbegründung zu § 25b AufenthG enthält verschiedene Anhaltspunkte, aus denen der gesetzgeberische Wille erkennbar wird, früheres Fehlverhalten über die "Soll"-Regelung des Absatz 1 Satz 1 zu erfassen und zu bewerten. So heißt es zu Absatz 1 (BT-Drs. 18/4097, S. 42):

45

"Wenn die Voraussetzungen des § 25b vorliegen, soll die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Sofern die in Satz 2 genannten Voraussetzungen vorliegen, ist von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland auszugehen. Nur in Ausnahmefällen kann von der Titelerteilung abgesehen werden."

46

Weitere Ausführungen, wonach "grundsätzlich … nur Ausländer, die sich an Gesetz und Recht halten, wegen ihrer vorbildlichen Integration begünstigt werden" sollen, die Regelung in Absatz 2 Nr. 1, die nur an aktuelle (ergänze: fehlende) Mitwirkungshandlungen des Ausländers anknüpfe, "jedoch keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren" sein solle und die Aussage, wonach "bei Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Absatz 2 Nummer 3 bis 6 n.F. ebenfalls regelmäßig keine nachhaltige Integration gegeben sein" werde, befinden sich zwar bei der Begründung zu Absatz 2 Nr. 1 und 2 (BT-Drs. 18/4097, S. 44, 45), doch lassen sich die vorgestellten Verhaltensweisen sowie die hieraus erkennbare Absicht des Gesetzgebers über die Anwendung der Soll-Regelung des Absatzes 1 Satz 1 erfassen.

47

Auch dann, wenn im Rahmen der Sollregelung des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Ausnahmefall nur solche Fälle angesehen werden, die sich durch besondere, atypische Umstände auszeichnen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen (vgl. statt vieler: BVerwG, Urt. v. 16.8.2011, 1 C 12.10, InfAuslR 2012, 53 juris Rn. 18), erscheint es allerdings zweifelhaft, ob in der Vergangenheit liegende Identitätstäuschungen deshalb grundsätzlich nicht als atypische Ausnahmefälle im Sinn von § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzusehen sind, weil viele Ausländer in der Vergangenheit über ihre Identität getäuscht bzw. sich nicht um einen Pass gekümmert hätten und dem Gesetzgeber dies bewusst gewesen sei; ein Ausnahmefall könne daher allenfalls dann angenommen werden, wenn den Täuschungshandlungen in einem atypischen Fall eine besondere Verwerflichkeit zukomme (so das Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss, S. 6). Die Gründe, weshalb es in der Vergangenheit nicht zu einer Aufenthaltsbeendigung gekommen ist, können jedoch vielfältig sein. Motiv für die Schaffung einer alters- und stichtagsunabhängigen Bleiberechtsregelung war jedenfalls der Umstand, dass "die aufenthaltsrechtliche Situation … derzeit allerdings in vielen Fällen weder durch eine zwangsweise Aufenthaltsbeendigung noch durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verändert werden" könne (vgl. Gesetzesbegründung, Allgemeiner Teil, BT-Drs. 18/4097, S. 23; so auch schon BR-Drs. 505/12 - Beschluss - S. 1). Jedenfalls wird die Dauer des Fehlverhaltens ein erhebliches Indiz für das Vorliegen eines Ausnahmefalls sein, zumal wenn es erst vor relativ kurzer Zeit beendet wurde.

48

d) Im Fall des Antragstellers spricht viel für das Vorliegen eines Ausnahmefalles. Die Frage, ob ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, bei dem der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eröffnet ist, unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung und ist insoweit eine rechtlich gebundene Entscheidung. Nur aufgrund einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles kann beurteilt und festgestellt werden, ob ein Ausnahmefall vorliegt (BVerwG, Urt. v. 17.12.2015, 1 C 31.14, BVerwGE 153, 353, juris Rn. 21 f.).

49

Der Antragsteller kam im Alter von 14 Jahren zusammen mit seiner Familie nach Deutschland. Ihm war im Heimatland bereits ein Personaldokument mit seinen richtigen Personalien ausgestellt worden. Ihm musste daher bewusst sein, dass die für ihn zunächst von seinen Eltern, spätestens ab seiner Volljährigkeit im Jahr 2008 von ihm selbst angegebenen Personalien falsch sind. Wiederholte Aufforderungen der Ausländerbehörde, sich um die Ausstellung eines Heimreisedokuments zu bemühen, missachtete der Antragsteller. Auch die Anregung der Ausländerbehörde, wegen mangelnder Mitwirkung die Sozialleistungen zu kürzen und die auf diese Umstände gestützte Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis bewirkten keine Verhaltensänderung. Es kommt hinzu, dass der Aufenthalt des Antragstellers wohl allein deshalb geduldet worden war, weil kein gültiger Pass oder ein sonstiges Heimreisedokument vorlag; den Ausländerakten – v.a. der zwischenzeitlich aus einem anderen Verfahren beigezogenen Akte der Mutter des Antragstellers – kann entnommen werden, dass durchaus ausländerbehördliche Versuche unternommen worden waren, Ausreisepapiere für die Familie zu erhalten, was aber an den falschen Personalien scheiterte. Im Hauptsacheverfahren kann ggf. noch weiter versucht werden, die Gründe für die lange Identitätstäuschung und auch für den diesbezüglichen Meinungswechsel der Familie etwa Ende des Jahres 2013 zu erfragen.

50

Liegt bei Vorliegen der Integrationsvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG ein Ausnahmefall vor, so hat die Antragsgegnerin über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen zu entscheiden. Dies ist bisher wegen anderer rechtlicher Ausgangspunkte in den Bescheiden der Antragsgegnerin noch nicht geschehen. Im Bescheid vom 17. Juni 2016 wurde schon die nachhaltige Integration des Antragstellers in die hiesigen Lebensverhältnisse verneint. Im Widerspruchsbescheid vom 21. September 2016 sah die Antragsgegnerin das Fehlverhalten des Antragstellers als Ausnahme von der nach § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG anzunehmenden Integration, verneinte somit bereits die Erteilungsvoraussetzung, so dass auch hier kein Rechtsfolgenermessen ausgeübt wurde. Auch dürfte kein Fall vorliegen, in dem als einzige fehlerfreie Ermessensentscheidung eine Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG in Betracht käme. So hat die Antragsgegnerin der jüngeren Schwester des Antragstellers eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG und der Zwillingsschwester des Antragstellers eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG erteilt. Alle in Hamburg lebenden Familienangehörigen haben in gleicher Weise wie der Antragsteller über etliche Jahre über ihre Identität getäuscht, mag dies der 1997 geborenen jüngeren Schwester auch nicht in gleichem Maße vorgeworfen werden können.

51

Ist im Einzelfall Ermessen auszuüben, so führt ein Ermessensnichtgebrauch zur Rechtswidrigkeit der Bescheide und im Hauptsacheverfahren zumindest zum Anspruch des Antragstellers, dass die Antragsgegnerin erneut über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entscheidet. Dieser Anspruch wird zu Recht durch die vom Verwaltungsgericht erlassene einstweilige Anordnung gesichert.

III.

52

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

53

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Es geht vorliegend um die vorläufige Sicherung des behaupteten Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, nicht allein um die Verhinderung einer Abschiebung oder eine isolierte Abschiebungsandrohung (so das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit). Mit der begehrten einstweiligen Anordnung wird auch nicht die Hauptsache vorweggenommen. In der Hauptsache wird die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begehrt; dies ist nicht Gegenstand des Antrags nach § 123 VwGO.

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