Urteil vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 Bf 388/19.A

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 3. Juli 2019 geändert, soweit die Beklagte darin verpflichtet worden ist festzustellen, dass zugunsten des Klägers die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.

Die Klage wird, soweit sie nicht bereits zurückgenommen worden ist, abgewiesen.

Die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt der Kläger.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt – nach Rücknahme der Klage im Übrigen – die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote hinsichtlich Afghanistans.

2

Nach seinen eigenen Angaben ist der Kläger ein [...] 1995 in Kabul geborener, lediger und kinderloser afghanischer Staatsangehöriger schiitischer Religionszugehörigkeit von der Volksgruppe der Qizilbash. Er reiste im August 2015 in das Bundesgebiet ein und stellte am 24. November 2015 einen Asylantrag.

3

Im Rahmen von Befragungen bzw. Anhörungen im Asylverfahren gab der Kläger an, er habe sich lediglich als Kind für ein oder zwei Jahre in Afghanistan aufgehalten. Sein Vater sei ein Mudschahed gewesen, deshalb habe seine Familie Afghanistan, wo sie zuletzt im Distrikt Paghman gelebt habe, verlassen und sei in den Iran gegangen. Dort habe er die letzten 20 Jahre seines Lebens gelebt, zuletzt in der Stadt Kaschan. Nachdem sein Vater (etwa) im Jahr 2012 gestorben sei, habe er dort insbesondere mit seiner Mutter und fünf Schwestern gelebt. Diese lebten weiterhin im Iran, zudem mehrere weitere Verwandte sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits. In Afghanistan hielten sich noch „einige wenige Mitglieder“ seiner Großfamilie auf; zu einer Tante mütterlicherseits dort habe er keinen Kontakt. In Deutschland lebe sein Cousin, A., mit seinem Sohn B. Seine Familie im Iran bestreite ihren Lebensunterhalt durch das Teppichknüpfen. Den Schulbesuch im Iran bis zur 5. Klasse habe er sodann beendet, um zu arbeiten; dadurch habe er zum Lebensunterhalt der Familie beitragen und seinen Schwestern den weiteren Schulbesuch ermöglichen wollen. Von Beruf sei er Maler bzw. Anstreicher. Dabei habe er zunächst als Hilfsarbeiter gearbeitet, sich dann allmählich einen eigenen Kundenstamm aufgebaut und schließlich selbstständig gearbeitet. Bei einem „Arbeitsunfall“ im Iran habe er im Alter von vier Jahren Verbrennungen an Händen und Füßen erlitten, weswegen er bei Kälte immer Schmerzen in den Extremitäten habe; ärztliche Atteste gebe es hierüber nicht, Medikamente seien nicht erforderlich.

4

Zu den Gründen seiner Flucht aus dem Iran gab der Kläger im Wesentlichen an, er sei im Sommer 2015 bei Freunden auf einer ausgelassenen Feier mit Teilnehmern beiderlei Geschlechts gewesen, auf der auch Alkohol konsumiert worden sei. Im Rahmen eines Polizeieinsatzes sei er inhaftiert und für mehrere Tage festgehalten worden; man habe ihm die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Seine Entlassung aus der Haft habe er dadurch erwirkt, dass er sich zu einem Kampfeinsatz in Syrien bereit erklärt habe. Um dem nicht Folge leisten zu müssen, aber auch nicht nach Afghanistan abgeschoben zu werden, sei er binnen weniger Tage nach der Haftentlassung in Richtung Europa aus dem Iran geflüchtet. Eine Abschiebung nach Afghanistan habe er vermeiden wollen, weil ihm dort aufgrund einer fortbestehenden Streitigkeit seiner Familie mit einem anderen Clan um Landbesitz Lebensgefahr drohe. Auch würde er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht die Möglichkeit haben, dort als Maler bzw. Anstreicher tätig zu sein. Denn zum einen seien die Häuser dort aus Lehm und die Afghanen hätten nicht die Mittel, um ihre Häuser streichen zu lassen. Zum anderen kenne er sich dort nicht aus, habe keine Kontakte und gleichzeitig nicht das Geld für eine Übergangszeit, in der er sich dort bekannt machen könnte.

5

Mit Bescheid vom 13. Januar 2017 lehnte die Beklagte die Anträge des Klägers ab und stellte fest, dass das nationale Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliege. Dem Kläger wurde die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Ausreise befristet.

6

Am 18. Januar 2017 hat der Kläger bei dem Verwaltungsgericht Hamburg Klage erhoben, mit der er die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG, hilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG begehrt hat. Zur Begründung hat er insbesondere ausgeführt, er sei im Iran aufgewachsen mit der Folge, dass die Verhältnisse in Afghanistan für ihn völlig fremd seien. Mangels eines Berufsabschlusses wäre er vor dem Hintergrund der dortigen wirtschaftlichen Situation und der Lebensbedingungen nicht imstande, in Kabul oder andernorts in Afghanistan zu überleben. Er könne in Afghanistan auch nicht auf familiäre Unterstützung zurückgreifen. Aufgrund individueller Umstände wäre er nicht imstande, sich in Afghanistan „durchzuschlagen“. Darüber hinaus könne auch im Grundsatz nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass junge, aber erwachsene, gesunde, alleinstehende und leistungsfähige Männer, auch wenn sie auf sich allein gestellt seien und keine Berufsausbildung hätten, in Afghanistan bzw. Kabul „angemessen überleben“ könnten.

7

Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 3. Juli 2019 vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger angegeben, sein Vater sei gestorben, als er – der Kläger – etwa 17 Jahre alt gewesen sei. Seine Mutter und seine fünf Schwestern lebten weiter im Iran, wobei zwei seiner Schwestern mit Afghanen verheiratet seien und die anderen drei Schwestern bei seiner Mutter in einem angemieteten Haus lebten. Ferner habe er einen Onkel väterlicherseits in Kuwait und einen Onkel mütterlicherseits in Deutschland. Er wisse, dass eine Tante mütterlicherseits in Afghanistan lebe, doch habe er zu ihr nie Kontakt gehabt; als er noch im Iran gelebt habe, habe seine Mutter manchmal mit dieser telefoniert. Die Flucht aus dem Iran nach Deutschland habe er zusammen mit seinem Cousin, A., „und seiner Familie“ unternommen. Zu seiner Arbeitserfahrung sei zu sagen, dass er im Iran als Bauhelfer und Anstreicher von Häusern, kurzzeitig auch als Fliesenleger gearbeitet habe. Im Wesentlichen habe er – beginnend in einem Alter von neun oder zehn Jahren – bei einem Cousin seines Vaters als Anstreicher gearbeitet. Die ersten Jahre sei er als Helfer tätig gewesen, sei aber allmählich eigenständiger geworden und habe sich schließlich etwa drei bis vier Monate vor seiner Flucht selbstständig gemacht. Im Iran habe er immer nur zusammen mit seiner Familie gelebt.

8

Nach Rücknahme der Klage im Übrigen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 3. Juli 2019 noch beantragt,

9

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Januar 2017, soweit er entgegensteht, zu verpflichten festzustellen, dass zu seinen Gunsten die Voraussetzungen des nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.

10

Die Beklagte hat beantragt,

11

die Klage abzuweisen.

12

Zur Begründung hat sie sich auf den angefochtenen Bescheid bezogen.

13

Mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 3. Juli 2019 hat das Verwaltungsgericht Hamburg die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 13. Januar 2017 verpflichtet festzustellen, dass zugunsten des Klägers die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. Zur Begründung hat es ausgeführt, eine Abschiebung des Klägers würde wegen einer extremen Gefahrenlage in Afghanistan Verfassungsrecht verletzen, sodass ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen sei. Im Wege einer Gesamtschau sei vorliegend, auch unter Berücksichtigung der schlechten Versorgungslage in Afghanistan, anzunehmen, dass dem Kläger im Falle seiner Rückführung alsbald der sichere Tod oder schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen drohten. Es sei davon auszugehen, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Kabul oder in eine andere afghanische Großstadt nicht durch Arbeit oder Einsatz von Vermögen einen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums werde erwirtschaften können. Die Versorgungslage hinsichtlich der Grundbedürfnisse in Bezug auf Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung sei in Afghanistan allgemein und auch in den großen Städten wie Kabul insbesondere unter Berücksichtigung der dort seit einigen Jahren ankommenden Binnenflüchtlinge und Rückkehrer schlecht. Zwar gelte der Befund, dass angesichts der Versorgungslage große Bevölkerungsteile als besonders verletzlich anzusehen und für ihren Lebensunterhalt auf Unterstützung durch Dritte angewiesen seien, nicht ohne weiteres auch für die Gruppe gesunder arbeitsfähiger Männer. Das Gericht sei allerdings auf Grundlage der Angaben des Klägers der Überzeugung, dass es diesem aufgrund der Umstände des Einzelfalles in Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen würde, seinen Lebensunterhalt zu sichern, sodass ihm alsbald nach einer Rückkehr eine extreme Gefahrenlage drohe. Einen stabilen und aufnahmefähigen Familienverbund in Afghanistan habe der Kläger nicht mehr. Nach der Überzeugung des Gerichts werde der Kläger auch nicht in der Lage sein, durch eigene Erwerbstätigkeit sein Existenzminimum zu sichern. Er sei zwar mit wohl etwa 23 Jahren im arbeitsfähigen Alter und habe im Iran auch Arbeitserfahrungen gesammelt. Damit habe er aber noch keine Erfahrungen und Kenntnisse erworben, die ihm auf dem umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt weiterhelfen könnten, insbesondere nicht auf dem ihm in Ermangelung persönlicher Kontakte allein offenstehenden Markt der Tagelöhner. Seine Arbeitserfahrungen als Anstreicher im Iran und die in Deutschland begonnene Einstiegsqualifizierung im Bereich Beton- und Stahlbetonbau verschafften ihm auf diesem Arbeitsmarkt keinerlei Vorteile. Der Kläger sei in Afghanistan bei der Bestreitung des Lebensunterhalts noch nie auf sich allein gestellt gewesen.

14

Auf den hiergegen gerichteten Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hin hat der Senat die Berufung mit Beschluss vom 27. März 2020 wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

15

Zur Begründung ihrer daraufhin am 14. April 2020 eingelegten Berufung bringt die Beklagte vor, es sei davon auszugehen, dass ein junger, leistungsfähiger und alleinstehender Mann auch ohne nennenswertes Vermögen und familiäre Verbindungen in Afghanistan in der Lage sei, zumindest ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Dies gelte auch vor dem Hintergrund der derzeitigen Coronavirus-Pandemie und selbst dann, wenn die Person im Iran aufgewachsen sei. Im Rahmen der Prognose, ob einem Rückkehrer im Herkunftsland eine Verelendung drohe, seien auch die freiwilligen Rückkehrern von der Beklagten gewährten finanziellen und anderweitigen Rückkehrhilfen zu berücksichtigen; diese seien unter den gegenwärtigen Pandemiebedingungen in einem erhöhten Leistungsumfang verfügbar. Der Kläger verfüge zudem über Berufserfahrungen und familiäre Verbindungen in Drittländer.

16

Die Beklagte beantragt,

17

das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 3. Juli 2019 zu ändern und die Klage, soweit sie auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG gerichtet ist, abzuweisen.

18

Der Kläger beantragt,

19

die Berufung zurückzuweisen.

20

Er verteidigt das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts. In seinem Fall lägen individuelle erschwerende Umstände vor, die es ihm unzumutbar machten, sich in Kabul oder in einer anderen Großstadt Afghanistans niederzulassen. Er habe praktisch sein gesamtes Leben im Iran und in Deutschland verbracht. Afghanistan sei ihm fremd. Zugang zu einem unterstützenden Netzwerk durch Familienmitglieder oder andere soziale Beziehungen, die in Afghanistan essenziell seien, habe er dort nicht. Erschwerend kämen die Auswirkungen der gegenwärtigen Coronavirus-Pandemie auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan hinzu. Gerade als Rückkehrer aus Europa drohten ihm in Afghanistan Gefahren für Leib und Leben.

21

Seit seiner Einreise hat der Kläger in Hamburg als Reinigungskraft und als Lagerhelfer bei einem Paketzusteller gearbeitet. Ab dem 1. September 2018 hat er im Rahmen der Maßnahme „Berufsstart Bau“ zunächst ein mehrwöchiges Praktikum und im Anschluss bis zum 31. August 2019 eine Einstiegsqualifizierung im Beruf des Beton- und Stahlbetonbauers absolviert. Seit dem 1. September 2019 durchläuft der Kläger eine Berufsausbildung als Beton- und Stahlbetonbauer; daneben arbeitet er in den Abendstunden als Lagerlogistiker.

22

Der erkennende Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 25. März 2021 angehört. Einen in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger gestellten Beweisantrag hat der Senat abgelehnt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

23

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Sachakte der Beklagten, die beigezogene Ausländerakte betreffend den Kläger und die Gerichtsakte des Verwaltungsgerichts Hamburg im Verfahren 4 A 7898/16 Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind. Die in der den Beteiligten übersandten Liste (Bl. 207 ff., 243 d. Gerichtsakte) aufgeführten Erkenntnisquellen sowie die im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25. März 2021 genannten weiteren Erkenntnisquellen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

24

Die zulässige Berufung der Beklagten hat auch in der Sache Erfolg. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass zugunsten des Klägers die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. Die Klage ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 10) verfügt der Kläger über einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots weder auf Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (hierzu I.) noch auf Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz AufenthG (hierzu II.).

I.

25

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf Afghanistan.

26

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in welchem dem Ausländer Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Am Maßstab von Art. 3 EMRK würde sich eine Abschiebung des Klägers nach Afghanistan weder im Hinblick auf die dort bestehende Sicherheitslage (hierzu 1.) noch in Anbetracht der dort herrschenden humanitären Verhältnisse (hierzu 2.) als Konventionsverstoß darstellen.

27

1. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung droht dem Kläger zum einen nicht in Bezug auf die in Afghanistan bzw. Kabul bestehende Sicherheitslage. Nach den Grundsätzen der Rechtsprechung insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – EGMR – (hierzu a)) ist eine solche Gefahr weder im Hinblick auf die allgemein in Afghanistan bzw. Kabul bestehende Sicherheitslage (hierzu b)) noch unter Berücksichtigung etwaiger individueller gefahrerhöhender Umstände in der Person des Klägers (hierzu c)) anzunehmen.

28

a) Die Abschiebung durch einen Konventionsstaat kann dessen Verantwortlichkeit nach der EMRK begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr („real risk“) läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden; in einem solchen Fall ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung, die Person nicht in dieses Land abzuschieben (EGMR, st.Rspr., vgl. Urt. v. 7.7.1989, Nr. 14038/88, 1/1989/161/217 - Soe-ring/Vereinigtes Königreich, NJW 1990, 2183 Rn. 90 f.; Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06 - Saadi/Italien, NVwZ 2008, 1330 Rn. 125; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 23). Das Kriterium der tatsächlichen Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. hierzu und zum Folgenden BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019, 1 B 2.19, juris Rn. 6 m.w.N.; Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23.12, BVerwGE 146, 67, juris Rn. 32; Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377, juris Rn. 22). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Wie der EGMR klargestellt hat (Urt. v. 9.1.2018, Nr. 36417/16 - X./Schweden, Rn. 50), ist ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent, sodass ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis dafür, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, nicht verlangt werden kann.

29

Da für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK auf die Rechtsprechung des EGMR zurückzugreifen ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019, 1 B 2.19, juris Rn. 6), kommt dieser Rechtsprechung besondere Bedeutung zu (vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004, 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307, juris Rn. 38). Der Begriff der „unmenschlichen“ Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK setzt eine vorsätzliche und unterbrechungslos über Stunden andauernde Zufügung entweder körperlicher Verletzungen oder intensiven physischen oder psychischen Leides voraus, während eine Behandlung „erniedrigend“ ist, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt, sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, die geeignet sind, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland, NVwZ 2011, 413, Rn. 220 m.w.N.).

30

In räumlicher Hinsicht ist für die Beurteilung, ob die Gewährleistungen der EMRK einer Abschiebung entgegenstehen, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und insbesondere zu prüfen, ob konventionswidrige Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl. EGMR, Urt. v. 28.6.2011, Nr. 8319/07, 11449/07 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 26). Da Abschiebungen nach Afghanistan aus Deutschland bislang durchweg auf dem Luftweg zum Zielflughafen Kabul durchgeführt werden, ist bei der Kontrolle solcher Abschiebungen am Maßstab des Konventionsrechts grundsätzlich auf die Lage in Kabul abzustellen.

31

In Bezug auf die im Zielstaat herrschende Sicherheitslage kann sich die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung aus einer allgemeinen Situation der Gewalt, einem besonderen Merkmal des Betroffenen oder aus einer Verbindung von beidem ergeben (vgl. EGMR, Urt. v. 28.6.2011, a.a.O., Rn. 218; BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 25). Nach der Rechtsprechung des EGMR kann eine allgemeine Situation der Gewalt ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK allerdings nur in äußerst extremen Fällen („in the most extreme cases“) begründen, nämlich wenn sie derart intensiv ist, dass die bloße Anwesenheit einer Person im Zielstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zur Folge hat (vgl. Urt. v. 23.8.2016, Nr. 43611/11 - F.G./Schweden, Rn. 116; Urt. v. 15.10.2015, Nr. 40081/14 u.a. - L.M. u.a./Russland, Rn. 119 m.w.N.; Urt. v. 28.6.2011, a.a.O., Rn. 216, 218, 241; Urt. v. 17.7.2008, Nr. 25904/07 - N.A./Vereinigtes Königreich, Rn. 115). Ob diese Intensitätsschwelle erreicht ist, bestimmt sich insbesondere nach der Art der von den Konfliktparteien eingesetzten Kampfmethoden sowie deren Eignung, die Zivilbevölkerung – gezielt oder mittelbar – zu gefährden, ferner nach der Intensität und Ausdehnung des Konflikts und nach der Anzahl der aufgrund der Kampfhandlungen vertriebenen, verletzten und getöteten Zivilpersonen (vgl. EGMR, Urt. v. 28.6.2011, a.a.O., Rn. 241, 248). Diese Betrachtung schließt eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Häufung von Akten willkürlicher Gewalt und der Zahl der dabei Verletzten und Getöteten in Relation zur Gesamteinwohnerzahl des betreffenden Gebietes ein, um das individuelle Verletzungsrisiko von Zivilpersonen auf einer validen Tatsachengrundlage beurteilen zu können (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 93 ff.). Die Ermittlung ist insoweit methodisch vergleichbar mit der Bestimmung der quantitativen Gefahrverdichtung, wie sie das Bundesverwaltungsgericht bei einer Prüfung willkürlicher Gewalt als Voraussetzung für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vornimmt (vgl. Urt. v. 20.5.2020, 1 C 11.19, NVwZ 2021, 327, juris Rn. 21; Urt. v. 13.2.2014, 10 C 6.13, NVwZ-RR 2014, 487, juris Rn. 24; Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13.10, NVwZ 2012, 454, juris Rn. 22 f.; Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4.09, BVerwGE 136, 360, juris Rn. 33). Allerdings ist das Ergebnis der Würdigung nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung am Maßstab des Konventionsrechts zu bestimmen (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, a.a.O., Rn. 95; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris, Rn. 44, 74 ff.; OVG Bremen, Urt. v. 12.2.2020, 1 LB 305/18, juris RN. 59, 66; OVG Koblenz, Urt. v. 22.1.2020; 13 A 11356/19, juris Rn. 64 ff., 71; vgl. auch VGH Mannheim, Beschl. v. 29.11.2019, A 11 S 2374/19, A 11 S 2375/19, juris).

32

b) Nach diesen Grundsätzen ist die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung aufgrund der allgemein in Afghanistan bzw. Kabul bestehenden Sicherheitslage nicht zu erkennen.

33

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist weiterhin volatil (vgl. hierzu und zum Folgenden Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020 (Stand Juni 2020, m. Aktualis. v. 14.1.2021 – im Folgenden: Lagebericht 2020), S. 4, 19; EASO, Afghanistan: Security Situation (Stand September 2020 – im Folgenden: Security Situation), S. 51 f., 56 f., 163 f.). Sie weist zudem starke regionale Unterschiede auf, da Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen zwischen Konfliktparteien andere Landesteile gegenüberstehen, in denen die Lage vergleichsweise stabil ist. Mit dem Abzug des Großteils der internationalen Truppen seit 2014 und der Beschränkung verbliebener internationaler Einheiten auf eine defensive Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte agieren die Taliban und andere bewaffnete regierungsfeindliche Gruppen mit größerer Bewegungsfreiheit. Die Taliban sind anhaltend – und teilweise erfolgreich – darum bemüht, ihren militärischen Einfluss über ihre Kernräume hinaus zu erweitern; belastbare Aussagen zu einer „Kontrolle“ bestimmter Provinzen bzw. Distrikte sind allerdings vielfach nicht möglich. Die Stadt Kabul ist, von einer Infiltration der Taliban in Randbereichen abgesehen, unter dem Einfluss der Regierung. Allerdings gelingt es den Taliban immer wieder, wichtige Überlandstraßen, auch nach Kabul und zum Teil für längere Zeiträume, zu blockieren.

34

Die Sicherheitslage für Zivilpersonen in Afghanistan war im Jahr 2020 insbesondere durch die Folgen zweier politischer Ereignisse geprägt, nämlich des Abschlusses des bilateralen Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban am 29. Februar 2020 und des Beginns der Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban am 12. September 2020 (vgl. hierzu und zum Folgenden UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2020 (Stand Februar 2021 – im Folgenden: Annual Report 2020), S. 11 ff.; Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 5, 16; EASO, Security Situation, September 2020, S. 20, 24 f., 30 f., 40). Das bilaterale Abkommen zwischen den USA und den Taliban führte zu einer weitgehenden Einstellung von Kampfhandlungen zwischen den internationalen Streitkräften und den Taliban, sodass Zivilisten durch solche Kampfhandlungen fortan kaum noch in Mitleidenschaft gezogen wurden; da die Taliban ihre Kampagne gegen Regierungstruppen jedoch fortsetzten und diese hierauf insbesondere durch Luftangriffe reagierten, stieg die Zahl ziviler Opfer solcher Kampfhandlungen. Ab dem Beginn der Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban im September 2020 verstärkten Letztere – zum Ausbau ihrer Verhandlungsbasis – ihre militärischen Aktivitäten mit der Folge erheblich ansteigender ziviler Opferzahlen im 4. Quartal 2020 (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 23.11.2020, S. 3). Ein prägendes Merkmal des Jahres 2020 war zudem der Umstand, dass die anhaltenden Kampfhandlungen die Reaktionsmöglichkeiten internationaler Hilfsorganisationen und des afghanischen Gesundheitssystems auf die SARS-CoV-2-Pandemie herabsetzten (vgl. UNAMA, a.a.O., S. 12, 53; UNAMA, Special Report: Attacks On Healthcare During the COVID-19 Pandemic, Juni 2020, S. 3 ff., 9 ff.).

35

Nach den – methodisch belastbaren (vgl. dazu OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 140 ff.) – Zahlen der United States Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) zu landesweiten Tötungen und Verletzungen von Zivilpersonen in Afghanistan kamen im Jahr 2020 8.820 Zivilisten zu Schaden (3.035 Tote und 5.785 Verletzte; vgl. hierzu und zum Folgenden UNAMA, Annual Report 2020, S. 11). Ungeachtet der nach wie vor hohen Zahlen bildet dies einen Rückgang um 15 % gegenüber den zivilen Opferzahlen des Jahres 2019 – die ihrerseits um 10 % unter den Zahlen des Jahres 2018 gelegen hatten (vgl. EASO, Security Situation, September 2020, S. 31) – und zugleich die geringste Zahl seit dem Jahr 2013. Das Jahr 2020 sticht insbesondere durch den erheblichen Anstieg der Opferzahlen im letzten Quartal (auf 891 Tote und 1.901 Verletzte) heraus, bei dem es sich um den ersten Anstieg ziviler Opferzahlen in einem letzten Jahresquartal gegenüber dem Vorquartal (840 Tote und 1.673 Verletzte) seit Beginn der systematischen Erhebungen durch UNAMA im Jahr 2009 handelt; typischerweise ist das letzte Jahresquartal in Afghanistan durch einen jahreszeitbedingten Rückgang von Kampfhandlungen geprägt. Zudem markieren die Opferzahlen des 4. Quartals 2020 einen 45 %-igen Anstieg gegenüber dem entsprechenden Zeitraum im Jahr 2019.

36

Die Schädigungen von Zivilpersonen gingen im Jahr 2020 zu 62 % auf regierungsfeindliche Gruppierungen zurück, wobei der Anteil in der Verantwortung der Taliban gegenüber 2019 auf 45 % stieg, der durch den „Islamischen Staat in der Provinz Khorasan“ (ISKP) zu verantwortende Anteil auf 8 % sank; im Übrigen gingen die schädigenden Kampfhandlungen auf regierungstreue Kräfte (25 %) oder nicht bestimmbare aufständische Gruppen (9 %) zurück (vgl. hierzu und zum Folgenden UNAMA, Annual Report 2020, S. 11 ff., 44 ff., 66 ff.; Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 17 f.; EASO, Security Situation, September 2020, S. 30 ff.). Wie in den Vorjahren kamen auch in 2020 Zivilpersonen außer durch Luftangriffe und Kampfhandlungen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen insbesondere durch Selbstmordanschläge – einschließlich sog. „komplexer“ Angriffe –, improvisierte Sprengsätze (sog. IEDs) und gezielte Tötungen bzw. Ermordungen zu Schaden. Während Zivilpersonen in ländlichen Gebieten typischerweise vor allem Kampfhandlungen, IEDs und Übergriffen von Aufständischen zum Opfer fallen, ist die städtische Bevölkerung stärker durch Selbstmordanschläge, komplexe Angriffe und gezielte Tötungen bedroht. Letzteres gilt insbesondere für Kabul, wo sich mit dem Hauptsitz der Regierung und zahlreichen weiteren staatlichen Einrichtungen vorrangige und medienwirksame Ziele für Anschläge der Taliban befinden. Die landesweit häufigste Schädigungsursache im Jahr 2020 (36 %) waren Kampfhandlungen zwischen Bodentruppen und Aufständischen, durch welche Zivilpersonen „indirekt“ in Mitleidenschaft gezogen wurden. Während der Anteil von Selbstmordanschlägen und von Luftangriffen internationaler Streitkräfte an den Schädigungen von Zivilpersonen im Jahr 2020 zurückging, stiegen insbesondere die auf (nicht personengebundene) Sprengsätze (26 %) und gezielte Ermordungen (14 %) zurückgehenden Anteile an. Auch der markante Anstieg ziviler Opfer im 4. Quartal 2020 geht insbesondere auf Sprengsätze und gezielte Tötungen zurück. Neben dem absoluten Anstieg gezielter Tötungen bzw. Ermordungen von Zivilisten – um 45 % gegenüber dem Vorjahr – bewerten Beobachter die zunehmende Dichte solcher Taten gegen Zivilisten aus bestimmten Gesellschaftsbereichen, wie insbesondere Justizangehörige, Regierungs- und Verwaltungsbeamte, Journalisten und Aktivisten in den Themenfeldern Menschenrechte und Zivilgesellschaft, als besonders besorgniserregend (vgl. UNAMA, a.a.O., S. 12, 16, 53 ff.; Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 17; EASO, a.a.O., S. 33 ff., 41, 60 ff.). Diese Gewalttaten dienen der Einschüchterung von liberal-progressiven Teilen der Gesellschaft, mitunter in Vollstreckung von Entscheidungen einer „Paralleljustiz“ aufständischer Gruppen (vgl. UNAMA, a.a.O., S. 18; Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 21). Gezielte Ermordungen von Zivilisten im Jahr 2020 gingen zu 61 % auf Handlungen der Taliban zurück, eine Zunahme von 22 % gegenüber 2019 (UNAMA, a.a.O., S. 16 f.). Auch der steile Anstieg ziviler Opferzahlen durch Fahrzeugbomben wird vorwiegend den Taliban zugeschrieben (vgl. UNAMA, a.a.O., S. 47). Der Islamische Staat bzw. ISKP fiel in 2020 demgegenüber insbesondere durch Selbstmordanschläge und komplexe Angriffe mit hohen Opferzahlen in städtischen Zentren, insbesondere zum Nachteil religiöser Minderheiten, auf (vgl. UNAMA, a.a.O., S. 18 f., 55 f.; Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 8, 9; EASO, a.a.O., S. 51).

37

In der Provinz Kabul kam es im Jahr 2020 zu 817 zivilen Opfern, darunter 255 Tote und 562 Verletzte (vgl. hierzu und zum Folgenden UNAMA, Annual Report 2020, S. 110). Obwohl es sich dabei um die höchsten zivilen Opferzahlen unter den 34 Provinzen des Landes handelt, stellt dies gegenüber 2019 einen Rückgang um 48 % dar. Die häufigste Schädigungsursache machten dabei gezielte Tötungen aus, gefolgt von Sprengsätzen und Selbstmordanschlägen.

38

Wird die landesweite Zahl ziviler Opfer im Jahr 2020 in ein Verhältnis zur Bevölkerungszahl Afghanistans – von etwa 27 Millionen nach zurückhaltender Schätzung (Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 17) – gesetzt, so ergibt sich ein Schädigungsrisiko von etwa 1:3.000 (0,03 %). Dies bleibt deutlich hinter der Gefahrendichte zurück, wie sie nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für eine Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erforderlich wäre (vgl. Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13.10, NVwZ 2012, 454, juris Rn. 22 f. (1:800 „weit“ von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt); vgl. auch Urt. v. 20.5.2020, 1 C 11.19, NVwZ 2021, 327, juris Rn. 21; Urt. v. 13.2.2014, 10 C 6.13, NVwZ-RR 2014, 487, juris Rn. 24; Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4.09, BVerwGE 136, 360, juris Rn. 33). Vor diesem Hintergrund erscheint bei quantitativer Betrachtung auch ein Gefahrengrad, bei dem ein nach Afghanistan zurückkehrender Asylbewerber sich allein aufgrund seiner Anwesenheit dort der tatsächlichen Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sähe, nicht erreicht. Entsprechendes gilt, wenn die Gesamtzahl der in der Provinz Kabul im Jahr 2020 getöteten oder verletzten Zivilpersonen der Bevölkerungszahl der Provinz – von nach wiederum zurückhaltender Schätzung zumindest 4 Millionen (vgl. EASO, Security Situation, September 2020, S. 55, 162) – gegenübergestellt wird, woraus sich ein Schädigungsrisiko von etwa 1:4.900 (0,02 %) ergibt.

39

Anhaltspunkte dafür, dass sich die Gefahrendichte für Zivilisten in Afghanistan bzw. Kabul im 1. Quartal 2021 – bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats – gegenüber den vorgenannten Quotienten in ausschlaggebender Weise erhöht hat, bestehen nicht. Landesweit sind weiterhin insbesondere Einrichtungen der Sicherheitskräfte sowie polizeiliche Kontrollpunkte Ziele von Angriffen durch Aufständische (vgl. hierzu und zum Folgenden Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 17; BAMF, Briefing Notes v. 15.3.2021, S. 2). Allerdings setzt sich die bereits genannte Serie gezielter Tötungen von Zivilpersonen, insbesondere von Regierungs- und Verwaltungsbeamten, Justizangehörigen und Journalisten, auch in Kabul in diesem Zeitraum fort (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 8.3.2021, S. 2; Special Inspector General für Afghanistan Reconstruction (SIGAR), Quarterly Report to the United States Congress v. 30.1.2021, S. 50 ff.). In welcher Weise sich der bevorstehende Abzug der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan sowie der Fortgang der innerafghanischen Friedensverhandlungen im Jahr 2021 auf die Sicherheitslage auswirken wird, ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats noch nicht belastbar vorherzusehen.

40

Auch bei einer wertenden Gesamtbetrachtung ist die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung allein aufgrund einer Exposition gegenüber der in Afghanistan bzw. Kabul herrschenden allgemeinen Sicherheitslage nicht festzustellen:

41

Zwar wird als sicherheitsrelevant neben Gewalttaten, die der politische Konflikt bedingt, auch die ansteigende Gewaltkriminalität in Großstädten wie Kabul bewertet (vgl. hierzu und zum Folgenden EASO, Security Situation, September 2020, S. 42, 59). Diese äußert sich insbesondere in Tötungs- und Raubdelikten, Einbrüchen, Entführungen und Auseinandersetzungen mit Schusswaffen zwischen kriminellen Banden, auch im Zusammenhang mit Drogengeschäften. Die Reaktion der Polizei wird als kapazitäts-, aber auch korruptionsbedingt unzureichend beschrieben.

42

Daneben berücksichtigt der Senat die bestehenden Möglichkeiten, in Afghanistan bzw. Kabul im Falle einer gewaltbedingten Verletzung eine medizinische Erstversorgung und erforderlichenfalls spätere Nachbehandlungen zu empfangen. Wenngleich behandlungsbedürftige Personen in ländlichen Gebieten Afghanistans oftmals erhebliche Wegstrecken zum nächsten Krankenhaus oder einer anderen öffentlichen Gesundheitseinrichtung zurückzulegen haben, besteht jedenfalls in größeren Städten und insbesondere in Kabul eine grundsätzlich hinreichende Versorgung der Bevölkerung durch öffentliche Krankenhäuser (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 23; EASO, Afghanistan: Key Socio-Economic Indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (Stand August 2020 – im Folgenden: Key Socio-Economic Indicators), S. 47 f.). Die öffentliche medizinische Basisversorgung ist grundsätzlich kostenlos, wenngleich eine Praxis privater Zuzahlungen Einzug gehalten hat (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O.; EASO, a.a.O., S. 50 f.). Das Gesundheitssystem gilt als schwach ausgestattet, unterfinanziert und auf die Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen angewiesen (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O.; EASO, a.a.O., S. 46 f.). Eine Überlastung der vorhandenen Einrichtungen und Kostenfragen führen dazu, dass Patienten nach Möglichkeit Behandlung im benachbarten Ausland, etwa in Pakistan, suchen (vgl. EASO, a.a.O., S. 50 f.). Der Umstand, dass auch nach Einsetzen der SARS-CoV-2-Pandemie in Afghanistan ab März 2020 weiterhin bewaffnete Übergriffe auf medizinische Versorgungseinrichtungen zu verzeichnen sind, belastet und mindert die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zusätzlich. Übergriffe auf Gesundheitseinrichtungen – wie 54 Vorfälle im Laufe des Jahres 2020 mit insgesamt 77 zivilen Opfern – haben häufig zum Hintergrund, dass Mitarbeiter von Gesundheitseinrichtungen Forderungen aufständischer Gruppen nicht erfüllen; in der Folge kann es zu bewaffneten Anschlägen oder Entführungen kommen, zum Teil bewirken zumindest Einschüchterungen eine vorübergehende Schließung von Einrichtungen (vgl. UNAMA, Annual Report 2020, S. 53, 58; UNAMA, Special Report: Attacks On Healthcare During the COVID-19 Pandemic, Juni 2020, S. 3 ff., 9 ff.; Auswärtiges Amt, a.a.O.; EASO, a.a.O., S. 49 f.; BAMF, Briefing Notes v. 23.11.2020, S. 3).

43

Den Erkenntnisquellen ist allerdings nicht zu entnehmen, dass die Möglichkeit für verletzte Zivilpersonen, eine medizinische Erst- und auch spätere Nachversorgung erlittener Körperschäden zu erhalten, derzeit durch Sicherheitsmängel und/oder Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie aufgehoben oder erheblich beeinträchtigt ist. Im Rahmen einer im Jahr 2020 von UNAMA durchgeführten Umfrage unter Zivilpersonen, die Verletzungen erlitten hatten, gaben 94 % an, im Anschluss medizinisch versorgt worden zu sein, wenngleich die empfangene Behandlung in vielen Fällen dauerhafte und auch schwere Gesundheitsfolgen nicht verhindern konnte (vgl. UNAMA, Annual Report 2020, S. 79).

44

Im Hinblick auf das durch den EGMR im Rahmen der wertenden Gesamtbetrachtung noch herangezogene Kriterium konfliktbedingter Vertreibungen aus einer bestimmten Region (vgl. Urt. v. 28.6.2011, Nr. 8319/07, 11449/07 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, NVwZ 2012, 681, Rn. 241, 248) ist schließlich festzustellen, dass aus Kabul keine solchen Vertreibungen oder Fluchtbewegungen berichtet werden; die Stadt ist vielmehr weiterhin Anziehungspunkt für Auslandsrückkehrer und Binnenflüchtlinge (s.u. 2.b) bb) bbb) (1) (d)).

45

c) Auch infolge individueller gefahrerhöhender Umstände in der Person des Klägers ist die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung im Hinblick auf dessen persönliche Sicherheit nicht ersichtlich.

46

Zum einen ergibt sich eine erhöhte Gefährdung des Klägers in seiner persönlichen Sicherheit nicht aus dessen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Qizilbash. Die Qizilbash zählen weiterhin zu den überdurchschnittlich gebildeten und angesehenen Gruppen Afghanistans (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Anfragebeantwortung der Staatendokumentation v. 17.7.2017, S. 2 ff.; eingehend zur Geschichte Roemer, Die turkmenischen Qizilbas, in: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 135 (1985), S. 227 ff.). Eine Gruppenverfolgung oder anderweitig erhöhte Gefährdungslage für Angehörige dieser Volksgruppe wird in Quellen nicht erwähnt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF v. 14.5.2018, S. 2; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation v. 17.7.2017, S. 13 ff.; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation v. 26.5.2015, S. 1 ff.).

47

Ein individueller gefahrerhöhender Umstand ist auch dem Verfolgungsvorbringen des Klägers, wonach sein Vater mit der Familie etwa in den Jahren 1996/1997 aufgrund eines Streits mit einem Clan um Grundbesitz in den Iran geflohen sei und es ihm, dem Kläger, aufgrund dessen weiterhin zu gefährlich erscheine, nach Afghanistan zurückzukehren, nicht belastbar zu entnehmen. Obgleich die damalige Flucht der Familie auch aus der Provinz Kabul – nämlich dem Distrikt Paghman – erfolgt sein soll, ist angesichts der seither verstrichenen Zeit und des Umstandes, dass der Kläger damals nach eigenen Angaben allenfalls zwei Jahre alt gewesen ist, mangels belastbarer weiterer Anhaltspunkte nicht von einer beachtlichen Gefährdung der persönlichen Sicherheit des Klägers auszugehen.

48

2. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung droht dem Kläger zum anderen nicht im Hinblick auf die in Afghanistan bzw. Kabul herrschenden humanitären Verhältnisse. Unter Zugrundelegung der hierzu in der Rechtsprechung insbesondere des EGMR entwickelten Grundsätze (hierzu a)) gilt dies sowohl im Hinblick auf die allgemein in Afghanistan bzw. Kabul herrschenden humanitären Verhältnisse (hierzu b)) als auch unter Berücksichtigung individueller Umstände in der Person des Klägers (hierzu c)).

49

a) Nach der Rechtsprechung des EGMR haben die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebezielstaat weder notwendig noch ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. hierzu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 29.1.2013, Nr. 60367/10 - S.H.H./Vereinigtes Königreich, BeckRS 2013, 202126, Rn. 74 ff., 88 ff.; Urt. v. 28.6.2011, Nr. 8319/07, 11449/07 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, NVwZ 2012, 681, Rn. 278, 282; Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05 - N./Vereinigtes Königreich, NVwZ 2008, 1334, Rn. 42 ff.). Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht danach allein grundsätzlich nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK annehmen zu können. Denn die EMRK zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Gleichwohl entspricht es der Rechtsprechung des EGMR, dass in besonderen Ausnahmefällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen können. Insoweit sind allerdings strengere Maßstäbe anzulegen, sofern es an einem verantwortlichen (staatlichen) Akteur fehlt: Schlechte humanitäre Bedingungen, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen sind, können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nur in ganz außergewöhnlichen Fällen („very exceptional cases“) begründen, in denen humanitäre Gründe zwingend („compelling“) gegen eine Abschiebung sprechen. Solche ganz außergewöhnlichen Umstände können auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teilt, welche Träger des gleichen Merkmals sind oder sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (vgl. hierzu und zum Folgenden EGMR, Urt. v. 13.12.2016, Nr. 41738/10 - Paposhvili/Belgien, NVwZ 2017, 1187, Rn. 183). In einem solchen Fall kann ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausnahmsweise etwa dann vorliegen, wenn die Abschiebung, wenngleich nicht unmittelbar zum Tod des Betroffenen, so doch zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung („serious, rapid and irreversible decline“) seines Gesundheitszustands führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.

50

Der vorgenannten Rechtsprechung des EGMR folgen auch die deutschen Verwaltungsgerichte (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, 1 C 45.18, BVerwGE 166, 113, juris Rn. 12 m.w.N.; Beschl. v. 13.2.2019, 1 B 2.19, juris Rn. 6, 9 f. m.w.N., 10; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 22 ff.; OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2020, 1 LB 351/20, juris Rn. 24, 26; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 45 ff.; VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20, juris Rn. 23 ff.; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 97 ff.; VG Freiburg, Urt. v. 8.9.2020, A 8 K 10988/17, juris Rn. 25 ff., 32; VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 17 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 6.7.2020, A 12 K 9279/18, n.v., UA S. 18 ff.). Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu klargestellt, dass die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraussetzt und nur ab dieser Schwelle ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechenden humanitären Gründe zwingend sind (vgl. hierzu und zum Folgenden BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, a.a.O.; Beschl. v. 13.2.2019, a.a.O.; Beschl. v. 23.8.2018, 1 B 42.18, juris Rn. 10 f.; Urt. v. 31.1.2013, a.a.O.; vgl. zum Abgleich mit der Rspr. des EGMR VG Karlsruhe, Urt. v. 6.7.2020, a.a.O., S. 22). Die Schwelle kann erreicht sein, wenn die betroffene Person ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Kann der Rückkehrer hingegen durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und damit ein Leben jedenfalls am Rande des Existenzminimums finanzieren, rechtfertigt Art. 3 EMRK keinen Abschiebungsschutz (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.10.2012, 10 B 16.12, InfAuslR 2013, 45, juris Rn. 10). Das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 4.7.2019, a.a.O.) verweist in diesem Zusammenhang auch auf die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteile v. 19.3.2019, C-297/17 u.a. – Ibrahim, Rn. 89 ff., und C-163/17 – Jawo, Rn. 90 ff.) zu Art. 4 EU-GR-Charta, wonach darauf abzustellen ist, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist.

51

In der Rechtsprechung herrscht Einigkeit, dass bezogen auf den Abschiebungszielstaat Afghanistan die vorgenannten (hohen) Anforderungen maßgeblich sind, weil die dortigen humanitären Verhältnisse nicht einem bestimmten verantwortlichen Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage (vgl. nur VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 48; OVG Koblenz, Urt. v. 30.11.2020, 13 A 11421/19, juris Rn. 112; VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20, juris Rn. 25; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 108 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 6.7.2020, A 12 K 9279/18, n.v., UA S. 22; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019, 1 B 2.19, juris Rn. 10; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 25).

52

b) In Anwendung der vorgenannten Maßstäbe ist nicht zu erkennen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul infolge der dort herrschenden allgemeinen humanitären Verhältnisse in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung geriete. Dabei bedarf keiner Entscheidung, ob der Kläger – wie er dies geltend macht, woran aber angesichts von Glaubhaftigkeitsdefiziten einiger von ihm im Rahmen der mündlichen Verhandlung gemachter Angaben zu seinem familiären Umfeld und dessen Einbindung in seine Flucht aus dem Iran Zweifel bestehen (vgl. zur Beweislast für gefahrenprognoserelevante Umstände BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, 1 C 33.18, NVwZ 2020, 161, juris Rn. 25 ff.; VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20, juris Rn. 112 ff.) – nach einer Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich weder über finanzielle Unterstützung aus dem Ausland noch – insbesondere – über ein unterstützungsbereites und -fähiges familiäres Netzwerk im Herkunftsland verfügen würde. Denn auf Grundlage der aktuellen Erkenntnisquellen ist allgemein nicht festzustellen, dass ein junger, erwachsener, gesunder und alleinstehender afghanischer Staatsangehöriger, der weder über erhebliches Vermögen oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland noch über ein vorbestehendes familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk im Herkunftsland verfügt, im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul aufgrund der dort herrschenden humanitären Verhältnisse in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung gerät; eine andere Bewertung kann nur bei Hinzutreten gewichtiger erschwerender Umstände im Einzelfall angezeigt sein – es besteht ein Regel-Ausnahme-Verhältnis.

53

Im Ausgangspunkt lassen sich junge, erwachsene, gesunde und alleinstehende Männer am Maßstab von Art. 3 EMRK als eine Gruppe betrachten, deren Mitglieder sich von anderen, stärker vulnerablen Gruppen potentieller Rückkehrer nach Afghanistan durch gemeinsame relevante Merkmale unterscheiden (hierzu und zum Folgenden aa)). Dabei handelt es sich um ihre aufgrund jungen Alters und gesunder körperlicher Verfassung regelhaft bestehende Arbeitsfähigkeit und die mangels versorgungsbedürftiger Familienmitglieder typischerweise gegebene erhöhte Flexibilität und Fähigkeit zur Kompensation temporärer Einkommenslosigkeit. Vor diesem Hintergrund besteht für junge, erwachsene, gesunde und alleinstehende männliche Rückkehrer nach Afghanistan bzw. Kabul grundsätzlich eine Vermutung besonderer Resilienz aufgrund erhöhter Anpassungs-, Durchsetzungs- und Durchhaltefähigkeit.

54

Auf Grundlage der aktuellen Erkenntnisquellenlage ist davon auszugehen, dass Rückkehrer nach Afghanistan bzw. Kabul mit den vorgenannten Eigenschaften auch unter den dort herrschenden schlechten, aktuell insbesondere durch die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie verschärften humanitären Bedingungen im Regelfall in der Lage sind, einen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums zu bestreiten (hierzu und zum Folgenden bb) bbb)). Dies gilt auch dann, wenn in der Person des Rückkehrers keine besonderen begünstigenden Umstände wie erhebliches Vermögen, finanzielle Unterstützung aus dem Ausland oder ein vorbestehendes familiäres bzw. sonstiges soziales Netzwerk in Afghanistan gegeben sind. Der Senat hält damit an der bislang überwiegenden Rechtsprechung insbesondere der Oberverwaltungsgerichte fest (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 18.3.2019, 1 A 198/18.A, juris Rn. 78 ff.; VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 147 ff.; OVG Koblenz, Urt. v. 30.11.2020, 13 A 11421/19, juris Rn. 114 ff., 136; Urt. v. 22.1.2020, 13 A 11356/19, juris Rn. 64 ff.; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 55 f., 96 ff.; VGH München, Beschl. v. 17.12.2020, 13a B 20.30957, juris Rn. 18 ff. m.w.N.; Urt. v. 1.10.2020, 13a ZB 20.31004, juris Rn. 24 m.w.N.; Urt. v. 6.7.2020, 13a B 18.32817, juris Rn. 47; Urteile v. 14.11.2019, 13a B 19.31153, 13a B 19.33508 und 13a B 19.33359, alle juris; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 198 ff.; VG Aachen, Urt. v. 18.9.2020, 7 K 157/20.A, juris Rn. 97; VG Ansbach, Urt. v. 3.9.2020, AN 18 K 17.30328, juris Rn. 59 ff., 63, 84; VG Düsseldorf, Urt. v. 9.3.2021, 25 K 1234/19.A, juris Rn. 243 ff., 286; VG Dresden, Urt. v. 3.3.2021, 11 K 5756/17.A, juris Rn. 41 ff.; eingehend VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 45 ff.; Urt. v. 8.9.2020, A 8 K 10988/17, juris Rn. 36 ff., 57 m.w.N.; VG Karlsruhe, Urt. v. 6.7.2020, A 12 K 9279/18, n.v., UA S. 23 ff., 29 ff.; VG Köln, Beschl. v. 4.3.2021, 21 L 153/21.A, juris Rn. 55 ff., 111; Urt. v. 25.8.2020, 14 K 1041/17.A, juris Rn. 59, 67, 119 ff.; fortgeführt in Urt. v. 10.11.2020, 14 K 4210/17.A, juris Rn. 28, 33, und Urt. v. 8.12.2020, 14 K 4963/17.A, juris Rn. 27, 32; VG München, Beschl. v. 26.1.2021, M 31 S 20.33367, juris Rn. 40; Beschl. v. 23.10.2020, M 18 S 20.32512, juris Rn. 36; Urt. v. 28.9.2020, M 24 K 17.38700, juris Rn. 25 ff.; VG Würzburg, Urt. v. 26.11.2020, W 1 K 20.31152, juris Rn. 39, 45; Urt. v. 2.9.2020, W 1 K 20.30872, juris Rn. 21, 41; so auch noch OVG Bremen, Urt.e v. 12.2.2020, 1 LB 276/19, juris Rn. 55 ff., und 1 LB 305/18, juris Rn. 71 ff.; VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, 11 S 316/17, juris Rn. 391 ff.; Urt. v. 12.12.2018, A 11 S 1923/17, juris Rn. 190 ff.; Urt. v. 26.6.2019, 11 S 2108/18, juris Rn. 105 ff.; Urt. v. 29.10.2019, A 11 S 1203/19, juris Rn. 48, 102; a.A. – für Erfordernis der Feststellung weiterer begünstigender Umstände im Einzelfall – OVG Bremen, Urt. v. 22.9.2020, 1 LB 258/20, juris Rn. 28 ff., 41 ff.; fortgeführt in Urt. v. 24.11.2020, 1 LB 351/20, juris Rn. 28 ff.; 41 ff., und Beschl. v. 1.12.2020, 1 LA 348/20, juris Rn. 5 f.; VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20, juris Rn. 104 ff.; VG Cottbus, Urt. v. 24.2.2021, 9 K 1515/20.A, juris Rn. 45 f.; Urt. v. 9.10.2020, 3 K 1489/16.A, juris Rn. 41 ff.; VG Düsseldorf, GB v. 5.5.2020, 21 K 19075/17.A, juris, Rn. 256 f., 266; VG Freiburg, Urt. v. 22.5.2020, A 10 K 573/17, n.v., UA S. 8 ff.; VG Hamburg, Urt. v. 7.8.2020, 1 A 3562/17, juris Rn. 53 ff., fortgeführt in GB v. 26.2.2021, 1 A 53/19, juris Rn. 30 ff.; VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 21 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 15.5.2020, A 19 K 16467/17, juris Rn. 88 ff., 107; VG Köln, Urt. v. 19.2.2021, 14 K 3838/17.A, juris Rn. 55; VG Lüneburg, Urt. v. 5.2.2021, 3 A 190/16, juris Rn. 53; VG Potsdam, Urt. v. 25.2.2021, 13 K 3478/17.A, juris Rn. 24 f.). Er geht dabei insbesondere davon aus, dass Angehörige der vorgenannten Personengruppe, sofern sie zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr nicht über ein unterstützungsbereites und -fähiges Netzwerk in Afghanistan verfügen, regelhaft jedenfalls in der Lage sein werden, sich ein solches, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Unterkunftssuche im Land typischerweise zumindest sehr bedeutsames Netzwerk innerhalb einer mehrmonatigen Eingewöhnungsphase allmählich aufzubauen. Daneben berücksichtigt er – eigenständig tragend –, dass den zahlreichen und eingehenden Erkenntnisquellen zur humanitären Situation in Afghanistan bzw. Kabul (weiterhin) keine belastbaren Berichte dazu zu entnehmen sind, dass Angehörige der hier relevanten Personengruppe bislang infolge ihrer Rückkehr verelendet sind.

55

Die vorgenannte Vermutung besonderer, für ein Überleben unter den aktuellen humanitären Bedingungen grundsätzlich hinreichender Resilienz kann allerdings im Einzelfall dadurch widerlegt sein, dass individuelle Umstände in der Person des Asylbewerbers durchgreifende Zweifel daran begründen, dass dieser die für ein Überleben in Afghanistan bzw. Kabul erforderliche Anpassungs-, Durchsetzungs- und (auch wirtschaftliche) Durchhaltefähigkeit aufweist (hierzu und zum Folgenden aa) sowie, eingehend, c)). Solche Merkmale bilden neben dem Nichtbeherrschen mindestens einer Landessprache insbesondere das Fehlen einer hinreichenden Sozialisation im Kulturkreis des Herkunftslandes. Bei der ergänzenden Betrachtung individueller Umstände in der Person des jeweiligen Asylbewerbers sind neben solchen für diesen nachteiligen, also gefahrerhöhenden Aspekten auch günstige Umstände berücksichtigungsfähig, welche die allgemeine Vermutung der hinreichenden Anpassungs-, Durchsetzungs- und Durchhaltefähigkeit im Einzelfall bestätigen oder bekräftigen; im Einzelfall können diese günstigen Aspekte auch erschwerende Umstände von geringerem Gewicht aufwiegen. Im Einzelnen:

56

aa) Junge, erwachsene, gesunde und alleinstehende – auch keinen Unterhaltsverpflichtungen unterliegende – afghanische Staatsangehörige sind am Maßstab von Art. 3 EMRK grundsätzlich als Gruppe betrachtbar, deren Angehörige sich von anderen, stärker vulnerablen Gruppen potentieller Rückkehrer durch gemeinsame relevante Merkmale unterscheiden (vgl. zur gruppenbezogenen Betrachtung am Maßstab von Art. 3 EMRK insb. VGH Mannheim, zuletzt Urt. v. 26.6.2019, 11 S 2108/18, juris Rn. 52 ff.; VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 47; OVG Koblenz, Urt. v. 30.11.2020, 13 A 11421/19, juris Rn. 111; VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 70; vgl. auch OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 106). Sie sind regelhaft aufgrund ihres jungen Lebensalters bei gleichzeitiger körperlicher Ausreifung und Fehlen relevanter gesundheitlicher Beeinträchtigungen erwerbsfähig und erforderlichenfalls auch zur Übernahme anstrengender körperlicher Arbeiten imstande, wie sie insbesondere mit Tagelöhnertätigkeiten in Afghanistan verbunden sein können. Aufgrund des Fehlens abhängiger und versorgungsbedürftiger Familienmitglieder sind sie im Falle häufigerer Arbeitsplatz- oder auch Unterkunftswechsel örtlich und zeitlich flexibler und zudem eher in der Lage, wiederkehrende, unter Umständen nicht nur kurzzeitige Einkommenslosigkeit zu kompensieren; erzieltes Einkommen steht ihnen zur Bestreitung allein des eigenen Lebensunterhalts zur Verfügung. Aufgrund ihrer körperlichen und gesundheitlichen Verfassung sowie ihrer persönlichen Umstände weisen sie somit regelhaft eine im Vergleich zu anderen Personengruppen deutlich erhöhte Anpassungs-, Durchsetzungs- und (auch wirtschaftliche) Durchhaltefähigkeit auf, aufgrund derer sie auch unter prekären humanitären Bedingungen einer entsprechend geringeren Gefahr der Verelendung ausgesetzt sind.

57

In diesem Sinne wird in der Rechtsprechung ganz überwiegend zugrunde gelegt, dass junge, gesunde und alleinstehende Männer unter erschwerten humanitären Bedingungen, wie sie derzeit in Afghanistan bzw. Kabul herrschen, ein im Vergleich zu anderen Gruppen von Rückkehrern, wie insbesondere Familien mit minderjährigen Kindern, Familien ohne ein erwachsenes männliches Mitglied sowie ältere oder kranke Menschen, deutlich niedrigeres Maß an Vulnerabilität aufweisen (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 16.8.2019, 1 A 342/18.A, juris Rn. 34 ff.; Urt. v. 18.3.2019, 1 A 198/18.A, juris Rn. 85 ff.; 115 ff.; Urt. v. 3.7.2018, 1 A 215/18.A, juris Rn. 31 ff.; VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 146; VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, 11 S 316/17, juris Rn. 395; Urt. v. 12.12.2018, A 11 S 1923/17, juris Rn. 196; Urt. v. 26.6.2019, 11 S 2108/18, juris Rn. 113; Urt. v. 29.10.2019, A 11 S 1203/19, juris Rn. 47; Urt. v. 3.11.2017, A 11 S 1704/17, juris Rn. 389 ff.; VGH München, Beschl. v. 17.12.2020, 13a B 19.34211, juris Rn. 19 m.w.N., 25; Urt. v. 23.3.2017, 13a B 17.30030, juris Rn. 15 ff. m.w.N.; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 261; VG Aachen, Urt. v. 18.9.2020, 7 K 157/20.A, juris Rn. 97 f. m.w.N.; VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 68; Urt. v. 8.9.2020, A 8 K 10988/17, juris Rn. 54; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 11.5.2020, 5a K 12498/17.A, juris Rn. 79 f. m.w.N.).

58

Die vorgenannte Beobachtung und – darauf sowie auf die Erkenntnisquellenlage gestützt – Vermutung einer besonderen Resilienz junger, gesunder und alleinstehender männlicher Rückkehrer nach Afghanistan setzt allerdings voraus, dass diese über die erforderlichen sprachlichen und sozial-kulturellen Kompetenzen verfügen. Davon kann für Mitglieder dieser Personengruppe, die in aller Regel entweder in Afghanistan oder im Iran als einem kulturell verwandten Land – und dort zudem regelhaft innerhalb eines afghanischen Familienverbandes – aufgewachsen sind, grundsätzlich ausgegangen werden. Stellt es sich im Einzelfall hingegen so dar, dass ein Rückkehrer nicht mindestens eine der in Afghanistan vorherrschenden Landessprachen (Dari, Farsi oder Paschtu) auf alltagsfähigem Niveau beherrscht oder eine hinreichende Sozialisation in den Gebräuchen des Kulturkreises nicht aufweist, so können sich solche Nachteile im Rahmen der Berücksichtigung individueller gefahrerhöhender Umstände durchsetzen (s.u. c)).

59

Der Kläger weist die vorstehend dargestellten Gruppenmerkmale auf: Er ist mit etwa 25 Jahren in jungem Alter, aber bereits erwachsen, seine Erwerbsfähigkeit ist nicht durch physische oder psychische Gesundheitsbeeinträchtigungen eingeschränkt und er hat keine abhängigen Familienmitglieder zu versorgen bzw. unterhalten.

60

bb) Aufgrund der aktuellen Erkenntnisquellenlage ist nicht festzustellen, dass ein Mitglied der vorgenannten Personengruppe im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul infolge der dort bestehenden humanitären Situation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung gerät. Im Ausgangspunkt – hinsichtlich der humanitären Verhältnisse in Afghanistan bzw. Kabul bis zum dortigen Einsetzen der SARS-CoV-2-Pandemie – schließt sich der Senat der Bewertung durch das Oberverwaltungsgericht Münster im Urteil vom 18. Juni 2019 (13 A 3930/18.A, juris) an (hierzu aaa)). Auch unter den derzeitigen Gegebenheiten der SARS-CoV-2-Pandemie ist die allgemeine humanitäre Lage in Afghanistan bzw. Kabul nach aktuellen Erkenntnisquellen weiterhin dahin zu bewerten, dass ein junger, erwachsener, gesunder und alleinstehender Mann regelhaft nicht allein aufgrund seiner Anwesenheit dort in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung gerät (hierzu bbb)).

61

aaa) Hinsichtlich der humanitären Verhältnisse in Afghanistan bzw. Kabul bis zum dortigen Einsetzen der SARS-CoV-2-Pandemie schließt sich der Senat der Würdigung durch das Oberverwaltungsgericht Münster im Urteil vom 18. Juni 2019 (13 A 3930/18.A, juris) auf Grundlage der in dieser Entscheidung berücksichtigten Erkenntnisquellen an.

62

Das Oberverwaltungsgericht Münster (a.a.O., Rn. 195-292) hat ausgeführt, die humanitäre Lage in Afghanistan sei weiterhin prekär. Von Nahrungsmittelunsicherheit – in unterschiedlichem Ausmaß – seien im Jahr 2018 13,5 Millionen Afghanen betroffen oder bedroht gewesen, davon 3,6 Millionen schwerwiegend. In besonderem Maße seien die Bewohner informeller Siedlungen, auch Kabuls, der Nahrungsmittelunsicherheit ausgesetzt. Im Zeitraum 2016/2017 habe rund 54 % der Bevölkerung Afghanistans unterhalb der Armutsgrenze – von seinerzeit etwa 23 EUR monatlichen Einkommens – gelebt, wobei die ländliche Bevölkerung stärker betroffen gewesen sei als die städtische, Haushalte mit zunehmender Größe. Der durchschnittliche Tageslohn einer unausgebildeten, nicht im landwirtschaftlichen Bereich tätigen Arbeitskraft habe in Kabul im Jahr 2018 rund 300 Afghani (AFN) betragen; dem stünden insbesondere in Kabul hohe Lebenshaltungs- und Unterbringungskosten vor dem Hintergrund eines angespannten Wohnungsmarktes gegenüber. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibe eine zentrale Herausforderung, wobei die Arbeitslosenquote für das Jahr 2016 mit bis zu 40 % angegeben werde. Studien zufolge werde Arbeit vielfach nicht nach Qualifikation, sondern traditionell aufgrund persönlicher Beziehungen oder Empfehlungen an Verwandte oder Bekannte vergeben. Die Lage sowohl auf dem Wohnungs- als auch auf dem Arbeitsmarkt werde durch die vor allem in den Städten, insbesondere Kabul, weiterhin in erheblicher Zahl eintreffenden Binnenflüchtlinge und Rückkehrer aus dem Ausland verschärft; gerade die Binnenflüchtlinge lebten dabei zumeist in den informellen Siedlungen. Für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland könne der Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt mit besonderen Schwierigkeiten verbunden sein, da sie aufgrund gesellschaftlicher Wahrnehmungen Benachteiligungen erfahren könnten. Anderseits könnten Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, anders als die übrige Bevölkerung, für eine Übergangszeit verschiedene Unterstützungsmaßnahmen in Anspruch nehmen. Für Rückkehrer aus Deutschland stehe insbesondere finanzielle Unterstützung im Rahmen der Programme REAG/GARP, StarthilfePlus und ERRIN zur Verfügung.

63

Auch in Anbetracht dieser humanitären Verhältnisse sei für den Fall des (dortigen) Klägers allerdings nicht davon auszugehen, dass ein ganz außergewöhnlicher Fall vorliege, in dem humanitäre Gründe einer Abschiebung zwingend entgegenstünden. Die schlechte Versorgungslage wirke sich nämlich für junge männliche alleinstehende Rückkehrer nicht notwendig im gleichen Maße aus wie für vulnerable Gruppen; dies gelte selbst dann, wenn diese Personen in Afghanistan nicht über ein familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk verfügten. Bedeutung komme auch dem Umstand zu, dass trotz der Zahl der in den letzten Jahren aus verschiedenen europäischen Ländern freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrten Personen, darunter überwiegend alleinstehende Männer, den umfangreichen Erkenntnismitteln keine Informationen dahingehend zu entnehmen seien, dass diese in Afghanistan, insbesondere in Kabul, ohne ein soziales Netzwerk nicht wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums bestreiten könnten. Soweit in Erkenntnismitteln das weitere Schicksal alleinstehender Rückkehrer ohne familiäre Unterstützung weiterverfolgt worden sei, erwiesen sich diese Schilderungen aufgrund der geringen Fallzahlen und der Unterschiedlichkeit der einzelnen Befunde als nicht verallgemeinerungsfähig.

64

Der vorgenannten Bewertung schließt sich der Senat im Hinblick auf die Situation bis zum Einsetzen der SARS-CoV-2-Pandemie in Afghanistan – Ende Februar 2020 – auf Grundlage der von dem Oberverwaltungsgericht Münster zugrunde gelegten Erkenntnisquellen aus eigener Überzeugung an.

65

bbb) Auf Grundlage aktueller Erkenntnisquellen (hierzu (1)) ist die humanitäre Lage in Afghanistan bzw. Kabul auch unter den derzeitigen Gegebenheiten der SARS-CoV-2-Pandemie (weiterhin) dahin zu bewerten, dass ein junger, erwachsener, gesunder und alleinstehender Mann regelhaft nicht allein aufgrund seiner Anwesenheit dort in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung gerät (hierzu (2)). In Anbetracht der in das Verfahren eingeführten und im Folgenden in ihren wesentlichen Aussagen dargestellten Erkenntnisquellen, die für die Beurteilung der geltend gemachten Gefahren ausreichen, konnte der Senat den in der mündlichen Verhandlung für den Kläger gestellten Beweisantrag auf Anhörung eines Sachverständigen zu den derzeitigen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnissen in Afghanistan bzw. Kabul unter Berufung auf eigene Sachkunde ablehnen und die Gefährdungsprognose auf der Grundlage einer tatrichterlichen Beweiswürdigung eigenständig vornehmen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.9.2019, 1 B 43.19, juris Rn. 45 f. m.w.N.).

66

(1) In den aktuellen Erkenntnisquellen wird durchgängig davon ausgegangen, dass die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie insbesondere auf die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, die verfügbaren Haushaltseinkommen, die Nahrungsmittelsicherheit und das Gesundheitssystem den humanitären Bedarf Afghanistans und damit die Abhängigkeit des Landes von internationaler Unterstützung weiter erhöht haben (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021 (Stand Dezember 2020), S. 6 ff.; Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 4, 22 f.; World Bank Group, Development Update July 2020, S. 1, 3 ff., 18 f.; Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), COVID-Krise in Afghanistan (Stand Juli 2020), S. 7; SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 143, 152; Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), On Shaky Grounds (Stand November 2020), S. VI, VIII, 1, 8; Samuel Hall Research, COVID-19 in Afghanistan (Stand Juli 2020), S. 2; Afghanistan Analysts Network (AAN)/Byrd, COVID-19 in Afghanistan (8) (Stand 14.10.2020); Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Gefährdungsprofile (Stand 30.9.2020), S. 16). Schon bislang wurde mehr als die Hälfte des afghanischen Staatshaushalts und 75 % aller öffentlichen Ausgaben durch die Finanzhilfen der internationalen Gemeinschaft (für zivile und militärische Zwecke) von jährlich etwa 8,5 Milliarden USD finanziert (vgl. SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 124; Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 152; EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 27). Die Auswirkungen der Pandemie treffen zeitlich mit den Ungewissheiten hinsichtlich der weiteren Entwicklung des Friedensprozesses und der Sicherheitslage (s.o. 1.b)) zusammen, welche die wirtschaftliche Situation des Landes ebenfalls belasten (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 5 f., 22; OCHA, a.a.O., S. 6; World Bank Group, Global Economic Prospects (Stand Januar 2021), S. 95, 99).

67

Die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus in Afghanistan (hierzu im Folgenden unter (a)) in Verbindung mit den Reaktionen durch Staat und Gesellschaft (hierzu (b)) haben erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaftslage (hierzu (c)), die humanitäre Lage im engeren Sinne, wie die Verbreitung von Armut und Nahrungsmittelunsicherheit (hierzu (d)), den Arbeitsmarkt (hierzu (e)), die Lebenshaltungskosten (hierzu (f)) und mittelbar auch auf die Unterkunftssituation (hierzu (g)). Allerdings werden freiwilligen Rückkehrern aus Deutschland nach Afghanistan auch weiterhin – und pandemiebedingt derzeit in erhöhtem Leistungsumfang – Rückkehrhilfen zur Erleichterung der wirtschaftlichen Wiedereinfindung gewährt (hierzu (h)).

68

(a) Nach Feststellung der ersten Fälle von SARS-CoV-2 bzw. COVID-19 in Herat am 24. Februar 2020 wurden im Laufe des Monats März nur wenige weitere Fälle registriert, bevor die Infektionszahlen sodann mit der Zunahme von Rückkehrern insbesondere aus dem Iran und einer Virusausbreitung innerhalb der afghanischen Bevölkerung stark anstiegen (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. 2; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 6). Der wesentliche Infektionsherd verlagerte sich dabei von Herat, wo er sich zu Beginn befunden hatte, auf Kabul (vgl. KAS, COVID-Krise in Afghanistan, S. 2). Die Infektionszahlen erreichten ihren bisherigen Höhepunkt etwa Anfang Juni 2020 und fielen sodann zunächst bis in den späten September wieder stetig ab (vgl. BFA, Afghanistan Country of Origin Information (COI) v. 16.12.2020, S. 12; IOM, Auskunft an BFA v. 23.9.2020, S. 3). Im Wesentlichen im November und Dezember 2020 erfasste eine zweite Pandemiewelle Afghanistan, deren Ausmaß allerdings nicht das Niveau der Infektionszahlen aus dem Frühjahr 2020 erreichte und die im Januar 2021 abklang (vgl. OCHA, COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report (Stand 14.1.2021 – im Folgenden: Operational Situation Report v. 14.1.2021), S. 1; BFA, COI v. 16.12.2020, S. 12; SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 117, 125; Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 143 f.; vgl. auch WHO, Afghanistan Coronavirus Country Dashboard, https://covid19.who.int/region/emro/country/af). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats verzeichnet Afghanistan (noch) keine dritte Pandemiewelle.

69

Bis zum 11. März 2021 sind 55.917 Menschen – in allen 34 Provinzen des Landes – positiv auf COVID-19 getestet worden, offiziell sind 2.451 gestorben und 49.444 werden als genesen angesehen (vgl. hierzu und zum Folgenden OCHA, COVID-19, Strategic Situation Report No. 92 (Stand 11.3.2021 – im Folgenden: Strategic Situation Report v. 11.3.2021), S. 1). Die offiziellen Zahlen zu Infizierten, Genesenen und Verstorbenen gelten allerdings als nicht verlässlich (vgl. KAS, COVID-Krise in Afghanistan, S. 1 f.; BFA, COI v. 16.12.2020, S. 10; AAN/Byrd, COVID-19 in Afghanistan (8)). Es wird vielmehr von einer erheblichen und landesweiten Untererfassung der Infektions- und Todesfälle ausgegangen, die in den beschränkten Kapazitäten des afghanischen Gesundheitssystems, einer verbreiteten Testunwilligkeit Betroffener und dem Fehlen eines landesweiten Sterberegisters begründet liegt (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 6, 22; BAMF, Länderinformation COVID-19-Pandemie (Stand Juni 2020), S. 22; BFA, COI v. 16.12.2020, S. 12; SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 143, 146, 148; FES, On Shaky Grounds, S. 3; Samuel Hall Research, COVID-19 in Afghanistan, S. 2). Für eine erhebliche Untererfassung spricht neben dem Umstand, dass bis zum 11. März 2021 lediglich 314.516 Personen (bei einer Landesbevölkerung von über 30 Millionen) getestet worden sind, die hohe Positivtestrate von nahezu 18 % (vgl. OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 1).

70

Wie ausgeführt, geht die Untererfassung zum einen auf unzureichende Testkapazitäten zurück. Am 11. März 2021 verfügte Afghanistan über 22 einsatzbereite Testlabore mit einer Kapazität von bis zu 8.500 Tests täglich, was gemessen am tatsächlichen Bedarf als unzureichend gilt (vgl. OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 1; SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 147). Die unzureichenden Testkapazitäten wiederum sind auf Engpässe sowohl bei Material als auch Personal zurückzuführen, wobei sich auch die hohe Infektionsrate unter medizinischem Personal – von fast 8 % – negativ auswirkt (vgl. SIGAR, a.a.O., S. 146, 148; OCHA, a.a.O.).

71

Soweit die Untererfassung zum anderen auf einer vielfach fehlenden Bereitschaft, sich einem Test zu unterziehen, beruht, liegt diese neben Unwissenheit vor allem in Sorge vor Infektionen gerade in Gesundheitseinrichtungen und vor sozialer Stigmatisierung mit Nachteilen insbesondere bei der Erwerbstätigkeit begründet (vgl. SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 147 f.; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 24, 37; OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 1; Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 (Stand 27.3.2020), S. 2). Die fehlende Bereitschaft von Infektionsverdächtigen, sich einem Test zu unterziehen, führte im Dezember 2020 – während der zweiten Welle – dazu, dass die Gesamtkapazität von seinerzeit 5.500 - 6.000 Tests täglich mit weniger als 400 täglichen Tests ausgeschöpft wurde (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 85; vgl. auch OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 1).

72

Die tatsächlichen Infektions- und Todeszahlen werden um ein Vielfaches über den offiziellen Angaben geschätzt. Nach einer Studie des Gesundheitsministeriums wiesen bereits zwischen März und Juli 2020 mehr als 30 % der afghanischen Bevölkerung Anzeichen oder Symptome von COVID-19 auf (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 12, 316; SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 118; Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 143; AAN/Byrd, COVID-19 in Afghanistan (8); IOM, Auskunft an BFA v. 23.9.2020, S. 1). Schwerpunkte des Infektionsgeschehens waren und sind die Großstädte (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. 2; SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 143; FEWS NET, Afghanistan Food Security Outlook February to September 2021, S. 2). Für die Stadt Kabul wurde bereits im Juli 2020 vermutet, dass sich mehr als die Hälfte der – etwa 3,5 bis 6 Millionen – Einwohner zwischenzeitlich mit dem Virus infiziert haben könnte (vgl. SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 118; Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 143; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 31, 86; zur Einwohnerzahl Kabuls vgl. EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 12). Die Mehrheit der registrierten Todesfälle bezieht sich auf Männer zwischen 50 und 79 Jahren (vgl. OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 1). Für eine signifikant erhöhte Gefährlichkeit bzw. Letalität von COVID-19 auch unter der jüngeren Bevölkerung Afghanistans bestehen bislang keine Anhaltspunkte (so auch VG Köln, Urt. v. 25.8.2020, 14 K 1041/17.A, juris Rn. 80). Der regelhaft harmlose Krankheitsverlauf wird insbesondere auf das geringe Durchschnittsalter der afghanischen Bevölkerung – diese ist zu 40 % unter 15 Jahren, zu mindestens 60 % unter 25 Jahren – zurückgeführt (vgl. KAS, COVID-Krise in Afghanistan, S. 3; BFA, COI v. 16.12.2020, S. 300).

73

Hinsichtlich der Verbreitung von Virusmutationen in Afghanistan bestanden Anfang März 2021 seitens der WHO lediglich Verdachte (vgl. hierzu und zum Folgenden OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 1; vgl. auch OCHA, Operational Situation Report v. 18.2.2021, S. 1, 5). Zu diesem Zeitpunkt waren im Rahmen einer beginnenden Impfkampagne bereits 968.000 Impfdosen im Land eingetroffen, weitere Lieferungen insbesondere im Rahmen des COVAX-Programms wurden erwartet.

74

(b) Eine wirksame Eindämmung des Infektionsgeschehens durch Staat und Gesellschaft ist (auch) in Afghanistan bislang nicht gelungen.

75

Ab Mitte März 2020 ordneten die Behörden in einigen Großstädten Eindämmungsmaßnahmen wie insbesondere Abstandspflichten an (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. 2). Ab Ende März galt (formell) ein landesweiter Lockdown. Dieser umfasste neben Ausgangsbeschränkungen insbesondere die Schließung nicht systemrelevanter Geschäfte und Betriebe sowie öffentlicher Einrichtungen (insb. Schulen und Universitäten), ein Verbot von Ansammlungen, Einschränkungen der Personenbeförderung, insbesondere zwischen Städten und Provinzen, und die Einstellung inländischer Flugverbindungen (vgl. BAMF, Länderinformation COVID-19-Pandemie, Juni 2020, S. 23; BFA, Kurzinformation COVID-19 v. 21.7.2020, S. 3; FES, On Shaky Grounds, S. 3). Am 25. März 2020 wurden die Grenzen zu den für Handel und Verkehr wichtigen Nachbarländern Iran und Pakistan geschlossen (vgl. Schwörer, Gutachten v. 30.11.2020 für den VGH Baden-Württemberg in den Verfahren A 11 S 2091/20 und A 11 S 2042/20 (im Folgenden: Gutachten), S. 3). Während des Lockdowns waren auch günstige Unterkünfte wie die sog. Teehäuser in afghanischen Städten geschlossen (vgl. Schwörer, a.a.O., S. 12; BAMF, a.a.O.; BFA, a.a.O.). Dem Appell der Regierung an die Taliban, im Interesse der Pandemiebekämpfung einen „humanitären Waffenstillstand“ einzuhalten, sind diese – bei einer gewissen Kooperationsbereitschaft mit Hilfsorganisationen – im Wesentlichen nicht nachgekommen (vgl. AAN/Byrd, COVID-19 in Afghanistan (8); KAS, COVID-Krise in Afghanistan, S. 5 f.).

76

Die Eindämmungsmaßnahmen im Rahmen des Lockdowns werden von internationalen Beobachtern als wenig effektiv angesehen, da sie durch die Bevölkerung vielfach nicht beachtet und durch die Behörden nicht konsequent umgesetzt worden sind (vgl. BFA, Kurzinformation COVID-19 v. 21.7.2020, S. 2; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 55; KAS, COVID-Krise in Afghanistan, S. 1, 4). Obgleich sich der afghanische Staat mit Hilfe internationaler Hilfsorganisationen seit Beginn der Pandemie durch Informationskampagnen darum bemüht, die Gefahren der Krankheit und die notwendigen Schutzmaßnahmen bekanntzumachen (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 12), wird die Bereitschaft bzw. Fähigkeit der afghanischen Gesellschaft zur Befolgung von Eindämmungsmaßnahmen wie Maskenpflicht, Abstandsgebot, Ausgangsbeschränkungen und Quarantänepflichten regelhaft als gering beschrieben (vgl. SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 125; Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 144; OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 1; BFA, Kurzinformation COVID-19 v. 21.7.2020, S. 2; Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2, S. 1). Tatsächlich dürften insbesondere die Ausgangsbeschränkungen aus einer gewissen Notwendigkeit heraus missachtet worden sein, nämlich zur Fortsetzung von Erwerbstätigkeit, insbesondere durch Tagelöhner, und Lebensmittelbeschaffung (vgl. SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 126; Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 148; Schwörer, Gutachten, S. 12 m. Fn. 6; KAS, a.a.O., S. 4; FES, On Shaky Grounds, S. 3; Mashal, Waiving Rent and Making Masks, New York Times v. 31.3.2020). Quarantänemaßnahmen konnten in den Städten nur teilweise, in städtischen Randgebieten und ländlichen Gebieten kaum durchgesetzt werden (vgl. KAS, a.a.O., S. 3). Wirksame häusliche Abschottung ist aufgrund der beengten räumlichen Verhältnisse, in denen die meisten Afghanen leben, ohnehin nur schwer möglich (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 12; FES, a.a.O., S. 3; Stahlmann, a.a.O., S. 3). Tests auf SARS-CoV-2, die Meldung von Symptomen bzw. einer Erkrankung und die Vorstellung in Gesundheitseinrichtungen zur Behandlung werden vielfach aus Sorge vor Infektion oder sozialer Stigmatisierung vermieden (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 17, 24; OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 1; vgl. auch Samuel Hall Research, COVID-19 in Afghanistan, S. 3; OCHA, Afghanistan Humanitarian Response Plan 2018 - 2021, 2020 mid-year revision (Stand Juni 2020), S. 16).

77

Der landesweite Lockdown wurde durch die Regierung am 6. Juni 2020 formell für drei weitere Monate verlängert, faktisch wurden die Beschränkungen jedoch nicht oder kaum mehr durchgesetzt (vgl. OCHA, C-19 Access Impediment Report, 1 July to 24 August 2020 (Stand: 24.8.2020), S. 1; BFA, Kurzinformation COVID-19 v. 21.7.2020, S. 2). Aufgrund der geringen Wirksamkeit des ersten Lockdowns wird erwartet, dass die Regierung auch im Falle erneuter Zuspitzungen des Infektionsgeschehens eine solche Maßnahme nicht wiederholen wird (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 55; Schwörer, Gutachten, S. 12; IPC Acute Food Insecurity Analysis August 2020 - March 2021 (Stand November 2020), S. 3). Geschäfte und – mit temporären Einschränkungen – öffentliche Einrichtungen sind seither wieder geöffnet (vgl. OCHA, C-19 Access Impediment Report v. 24.8.2020, S. 1). Gegenwärtig gelten insbesondere in Kabul keine Ausgangsbeschränkungen (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 12; Schwörer, Anhörung durch den VGH Mannheim in der mündlichen Verhandlung v. 15.12.2020 in den Verfahren A 11 S 2042/20, A 11 S 2091/20, Anlage zum Sitzungsprotokoll (im Folgenden: Anhörung), S. 1; vgl. auch OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 1 ff.). Auch die Landesgrenzen sind geöffnet und es bestehen internationale Flugverbindungen mit Afghanistan (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 14 f.; OCHA, a.a.O., S. 3). Während im Frühjahr 2020 zeitweise auch pandemie- bzw. eindämmungsmaßnahmenbedingte Einschränkungen bei der Mobilität von Hilfsorganisationen und dem ungehinderten Zugang zu Hilfsbedürftigen herrschten, wird dies für den Zeitraum seit Juli 2020 nicht mehr berichtet (vgl. OCHA, C-19 Access Impediment Report v. 24.8.2020, S. 1; BFA, Kurzinformation COVID-19 v. 21.7.2020, S. 2).

78

(c) Die Wirtschaftslage in Afghanistan hat sich im Jahr 2020 durch die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie erheblich verschlechtert.

79

Bereits vor Einsetzen der Pandemie handelte es sich bei Afghanistan um eine schwach industrialisierte, noch stark durch die Landwirtschaft geprägte Volkswirtschaft, die zwar infolge des Bedarfs durch internationale Truppen und NGO zwischen 2003 und 2013 jährlich hohe Wachstumsraten – um 9% – aufgewiesen hatte, deren Wachstum jedoch seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Jahr 2014 stagnierte (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. 3; BFA, COI v. 16.12.2020, S. 300; Schwörer, Gutachten, S. 15). 2019 lag das Wirtschaftswachstum Afghanistans bei ca. 2,9 % (vgl. World Bank Group, a.a.O., S. II, 3; Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 22). Es wird davon gesprochen, das Wirtschaftswachstum des Landes werde durch die hohen Geburtenraten – das Bevölkerungswachstum beträgt rund 2,7 % jährlich – absorbiert (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O.).

80

Mit Blick auf die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die afghanische Wirtschaft, insbesondere infolge von Grenzschließungen und Ausgangsbeschränkungen, gehen die Quellen durchgängig davon aus, dass die Pandemie für Afghanistan im Jahr 2020 zu einer Rezession geführt hat (vgl. nur Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 22; World Bank Group, Development Update July 2020, S. II, 3; World Bank Group, Global Economic Prospects, Januar 2021, S. 100; EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 23; BFA, COI v. 16.12.2020, S. 14, 300; SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 43). Für 2020 wird von einem Rückgang des realen Bruttoinlandsproduktes um 5,5 bis 7,4 % ausgegangen, der maßgeblich auf die Auswirkungen des Lockdowns auf die Bereiche Dienstleistung und produzierendes Gewerbe zurückzuführen ist (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. III, 15; World Bank Group, Global Economic Prospects, a.a.O.; Auswärtiges Amt, a.a.O.).

81

Vor dem Hintergrund des ohnehin erheblichen Außenhandelsdefizits Afghanistans (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. III, 9 (30 % in 2019); SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 124; Schwörer, Gutachten, S. 14) ist die afghanische Wirtschaft im Jahr 2020 insbesondere durch die zur Pandemiebekämpfung zeitweise geschlossenen Landesgrenzen, welche Exporte hinderten, belastet worden. Dies gilt vor allem für die Schließung der Grenze zu Pakistan, über welche die Lieferungen nach Indien als dem wichtigsten Exportzielland Afghanistans abgewickelt werden (vgl. KAS, COVID-Krise in Afghanistan, S. 3; World Bank Group, a.a.O., S. 9 f.). Neben Industrie und Exportwirtschaft haben die verhängten Eindämmungsmaßnahmen vor allem den Dienstleistungssektor stark getroffen (vgl. World Bank Group, a.a.O., S. II, 2; Schwörer, a.a.O., S. 15; AAN/Byrd, COVID-19 in Afghanistan (8)). Die Landwirtschaft ist durch die Pandemiesituation weniger beeinträchtigt worden und konnte sich aufgrund günstiger Wetterbedingungen auch von den Auswirkungen der Dürre des Jahres 2018 erholen (vgl. Schwörer, a.a.O.; vgl. auch World Bank Group, a.a.O., S. II, III, 3, 15). Allerdings wird für das Jahr 2021 aufgrund eines niederschlagsarmen Winters und Frühjahrs eine unterdurchschnittliche Ernte erwartet (vgl. OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 2, 3; FEWS NET, Afghanistan Food Security Outlook February to September 2021, S. 1, 5, 7 f.).

82

Die Weltbank hat ihre im Juli 2020 getroffene Prognose, die afghanische Volkswirtschaft werde im Jahr 2021 ein Wachstum von lediglich ca. 1 % erfahren, im Januar 2021 angepasst und prognostiziert nunmehr ein Wachstum von 2,5 % in 2021 und von 3,3 % in 2022, wobei die Möglichkeit weiterer Pandemiewellen und einer stockenden Impfkampagne in gewissem Umfang berücksichtigt ist (vgl. hierzu und zum Folgenden World Bank Group, Development Update July 2020, S. III f., 15; World Bank Group, Global Economic Prospects, Januar 2021, S. 95 ff.). Sie geht allerdings davon aus, dass die wirtschaftliche Erholung Afghanistans mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird, und berücksichtigt dabei, dass das Klima für Neuinvestitionen durch Unsicherheiten in Bezug auf die weitere politische Entwicklung, die anhaltend volatile Sicherheitslage und Fragen betreffend die Fortsetzung internationaler Unterstützung geprägt sein wird.

83

(d) Die humanitäre Situation der afghanischen Bevölkerung ist seit Einsetzen der Pandemie – in gesteigertem Maß – durch einen Rückgang der Haushaltseinkommen mit der Folge wachsender Armut und steigender Verschuldung (hierzu (aa)), eine Zunahme von Kriminalität (hierzu (bb)) und Nahrungsmittelunsicherheit (hierzu (cc)) sowie einen Anstieg der Lebensmittelpreise (hierzu (dd)) gekennzeichnet. Derweil hält der Zustrom von Rückkehrern aus dem benachbarten Ausland, insbesondere dem Iran, weiter an (hierzu (ee)). Internationale Organisationen, die afghanische Regierung und auch die Zivilgesellschaft sind bemüht, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken (hierzu (ff)).

84

(aa) Die staatlich verhängten Eindämmungsmaßnahmen des Frühjahrs 2020 haben im Wege eingeschränkter Erwerbstätigkeit und erhöhter Lebenshaltungskosten bzw. Nahrungsmittelpreise zu einer Verringerung der verfügbaren Haushaltseinkommen geführt (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. 20; OCHA, Afghanistan Humanitarian Response Plan 2018 - 2021, 2020 mid-year revision, S. 5, 13; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 6; SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 124). Das Ausmaß dieser Verringerung der Haushaltseinkommen im Jahr 2020 wird auf landesweit zwischen 6 und 25 % geschätzt, wobei die Auswirkungen auf städtische Haushalte größer sind (vgl. World Bank Group, a.a.O., S. 22). Allerdings sind im Laufe des Sommers 2020 die Arbeitslöhne, auch für Tagelöhner, wieder gestiegen, die Lebensmittelpreise wieder gesunken (vgl. SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 145; hierzu noch im Folgenden (dd) und (e)).

85

Zu der Verringerung der verfügbaren Haushaltseinkommen hat beigetragen, dass aufgrund der prekären Situation der iranischen Volkswirtschaft – bei gleichzeitiger Rückkehr vieler bislang im Iran arbeitender Afghanen in ihr Heimatland – der Umfang der Auslandsüberweisungen („remittances“) aus dem Iran nach Afghanistan im Jahr 2020 stark zurückgegangen ist (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. II; Samuel Hall Research, COVID-19 in Afghanistan, S. 4; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 14, 47; SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 153). Auf solche Auslandsüberweisungen sind landesweit zwar weniger als 5 %, in bestimmten Regionen jedoch mehr als 20 % der afghanischen Haushalte angewiesen (vgl. World Bank Group, a.a.O., S. 20; Schwörer, Gutachten, S. 17). Das Ausmaß des Rückgangs im Jahr 2020 dürfte etwa 40 % des Vorjahresniveaus betragen haben (vgl. World Bank Group, a.a.O., S. II; OCHA, a.a.O., S. 14). Die Zahl der Afghanen, deren Einkommen zur Hälfte oder mehr auf Auslandsüberweisungen oder anderen vulnerablen Einkommensquellen basiert, wird landesweit auf 15 Millionen, innerhalb Kabuls auf 2,9 Millionen geschätzt (vgl. World Bank Group, a.a.O., S. 21; EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 36).

86

Das Zusammentreffen von verringerten Einkünften und insbesondere gestiegenen Nahrungsmittelpreisen führt dazu, dass Privathaushalte sich zunehmend verschulden (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 13; OCHA, Strategic Situation Report v. 11.3.2021, S. 2). In einer Umfrage im Rahmen des ERM-Geldspendenprogrammes aus dem September/Oktober 2020 unter afghanischen Haushalten – überwiegend Binnenvertriebene – gaben 85 % der Befragten an, verschuldet zu sein, wobei 64 % als Grund der Verschuldung den Kauf von Nahrungsmitteln nannten (vgl. ERM, ERM 10 Multi-Purpose Cash Assistance Nationwide Post-Distribution Monitoring, Oktober 2020, S. 1 ff.). Neuere Umfragen gehen davon aus, dass Verschuldung unter nicht binnenvertriebenen Haushalten noch weiter verbreitet ist (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 13, 42).

87

Vor dem Hintergrund der genannten ökonomischen Entwicklungen geht die Weltbank von einem Anstieg des Anteils der Afghanen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, auf ungünstigstenfalls bis zu 72 % im Jahr 2020 aus (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. II, III, 20 ff.; vgl. auch Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 22 (80% laut „humanitären Geberkreisen“)). Während die Armutsgrenze in Afghanistan noch vor einigen Jahren bei ca. 1,25 USD verortet wurde, wird sie aufgrund zwischenzeitlicher Preisanstiege – auch pandemiebedingt im Bereich von Lebensmitteln – nunmehr etwas unterhalb von 2 USD/Tag angenommen (vgl. Schwörer, Gutachten, S. 13 (1,90 USD); Omid, Ministry confirms 90 % of Afghans Live Below Poverty Line, Tolonews-Meldung v. 20.7.2020; IOM, Auskunft an BFA v. 23.9.2020, S. 3; vgl. auch VG Köln, Urt. v. 25.8.2020, 14 K 1041/17.A, juris Rn. 94). OCHA (Humanitarian Needs Overview 2021, S. 10 f.) geht davon aus, dass im Jahr 2021 etwa 93 % der afghanischen Bevölkerung von weniger als 2 USD/Tag leben werden, was der Armutsgrenze nahekommt.

88

Von Armut bedroht sind dabei insbesondere städtische Haushalte, deren Erwerbstätigkeit durch Lockdown-Maßnahmen betroffen wird, wie Einzelhandel und Tagelöhnertätigkeit (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. 5, 20; SFH, Gefährdungsprofile v. 30.9.2020, S. 16). Von diesen Formen der Erwerbstätigkeit sind landesweit schätzungsweise 15 Millionen Menschen abhängig, davon etwa 30 % in Städten, wo solche Eindämmungsmaßnahmen in der Vergangenheit verhängt worden sind (vgl. World Bank Group, a.a.O., S. 5; OCHA, Afghanistan Humanitarian Response Plan 2018 - 2021, 2020 mid-year revision, S. 13). Ein wesentlicher Faktor, der zur Unterschreitung der Armutsgrenze führt, ist regelhaft die Anzahl von Haushaltsmitgliedern, die von einem Einkommen abhängen (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 301; EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 36). Nach dem landesweiten Zensus 2016/17 umfasst ein städtischer Haushalt in Afghanistan durchschnittlich 7,3 Mitglieder (vgl. EASO, a.a.O., S. 60). Unter Rückkehrern nach Afghanistan ist dieser Wert noch höher, er beträgt durchschnittlich 9,6 Haushaltsmitglieder, von denen mehr als die Hälfte höchstens 16 Jahre ist (vgl. EASO, a.a.O., S. 64). Daneben ist Armut in Afghanistan jahreszeitabhängig, da während der Wintermonate erhöhte Lebenshaltungskosten, insbesondere für Lebensmittel, mit verschlechterten Einkommensmöglichkeiten zusammentreffen (vgl. EASO, a.a.O., S. 37).

89

(bb) Wenngleich offizielle Statistiken hierzu nicht bestehen, nehmen Beobachter im Land eine Zunahme von armutsbedingter Kriminalität insbesondere in den Städten wahr (s.o. 1.b); vgl. FES, On Shaky Grounds, S. 7, 13; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 15). Insbesondere von einer Zunahme des Drogenhandels wird berichtet (vgl. FES, a.a.O., S. 7). Humanitäre Hilfsorganisationen befürchten zudem eine verbreitete Zunahme von „negativen Coping-Strategien“, die von der Veräußerung schwer zu ersetzender Güter bis zu Kinderarbeit oder der Zwangsverheiratung von Mädchen unter dem gesetzlichen Mindestalter reichen (vgl. OCHA, a.a.O., S. 7, 43; EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 15).

90

(cc) In Bezug auf das Ausmaß der Nahrungsmittelunsicherheit wird die Situation unter Pandemiebedingungen im Jahr 2020 von Seiten humanitärer Hilfsorganisationen mit derjenigen verglichen, die während der Dürreperiode im Jahr 2018 geherrscht hat (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 6, 34, 81; BFA, COI v. 16.12.20, S. 13). Im Rahmen der von Hilfsorganisationen zur Bestimmung des Ausmaßes von Nahrungsmittelunsicherheit verwendeten Integrated Food Security Phase Classification (IPC) wird erwartet, dass sich im Zeitraum von November 2020 bis März 2021 in Afghanistan insgesamt rund 13,15 Millionen Menschen einem Grad akuter Nahrungsmittelunsicherheit (IPC-Stufen 3 oder höher) ausgesetzt könnten, davon rund 4,3 Millionen in Stufe 4 (Notfall) und rund 8,85 Millionen in Stufe 3 (Krise) (vgl. hierzu und zum Folgenden IPC Acute Food Insecurity Analysis August 2020 - March 2021 (Stand November 2020), S. 1 ff.; vgl. auch OCHA, Afghanistan Humanitarian Response Plan 2018 - 2021, 2020 mid-year revision, S. 13). Von Seiten anderer NGO wird die Zahl derer, die sich bis März 2021 voraussichtlich in akuter Nahrungsmittelunsicherheit befinden werden, mit bis zu 16,9 Millionen Menschen angegeben (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 7, 34, 81; OCHA, Operational Situation Report v. 14.1.2021, S. 2, 7). Die Stadt und die Provinz Kabul werden sich den Prognosen zufolge jedenfalls bis März 2021 in Stufe 3 befinden (vgl. IPC, a.a.O., S. 9). Der auf den Stufen 3 und 4 bestehende Grad akuter Nahrungsmittelunsicherheit bedeutet nach der IPC-Klassifikation, dass diese Menschen als zur Sicherstellung ihrer Ernährung dringend humanitärer Hilfsleistungen bedürftig gelten (vgl. auch VG Freiburg, Urt. v. 8.9.2020, A 8 K 10988/17, juris Rn. 46). Grund für die derzeit bestehende Nahrungsmittelunsicherheit ist regelhaft nicht die fehlende Verfügbarkeit von Grundnahrungsmitteln im Land, sondern ein unzureichendes Haushaltseinkommen (vgl. IPC, a.a.O., S. 3; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 83; Samuel Hall Research, COVID-19 in Afghanistan, S. 4). Allerdings ist ihr Ausmaß grundsätzlich höher in armen und zudem unzugänglichen Gebieten wie dem zentralen Hochland Afghanistans (vgl. OCHA, Operational Situation Report v. 14.1.2021, S. 7). In Umfragen unter afghanischen Haushalten im Laufe des Sommers 2020 gab rund die Hälfte der Befragten an, weniger Lebensmittel als gewöhnlich einzukaufen, wobei diese Einschränkung unter Binnenvertriebenen drängender erscheint (vgl. Samuel Hall Research, COVID-19 in Afghanistan, S. 4; vgl. auch EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 41).

91

Allerdings hat die Regierung im November 2020 mit der Durchführung eines Hilfsprogramms (Dastarkhan-e-Milli, „Nationale Tafel“) begonnen, in dessen Rahmen in einer ersten Verteilungsrunde Versorgungspakete (als Sach- oder Geldspenden) an bis zu 90 % der afghanischen Haushalte ausgegeben werden; in einer zweiten Verteilungsrunde sollen zusätzliche Sach- oder Geldspenden in städtischen Gebieten folgen. Bei sach- und zeitgerechter Durchführung wird erwartet, dass diese Hilfen die Nahrungsmittelunsicherheit für viele Haushalte von IPC-Stufe 3 (Krise) auf Stufe 2 (angespannt) verringern (vgl. FEWS NET, Food Security Outlook Update December 2020, S. 1, 3, 4; FEWS NET, Food Security Outlook, February to September 2021, S. 3; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 46).

92

Im Übrigen wird, auch wenn für das Jahr 2021 aufgrund eher geringer Niederschlagsmengen in der Anbauphase das Risiko einer unterdurchschnittlichen Ernte besteht (s.o. (c)), grundsätzlich davon ausgegangen, dass mit dem Eingang der ersten Ernten im Mai/Juni 2021 eine saisontypische Verbesserung der Nahrungsmittelsicherheit eintreten wird (vgl. FEWS NET, Food Security Outlook February to September 2021, S. 1, 8 f.).

93

(dd) Nachdem die Lebensmittelpreise im Frühjahr 2020 pandemiebedingt, nämlich infolge von Grenzschließungen, Hamsterkäufen und opportunistischem Händlerverhalten, um – je nach Artikel – bis zu 30 % gestiegen waren, sind diese Preise im weiteren Jahresverlauf wieder gesunken und haben sich zumeist oberhalb des Vorkrisenniveaus stabilisiert (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. II, 4 f.; SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 118; Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 145; Schwörer, Gutachten, S. 12; BFA, Kurzinformation COVID-19 v. 21.7.2020, S. 5; FEWS NET, Afghanistan Food Security Outlook February to September 2021, S. 2 f.). Die Regierung hatte auf die Preisanstiege des Frühjahrs 2020 durch die Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, durch Preisbeschränkungen und die Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmitteleinfuhren reagiert (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 13, 304; IOM, Auskunft an BFA v. 23.9.2020, S. 6).

94

Ende Februar 2021 lagen die Preise der wichtigsten Grundnahrungsmittel in einem Bereich von rund 9 % (bzgl. hochwertigem Reis), 15 % (bzgl. Weizenmehl), 22 - 26 % (bzgl. Zucker, Rohweizen und Hülsenfrüchten) und vereinzelt auch 55 % (bzgl. Speiseöl) über dem Niveau von Mitte März 2020, als die steigernden Auswirkungen der Pandemie auf das Lebensmittelpreisniveau einsetzten (vgl. WFP/vam, Afghanistan, Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 42 v. 3.2.2021, S. 1). Bei diesem Preisniveau handelt es sich allerdings um eine Spätwintersituation, zu der im Januar und Februar 2021 zudem Lieferhindernisse auf dem Landweg beigetragen haben; die vorgenannten Preise liegen vor diesem Hintergrund um ca. 5 % (Weizen(mehl)), 14 % (Hülsenfrüchte) und 19 % (Speiseöl) über dem Niveau von Ende November 2020 (vgl. WFP/vam, a.a.O., S. 2 ff.; Issue 29 v. 2.12.2020, S. 1; Issue 38 v. 3.2.2021, S. 1 ff.; FEWS NET, Afghanistan Food Security Outlook February to September 2021, S. 2 f.). Auch der Lebensmitteleinkauf des afghanischen Staates im Rahmen des Hilfsprogrammes „Dastarkhan-e-Milli“ zur Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung bedürftiger Haushalte (s.o. (cc)) hat im Winter 2020/2021 zu dem Anstieg der Preise einiger Grundnahrungsmittel, etwa von Speiseöl, beigetragen (vgl. FEWS NET, a.a.O., S. 3). Die Kosten eines typischen Warenkorbes mit Grundnahrungsmitteln (Weizenmehl, Reis, Speiseöl, Hülsenfrüchte und Zucker) lagen im Januar 2021 um ca. 17 % über dem Vierjahresdurchschnitt (vgl. FEWS NET, a.a.O.).

95

(ee) Die humanitäre Situation im Land, vor allem die Konkurrenz um Erwerbsmöglichkeiten und Unterkünfte, wird weiterhin durch den Zustrom großer Zahlen von Auslandsrückkehrern, insbesondere aus dem Iran und Pakistan, verschärft. Im Laufe des Jahres 2020 sind allein aus dem Iran mehr als 850.000 Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt (vgl. IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report, 20.-31.12.2020, S. 1; SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 113), wobei allerdings die Mehrheit der Rückkehrer aus dem Iran, soweit es sich bei ihnen nicht ohnehin um „zirkuläre“ Migration handelt, typischerweise in die westlichen Provinzen Afghanistans strebt (vgl. Finnish Immigration Service (FIS), Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 10, 20). Wenngleich Kabul grundsätzlich als eines der Hauptziele für Rückkehrer nach Afghanistan und Binnenvertriebene gilt (vgl. EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 18), gaben afghanische Rückkehrer aus dem Iran im Rahmen von Befragungen durch den UNHCR an Grenzübergängen im November und Dezember 2020 zu rund 94 % an, sich zur Arbeitssuche in ihre jeweilige Heimatregion begeben zu wollen, mehr als 80 % gaben an, in ein vorhandenes Eigenheim zurückzukehren (vgl. UNHCR, Border Monitoring Update 13. bis 19.12.2020, S. 5; Border Monitoring Update 4. bis 14.11.2020, S. 5; vgl. auch EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 31). Hilfsorganisationen stellen sich darauf ein, dass im Jahr 2021 ca. 654.000 Menschen aus Nachbarländern nach Afghanistan zurückkehren werden (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 57, 64).

96

(ff) In Reaktion auf die humanitären Auswirkungen der Pandemie im Land entfalten internationale Organisationen, die afghanische Regierung und auch die dortige Zivilgesellschaft erhebliche Anstrengungen. Der derzeit geltende, im Herbst 2019 bekannt gegebene Humanitäre Reaktionsplan für Afghanistan des Amtes für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) der Vereinten Nationen (VN) ist im Sommer 2020 in Reaktion auf die Pandemie angepasst und erweitert worden (vgl. OCHA, Afghanistan Humanitarian Response Plan 2018 - 2021, 2020 mid-year revision, S. 5 ff.).

97

Im Hinblick auf die Pandemielage sind Zuschüsse der internationalen Gemeinschaft an die afghanische Regierung im Jahr 2020 um dreistellige Millionenbeträge (in USD) erhöht worden, wodurch auch Steuermindereinnahmen des afghanischen Staates ausgeglichen werden konnten (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. III, 15; FES, On Shaky Grounds, S. 4; SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 147). Der Gesamtumfang der Finanzhilfen internationaler Organisationen aus Anlass der SARS-CoV-2-Pandemie in Afghanistan wird auf deutlich mehr als 1,5 Milliarden USD geschätzt, wobei insbesondere die Beiträge der Weltbank – deren Hilfen allein sich auf ca. 1,1 Milliarden USD belaufen – und des Internationalen Währungsfonds herausstechen (vgl. AAN/Byrd, COVID-19 in Afghanistan (8); vgl. auch SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 65). Beobachter weisen allerdings darauf hin, dass es sich bei erheblichen Anteilen der nunmehr zur Pandemiebekämpfung zur Verfügung gestellten Finanzmittel um bereits zu anderen Hilfszwecken oder für spätere Zeiträume zugesagte und nunmehr zur Pandemiebekämpfung umgewidmete bzw. zeitlich vorverlagerte Hilfen handelt, die zukünftig in anderen Bereichen fehlen könnten (vgl. AAN/Byrd, a.a.O.).

98

Die internationale Staatengemeinschaft hat sich auf der Genfer Konferenz vom 23./24. November 2020 zu weiteren Zahlungen im Umfang von 3,3 Milliarden USD für 2021 verpflichtet und entsprechende Beträge bis einschließlich 2024 in Aussicht gestellt (vgl. SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 23, 117, 122; Schwörer, Gutachten, S. 20; BAMF, Briefing Notes v. 30.11.2020, S. 3). Die Bundesregierung hat einen Beitrag von bis zu 430 Millionen EUR für 2021 und weitere Beiträge auf entsprechendem Niveau bis 2024 angekündigt (vgl. Schwörer, a.a.O., S. 21). Die bis einschließlich 2024 insgesamt verfügbaren Mittel von bis zu 13,2 Milliarden USD werden aber voraussichtlich um ca. 2 Milliarden USD unter dem Niveau des vorangehenden Vierjahreszeitraums liegen und werden von Weltbank-Analysten als „Minimum des Erforderlichen“ angesehen (vgl. SIGAR, a.a.O., S. 23, 117, 122).

99

Neben Finanzhilfen wendet die internationale Gemeinschaft Afghanistan auch in erheblichem Umfang Lebensmittel- und sonstige Sachspenden zu. Insbesondere das World Food Programme (WFP) der VN hat allein im November 2020 rund 4.200 t Lebensmittel in Afghanistan angeliefert und rund 9.000 t Lebensmittel zur Verteilung im Land an Partnerorganisationen übergeben (vgl. WFP, Country Brief Afghanistan November 2020, S. 2). WFP ist daneben auch weiterhin durch Projekte zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Infrastruktur Afghanistans aktiv, in deren Rahmen in erheblichem Umfang einkommensschwache und durch Nahrungsmittelunsicherheit bedrohte Menschen entgeltlich beschäftigt werden („cash for work“, vgl. WFP, a.a.O., S. 1; vgl. auch OCHA, Afghanistan Humanitarian Response Plan 2018 - 2021, 2020 mid-year revision, S. 22). Nach Ausweitung seines Engagements beabsichtigt WFP, im Jahr 2021 rund 13,9 Millionen Menschen in Afghanistan mit Lebensmittelspenden im Umfang von 320.000 t und 67 Millionen USD an finanzieller Unterstützung zu versorgen (vgl. WFP, a.a.O., S. 2; vgl. auch FEWS NET, Afghanistan Food Security Outlook February to September 2021, S. 7).

100

Mit der Unterstützung internationaler Organisationen hat sich insbesondere der afghanische Staat bislang stark um die Bekämpfung der Pandemie und die Linderung ihrer humanitären Auswirkungen bemüht. Staatliche Investitionstätigkeit in anderen Bereichen ist im Jahr 2020 in erheblichem Umfang in die Bereiche Pandemiebekämpfung und Gesundheitswesen umgeleitet worden (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. 14; OCHA, Afghanistan Humanitarian Response Plan 2018 - 2021, 2020 mid-year revision, S. 22). Zur Minderung der humanitären Auswirkungen des Lockdowns im Frühjahr 2020 verteilte die Regierung in mehreren Städten, darunter in Kabul, kostenlos Brot an bedürftige Haushalte, wodurch in 40 Tagen 15 Millionen Brotlaibe verteilt wurden (vgl. Asia Foundation, Afghanistan’s COVID-19 Bargain (Stand 24.6.2020)). Im November 2020 hat die Regierung mit der Durchführung eines Hilfsprogramms zur Verteilung von Versorgungspaketen an bis zu 90 % der afghanischen Haushalte begonnen, um die Nahrungsmittelunsicherheit für viele Haushalte von IPC-Stufe 3 (Krise) auf jedenfalls Stufe 2 (angespannt) zu verringern (s.o. (cc)). Auch hat die Regierung auf den Anstieg der Arbeitslosigkeit infolge der Eindämmungsmaßnahmen durch Strukturmaßnahmen wie Beschäftigungsprogramme („cash for work“) reagiert, beispielsweise hat sie mehr als 40.000 Arbeitslose im Rahmen von Arbeiten zur Erweiterung der Wasserversorgung von Kabul angestellt, wobei die Beschäftigten einen Tageslohn von mindestens 3,90 USD erhalten; das Programm ist auf eine Dauer von einem Jahr angelegt (vgl. Hassib, Afghanistan Uses Green Stimulus to Hire Lockdown Jobless, Reuters-Meldung v. 25.6.2020).

101

Hilfen zur Linderung der humanitären Situation unter Pandemiebedingungen kommen nicht nur von Seiten internationaler Hilfsorganisationen und der Regierung, sondern auch aus der afghanischen Zivilgesellschaft. Als Beispiel für eine Kultur der Hilfsbereitschaft und des Gemeinsinns werden insbesondere zahlreiche Fälle angeführt, in denen Vermieter von Wohn- und Gewerbeobjekten Mietschulden erlassen oder stunden, Letzteres teilweise langfristig bis zu einer Besserung der Pandemiesituation (vgl. Mashal, Waiving Rent and Making Masks, New York Times v. 31.3.2020; FES, On Shaky Grounds, S. 12; Asia Foundation, Afghanistan’s COVID-19 Bargain). Auch durch Zeitungen wurde zu Kampagnen des Mietzinserlasses oder der -stundung aufgerufen (vgl. Mashal, a.a.O.; Asia Foundation, a.a.O.). Andere Formen zivilgesellschaftlichen Engagements sind Lebensmittellieferungen durch Jugendgruppen oder Sportler an Krankenhäuser oder bedürftige Familien (vgl. Mashal, a.a.O.; Asia Foundation, a.a.O.).

102

(e) Die Auswirkungen der Pandemie auf die allgemeine Wirtschaftslage beeinträchtigen auch den Arbeitsmarkt, wobei sich der Bedarf nach Arbeitskraft insbesondere von Tagelöhnern gegenüber dem Tiefpunkt der Lockdownphase im Frühjahr 2020 – ungeachtet erneuter, saisonbedingter Abnahme in der kalten Jahreszeit – tendenziell erholt hat.

103

Nach Schätzungen der International Labour Organization (ILO) lag die Arbeitslosenquote Afghanistans im Jahr 2019 bei etwa 11 %, der Anteil der Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung im arbeitsfähigen Alter bei 43,5 % (vgl. EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 28). Allerdings gelten Zahlen zur Arbeitslosenquote Afghanistans als wenig verlässlich, was insbesondere an dem hohen Anteil informeller Beschäftigungsverhältnisse von etwa 80 % liegt (vgl. OCHA, Afghanistan Humanitarian Response Plan 2018 - 2021, 2020 mid-year revision, S. 13; Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 22). Arbeitslosigkeit ist in Afghanistan ausgeprägt saisonabhängig, nämlich vergleichsweise niedrig in den Frühjahrs- und Sommermonaten, aber stark erhöht im Winter (vgl. EASO, a.a.O., S. 28).

104

Nachdem Berichten zufolge rund 2 Millionen Menschen in Afghanistan unter dem Einfluss des Lockdowns bis Ende April 2020 ihre Beschäftigung verloren hatten, hat sich diese Entwicklung nach dem Ende der Ausgangsbeschränkungen umgekehrt (vgl. SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 144 f.; FEWS NET, Afghanistan Food Security Outlook Update, August 2020, S. 3; World Bank Group, Development Update July 2020, S. 5). Die Regierung hat vor einem Anstieg der Arbeitslosigkeit im Jahr 2020 um 40 % gewarnt (vgl. BFA, COI v. 16.12.20, S. 14; IOM, Auskunft an BFA v. 23.9.2020, S. 3; SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021, S. 118). Auch zu den Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf den afghanischen Arbeitsmarkt existieren allerdings keine belastbaren statistischen Angaben (vgl. BFA, a.a.O., S. 14, 300; IOM, a.a.O.).

105

Wie bereits durch das OVG Münster gewürdigt (s.o. aaa)), herrscht auf dem afghanischen Arbeitsmarkt schon seit Jahren ein hoher Wettbewerbsdruck, wobei neben den ca. 400.000 bis 600.000 jährlich erstmals in den Arbeitsmarkt eintretenden jungen Afghanen zunehmend auch wieder Auslandsrückkehrer, insbesondere aus dem Iran und Pakistan, um Arbeitsplätze konkurrieren (vgl. EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 28, 31, 38). Die hohe Zahl von Rückkehrern gerade aus dem Iran seit dem dortigen Einsetzen der Pandemie und der Zuzug von Binnenvertriebenen verstärkt die Arbeitsplatzkonkurrenz insbesondere in afghanischen Großstädten (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. 5; EASO, a.a.O., S. 29). Für junge Rückkehrer aus Europa, die in einer afghanischen Großstadt wirtschaftlich Fuß fassen müssen, ist der städtische Handwerks- und Dienstleistungsbereich von besonderer Bedeutung. Dieser Bereich macht nach aktuellen Quellen rund 37 % der Wirtschaft in afghanischen Städten aus, wobei es sich häufig um Kleinstunternehmen mit wenigen Mitarbeitern, wie Läden oder Reparaturwerkstätten, handelt (vgl. Schwörer, Gutachten, S. 16). Im Jahr 2019 verdiente ungefähr die Hälfte der abhängig Beschäftigten, unabhängig von der Art ihrer Tätigkeit, im landesweiten Durchschnitt zwischen 5.000 und 10.000 AFN bzw. zwischen 70 und 130 USD (vgl. EASO, a.a.O.; Schwörer, a.a.O.).

106

Grundsätzlich bietet die Stadt Kabul in Afghanistan die besten Arbeitsmöglichkeiten für junge Männer und tendenziell höhere Löhne als andere Landesteile (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 302; EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 30). Als Beschäftigungszentrum zieht die Stadt auch Tagelöhner und andere Arbeitnehmer aus benachbarten Provinzen an, die tage- oder wochenweise pendeln (vgl. EASO, a.a.O.). Die Zahl der Tagelöhner ist allerdings niedriger als etwa in Herat (vgl. BFA, a.a.O.).

107

Für das Finden jedenfalls einer stetigen, zumal einer besser entlohnten Beschäftigung in Afghanistan bzw. Kabul ist das Bestehen eines familiären oder sonstigen sozialen Netzwerks von besonderer, die Qualifikation des Bewerbers demgegenüber oftmals von nachrangiger Bedeutung (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 301, 322 f.; EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 27 f.; Asylos, Situation of Young Male „Westernised“ Returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff.; Schwörer, Anhörung, S. 6). Die Verfügbarkeit eines solchen Netzwerks wird insbesondere für arbeitssuchende Auslandsrückkehrer als besonders bedeutsam angesehen, da es die Wahrscheinlichkeit einer Beschäftigung jedenfalls erhöhe (vgl. EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 31; BFA, a.a.O., S. 322 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 25; FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 1, 11, 16). Teilweise wird die Einschätzung geäußert, für einen jungen Auslandsrückkehrer sei es ohne die Unterstützung eines Netzwerks praktisch unmöglich, Beschäftigung zu finden (vgl. FIS, a.a.O., S. 11; Schwörer, Gutachten, S. 16 f.; Stahlmann, Gutachten v. 28.3.2018 an das VG Wiesbaden im Verfahren 7 K 1757/16.WI.A, S. 204 ff.).

108

Wenngleich auch Tagelöhnerarbeiten in Afghanistan teilweise nach persönlichen Beziehungen vergeben werden (vgl. Schwörer, Anhörung, S. 8), bilden familiäre oder sonstige soziale Verbindungen grundsätzlich keine Voraussetzung dafür, auf einem öffentlichen Tagelöhnermarkt engagiert zu werden (vgl. AAN/Kazemi, Daily-Wage Labour as a Window into Afghan Society (Stand 3.12.2020); EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 28; so auch VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20, juris Rn. 108; VG Hamburg, GB v. 26.2.2021, 1 A 53/19, juris Rn. 40). Afghanische Großstädte wie Kabul weisen typischerweise mehrere – Herat beispielsweise mindestens sieben – solcher öffentlicher Tagelöhnermärkte auf, bei denen es sich regelhaft um informelle, ab dem frühen Morgen einsetzende Zusammenkünfte von Arbeitgebern und Arbeitssuchenden an bekannten Stellen auf öffentlichen Plätzen oder Straßenkreuzungen handelt (vgl. AAN/Kazemi, a.a.O.; EASO, a.a.O.). Arbeitssuchende, die diese Tagelöhnermärkte aufsuchen, tun dies in der Regel in Ermangelung eines sozialen Netzwerks und weil ihnen zugleich die finanziellen Mittel für die Gründung eines – auch nur kleinen – Unternehmens fehlen (vgl. AAN/Kazemi, a.a.O.). Nach einer Studie der afghanischen Regierung aus den Jahren 2016/2017 zur Situation von Tagelöhnern in Kabul waren 85 % dieser Männer verheiratet und hatten durchschnittlich einen Haushalt von 7,85 Mitgliedern durch ihre Arbeit zu versorgen (vgl. Ministry of Labour and Social Affairs, Economic and Social Situation of Daily-Wage Labourers, zit. nach AAN/Kazemi, a.a.O.). Dabei wird seit Jahren als typisch angesehen, dass Tagelöhner auf den öffentlichen Arbeitsmärkten nicht täglich Beschäftigung finden, mit der Folge instabiler Einkommensverhältnisse (vgl. EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 32; EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 28; FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 16).

109

Nach der aktuellen Erkenntnisquellenlage ist davon auszugehen, dass die öffentlichen Tagelöhnermärkte in Kabul derzeit stattfinden. Während in der Lockdownphase des Frühjahrs 2020 beschrieben wurde, dass die örtliche Polizei öffentliche Ansammlungen arbeitssuchender Tagelöhner als Eindämmungsmaßnahme zerstreute (vgl. AAN/Kazemi, Daily-Wage Labour as a Window into Afghan Society), wird Solches seither nicht mehr berichtet.

110

Es wird allgemein davon ausgegangen, dass die Pandemie in Afghanistan insbesondere durch Ausgangsbeschränkungen und Konjunktureinbrüche die städtischen Tagelöhner besonders stark belastet hat und weiterhin belastet (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 14; FES, On Shaky Grounds, S. VIII). Auf dem Höhepunkt der Ausgangsbeschränkungen, im Mai 2020, fiel der landesweite Durchschnitt verfügbarer Wochenarbeitstage für Tagelöhner auf einen historischen Tiefststand von 1,4 Tagen (vgl. FEWS NET, Food Security Outlook October 2020 to May 2021, S. 3). Seither, insbesondere mit Auslaufen des Lockdowns, haben sich die Bedingungen wieder verbessert (vgl. FEWS NET, a.a.O., S. 3; FEWS NET, Food Security Outlook February to September 2021, S. 3; WFP/vam, Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 29 v. 2.12.2020, S. 7). Bereits zwischen Mai und Juli 2020, nach faktischem Ausklingen der Lockdown-Maßnahmen, stiegen die Tagelöhne in Afghanistan wieder um 5 % an (vgl. SIGAR, Quarterly Report v. 30.10.2020, S. 145; FEWS NET, Afghanistan Food Security Outlook Update, August 2020, S. 3).

111

Das durchschnittlich erzielbare tägliche Einkommen eines Tagelöhners in Afghanistan differiert im landesweiten Vergleich und hängt von den Fertigkeiten des Arbeitssuchenden ab (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 302; IOM, Auskunft an BFA v. 23.9.2020, S. 4; Ministry of Labour and Social Affairs, Economic and Social Situation of Daily-Wage Labourers, zit. nach AAN/Kazemi, Daily-Wage Labour as a Window into Afghan Society; FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 16). Nach Angaben des World Food Programme (WFP) war Ende Februar 2021 in Kabul für einen ungelernten Arbeiter ein Tageslohn von 350 AFN, für einen gelernten Arbeiter von 750 AFN erzielbar, was gegenüber der zweiten Märzwoche 2020 (300 bzw. 500 AFN) jeweils einen Anstieg bedeutet (vgl. WFP/vam, Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 42 v. 3.3.2021, S. 7). Zu diesen Löhnen war Ende Februar 2021 in Kabul Arbeit im Umfang von zwei Arbeitstagen je Woche verfügbar, was unter dem Vor-Pandemie-Stand der zweiten Märzwoche 2020 (drei Arbeitstage) liegt (vgl. WFP/vam, a.a.O.). Insoweit ist allerdings zu berücksichtigen, dass insbesondere der Bedarf nach Arbeitskraft zu Tagelohn in der kalten Jahreszeit grundsätzlich verringert ist (vgl. FEWS NET, Food Security Outlook Update December 2020, S. 4; FEWS NET, Food Security Outlook February to September 2021, S. 1, 7). Entsprechend wurden auch unter Pandemiebedingungen im Herbst 2020 noch höhere wöchentliche Arbeitsbedarfe von 2,4 oder drei Tagen je Woche gemeldet (vgl. FEWS NET, Food Security Outlook October 2020 to May 2021, S. 3 (2,4 Tage – September 2020); WFP/vam, Afghanistan, Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 29 v. 2.12.2020, S. 7 (3 Tage – November 2020). Es wird erwartet, dass – saisontypisch – mit dem Beginn des Frühlings im späten März 2021 die Beschäftigungsmöglichkeiten auch in Städten wieder zunehmen (vgl. FEWS NET, a.a.O., S. 7; FEWS NET, Food Security Outlook February to September 2021, S. 1, 9).

112

Neben abhängiger Beschäftigung, etwa als Tagelöhner, kommt für männliche afghanische Staatsangehörige im Falle ihrer Rückkehr nach Kabul auch eine selbständige Erwerbstätigkeit in Betracht. Verfügen sie – anders als städtische Tagelöhner typischerweise (s.o.) – über ein gewisses Gründungskapital, so kann damit die Ausstattung für ein kleines Unternehmen, beispielsweise ein Taxi oder eine Motor-Rikscha zur Personen- und Warenbeförderung, erworben werden, was eine verbreitete Form bescheidener Selbstständigkeit darstellt (vgl. AAN/Kazemi, Daily-Wage Labour as a Window into Afghan Society). Entsprechendes gilt für handwerkliche (Reparatur-)Tätigkeiten, etwa im Bereich der Holz- oder Metallbearbeitung (vgl. FES, On Shaky Grounds, S. 9). Es bestehen auch Anhaltspunkte dafür, dass die Resilienz solcher städtischer Klein- oder Kleinstunternehmen gegenüber ökonomischen Schocks – wie den Auswirkungen eines Lockdowns – größer ist als im Falle mittelloser Tagelöhner; dies gilt jedenfalls für Handwerker (vgl. FES, a.a.O., S. VIII, 8 f.).

113

(f) Die allgemeinen Lebenshaltungskosten afghanischer Haushalte sind, in Abhängigkeit insbesondere von den Nahrungsmittelpreisen, pandemiebedingt ab März 2020 zunächst gestiegen und im weiteren Jahresverlauf im Wesentlichen wieder gefallen.

114

Als durchschnittliche Lebenshaltungskosten einer erwachsenen Einzelperson in Kabul – ohne Unterkunftskosten – werden in Rechtsprechung und Literatur oftmals 100 bis 150 EUR angenommen (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 216 f.; VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, A 11 S 316/17, juris Rn. 272; BAMF/IOM/ZIRF, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten einer alleinstehenden Person in Kabul, und ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie bestehend aus Vater und drei Kindern, jeweils vom 9.5.2017). Aktuelle Zahlen zu Kabul sprechen allerdings dafür, dass der monatliche Grundbedarf einer erwachsenen Einzelperson an Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Trinkwasser und Kochbrennstoff (zu Miet- und Heizkosten s.u. (g)) zu Gesamtkosten von jedenfalls nicht mehr als 50 USD zu decken ist.

115

Dies ergibt sich aus den Recherchen der Joint Market Monitoring Initiative (JMMI), die im Monatsrhythmus die Lebenshaltungskosten eines typischen afghanischen Haushaltes in verschiedenen Regionen des Landes ermittelt und diese im Sinne eines „Mindestausgaben-Warenkorbs“ zusammenstellt (vgl. hierzu und zum Folgenden JMMI, Afghanistan Minimum Expenditure Basket Calculations, 10.-23.1.2021, S. 2). Dieses Monatspaket („minimum expenditure basket“ – MEB) umfasst die Versorgung eines sechsköpfigen Haushalts insbesondere mit Nahrungsmitteln (u.a. Weizenmehl, Reis, Speiseöl) und Hygieneartikeln (insb. Seife, Zahnpasta, Zellstoff). Die Gesamtausgaben einer sechsköpfigen Familie in Kabul für diese beiden Bedarfsposten belaufen sich nach den aktuellsten verfügbaren Zahlen – zu Mitte Januar 2021 – auf 6.246 AFN bzw. 81,11 USD (vgl. JMMI, a.a.O. (Gesamtkosten von 14.039 AFN abzüglich fixer Komponenten für Gesundheitsausgaben (667 AFN), Unterkunft (5.850 AFN) und eines Zuschlags von 10 % für unbenannte Ausgaben)). Sie liegen damit unter dem landesweiten Durchschnitt und bezogen auf Kabul etwa 4,5 % unter dem Preisniveau von Anfang Mai 2020. Geht man davon aus, dass ein erwachsener Mann etwa ein Viertel des für eine sechsköpfige Familie konzipierten Warenpakets konsumiert, so ergeben sich insoweit Kosten für eine Einzelperson in Höhe von 1.562 AFN bzw. 20,29 USD. Zwar sind in diesem Betrag noch keine monatlichen Kosten für Trinkwasser und Kochbrennstoff enthalten. Angesichts der hierfür in Kabul im Januar 2021 bestehenden Durchschnittspreise von 50 AFN (ca. 0,65 USD) für 20 l Trinkwasser und von 57 AFN (ca. 0,74 USD) für 1 kg Kochbrennstoff (vgl. JMMI, a.a.O., S. 3, 7) kann allerdings davon ausgegangen werden, dass monatliche Lebenshaltungskosten von 50 USD und mehr für eine Einzelperson selbst dann nicht erreicht werden, wenn neben Trinkwasser und Kochbrennstoff auch monatliche Kosten für Gesundheitsausgaben (667 AFN bzw. ca. 8,66 USD) und eine Pauschale für unbenannte sonstige Ausgaben (von 10 %) – wozu etwa Bekleidung zählen kann – berücksichtigt werden, wie JMMI dies im Rahmen des Mindestausgaben-Warenkorbs vorsieht (vgl. a.a.O., S. 2).

116

Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass abweichende höhere Angaben in der jüngeren Literatur einen Lebensstandard zu Grunde legen, der deutlich über dem von Art. 3 EMRK gewährleisteten Schutzniveau liegt (vgl. etwa BFA, COI v. 16.12.2020, S. 327 („bis zu 400 USD [...] für jemanden mit gehobenem Lebensstandard [im] zentral gelegenen Teil der Stadt Kabul“)). Dies gilt auch für die Einschätzung von Schwörer (Anhörung, S. 3, 13, 14 f.), die – neben monatlichen Kosten in Höhe von 100 USD für diverse Bedarfe wie Transport, Gesundheitskosten und Kleidung – allein Verpflegungskosten in Höhe von 450 AFN bzw. 6 USD täglich annimmt und dabei von dem täglichen Erwerb dreier zubereiteter Mahlzeiten außer Haus ausgeht (kritisch hierzu auch VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 78; VG Hamburg, GB v. 26.2.2021, 1 A 53/19, juris Rn. 45).

117

(g) Obgleich sich die Pandemie mittelbar, insbesondere durch die von ihr mitangestoßenen Rückkehrerströme aus dem benachbarten Ausland, auch auf den Wohnungsmarkt in afghanischen Großstädten wie Kabul auswirkt, sind Unterkünfte weiterhin verfügbar und ist das Mietzinsniveau in Kabul jedenfalls nicht erheblich verändert.

118

Als mögliche Erstunterkunft für Rückkehrer aus Europa in der Wiedereinfindungsphase kommen neben privaten Apartments weiterhin – wie vor der Pandemie – insbesondere Hotels und sog. Teehäuser in Betracht (vgl. Schwörer, Gutachten, S. 12). Diese und andere Beherbergungseinrichtungen haben seit Auslaufen des Lockdowns im Sommer 2020 wieder geöffnet (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 12; IOM, Auskunft an BFA v. 23.9.2020, S. 3; Schwörer, a.a.O.; dies., Anhörung, S. 1). Angesichts der geringen Wirksamkeit des ersten Lockdowns und der damit ebenfalls geringen Wahrscheinlichkeit eines weiteren (s.o. (b)) wird erwartet, dass sich die Situation geschlossener Hotels und Teehäuser nicht wiederholen wird (vgl. Schwörer, Gutachten, S. 12). Die Angaben in Quellen zu einem typischen Übernachtungspreis in einem afghanischen Teehaus liegen – stark variierend – zwischen 30 bis 100 AFN bzw. 0,4 bis 1,4 USD (vgl. EASO, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 29) und 5 bis 10 USD im Rahmen eines verpflichtenden Gesamtangebotes mit Mittag- und Abendessen (vgl. Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2, S. 3 m. Fn. 12). Die ehemals für Rückkehrer bestehende Möglichkeit, auf Vermittlung der International Organization for Migration (IOM) eine Erstunterkunft im Spinzar-Hotel in Kabul zu finden, besteht seit April 2019 nicht mehr (vgl. FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 12).

119

Die Erlangung einer dauerhaften Unterkunft in Kabul wird Rückkehrern grundsätzlich dadurch erleichtert, dass – für Afghanistan ungewöhnlich – die Mehrheit der Einwohner Kabuls in Mietobjekten lebt, sodass die Anmietung etwa einer Wohnung durchaus üblich ist (vgl. Schwörer, Gutachten, S. 12; EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 62). Ein hoher Anteil der Wohngebäude in der Stadt besteht aus Häusern oder Hütten entlang der zahlreichen Berghänge (vgl. EASO, a.a.O., S. 60). Wenngleich soziale Kontakte dazu geeignet sind, mögliches Misstrauen auf Vermieterseite gegenüber einem unbekannten Mietinteressenten zu überwinden (vgl. Asylos, Situation of Young Male „Westernised“ Returnees to Kabul, August 2017, S. 61 ff.), wird die Möglichkeit zur Miete einer Wohnung – und deren Qualität – grundsätzlich als Frage nicht eines vorhandenen Netzwerkes, sondern der verfügbaren finanziellen Mittel angesehen (vgl. Schwörer, a.a.O.). Die Kosten einer Unterkunft in der Stadt Kabul sind tendenziell höher als in deren Vororten und in anderen Provinzen (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 327). Pandemiebedingte Steigerungen der Miet- und Kaufpreise für Immobilien in Kabul sind nicht festzustellen; während die Mieten konstant geblieben sind, sind die Hauspreise eher gesunken (vgl. Schwörer, a.a.O.).

120

Eine Gesamtschau der in Erkenntnisquellen genannten Mietpreise ergibt, dass der Unterkunftsbedarf eines alleinstehenden männlichen Rückkehrers nach Kabul zu monatlichen Mietkosten von jedenfalls nicht mehr als 80 USD – möglicherweise auch erheblich günstiger – zu decken ist. Soweit in Quellen bisweilen Wohnungsmieten zwischen 150 und 500 USD genannt werden (vgl. etwa BFA, COI v. 16.12.2020, S. 327 (zwischen 300 und 500 USD „für jemanden mit gehobenem Lebensstandard [im] zentral gelegenen Teil der Stadt Kabul“); BAMF/IOM/ZIRF, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten einer alleinstehenden Person in Kabul, v. 9.5.2017 (160 bis 180 EUR für 1-Zimmer-Apartment mit Küche und Badezimmer); ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie bestehend aus Vater und drei Kindern, v. 9.5.2017 („etwa 300 EUR“ für 3-Zimmer-Apartment mit Küche und Badezimmer); vgl. auch VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, A 11 S 316/17, juris Rn. 277 f. m.w.N.; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 219 f. m.w.N.), handelt es sich dabei – wie bereits an der erheblichen Variationsbreite erkennbar – um Angebote, die in ihrem Standard deutlich über dem von Art. 3 EMRK gewährten Schutzniveau liegen (s. entsprechend bereits für Angaben zu Lebenshaltungskosten oben (f)). Die Vorschrift schützt einen Rückkehrer zwar vor Obdachlosigkeit und den mit ihr verbundenen Gesundheitsgefahren, gewährleistet jedoch nicht einen bestimmten Wohnstandard (ähnlich VG Hamburg, GB v. 26.2.2021, 1 A 53/19, juris Rn. 44). Auch in anderen Quellen angeführte Wohnungsmieten zwischen 100 und 150 USD (so nunmehr Schwörer, Anhörung, S. 2; hierauf gestützt VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20, juris Rn. 71; vgl. auch Urt. v. 12.10.2018, A 11 S 316/17, juris Rn. 277 f. m.w.N.; VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 75) sind an diesem Maßstab noch übersetzt, da sie, jedenfalls regelhaft, 1-Zimmer-Apartments mit Küche und Badezimmer und damit einen zumindest bescheidenen europäischen Verhältnissen vergleichbaren Wohnstandard zugrunde legen. Während weitere Erkenntnisquellen Mietpreise zwischen 80 und 100 USD angeben (so noch Schwörer, Gutachten, S. 12; vgl. wiederum VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, a.a.O., Rn. 277 f. m.w.N.), legt JMMI (Minimum Expenditure Basket Calculations, 10.-23.1.2021, S. 2) im Rahmen des „minimum expenditure basket“ für Kabul im Januar 2021 – bezogen auf einen sechsköpfigen Haushalt – einen monatlichen Unterkunftskostenanteil von 5.850 AFN bzw. ca. 76 USD zugrunde.

121

In Zusammenschau mit den bereits dargestellten Einkommensverhältnissen der afghanischen Bevölkerung (s.o. (e)) wird deutlich, dass sich die vorgenannten Angaben jedenfalls größtenteils auf Angebote im Rahmen des „formellen“ Wohnungsmarktes Kabuls beziehen (müssen), der im Wesentlichen Wohnungen in Zentrumsnähe betrifft, wie sie auch von der städtischen Oberschicht oder Mitarbeitern internationaler Organisationen bewohnt werden. Am Maßstab von Art. 3 EMRK ist es einem jungen, gesunden und alleinstehenden männlichen Rückkehrer allerdings nicht per se unzumutbar, sich auch auf dem informellen Wohnungsmarkt Kabuls um eine Unterkunft zu bemühen (hierzu tendierend auch VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 76). Mindestens 80 % der Einwohner Kabuls leben in Unterkünften außerhalb des formellen Wohnungsmarktes (vgl. FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 13; vgl. auch EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 62). Das bedeutet nicht zwingend, dass sie in informellen Siedlungen solcher Art leben, wie sie in Quellen oftmals als Orte zumindest annähernder Verelendung insbesondere von binnenvertriebenen Familien genannt werden (vgl. FIS, a.a.O., S. 13 ff.; EASO, a.a.O., S. 61 f., 64 f.; SFH, Gefährdungsprofile v. 30.9.2020, S. 20 f.) und in denen sich insbesondere Rückkehrer aus Europa erfahrungsgemäß nur sehr selten wiederfinden (vgl. FIS, a.a.O., S. 15). Die ungeplanten Siedlungen, aus denen Kabul inzwischen weit überwiegend besteht, weisen zwar grundsätzlich schlechtere Infrastruktur und humanitäre Verhältnisse als die schon länger bestehenden zentrumsnäheren Viertel auf, unterscheiden sich aber im Niveau der humanitären Verhältnisse auch untereinander stark und befinden sich in ständiger Entwicklung (vgl. Glinski, Restoration of Kabul Repairs the Ravages of War, The Guardian v. 13.5.2019; FIS, a.a.O., S. 13 ff.; EASO, a.a.O., S. 19; vgl. auch VGH Mannheim, Urt. v. 29.10.2019, A 11 S 1203/19, juris Rn. 43, 56; VG Hamburg, GB v. 26.2.2021, 1 A 53/19, juris Rn. 44). Mieten in den informellen Siedlungen im Bereich der Außenbezirke Kabuls liegen oftmals deutlich unterhalb der oben genannten Werte, etwa bei 600 AFN bzw. ca. 7,80 USD im Monat für ein kleines Haus (vgl. Glinski, a.a.O.; FIS, a.a.O., S. 14).

122

Unterkunftskosten können einem Rückkehrer nach Kabul neben der Miete noch durch eine Kaution und in Gestalt von Heizkosten entstehen. In Quellen wird teilweise davon ausgegangen, dass das Anmieten einer Wohnung die Hinterlegung einer Kaution von bis zu sechs Monatsmieten voraussetzt, sofern nicht ein Mietbürge gestellt werden kann (vgl. Stahlmann, Gutachten v. 28.3.2018 für das VG Wiesbaden im Verfahren 7 K 1757/16.WI.A, S. 244; Schwörer, Anhörung, S. 16, 19). Zur Höhe durchschnittlicher monatlicher Heizkosten finden sich in Quellen keine belastbaren Angaben, was insbesondere an der Unterschiedlichkeit der üblicherweise verwendeten Heizmaterialien – wie insbesondere Holz, Gas oder getrocknetem Tierdung (vgl. Schwörer, a.a.O., S. 17) – liegen dürfte; 1 kg Brennholz kostete im Januar 2021 in Kabul 16 AFN bzw. ca. 0,21 USD (vgl. JMMI, Minimum Expenditure Basket Calculations, 10.-23.1.2021, S. 7).

123

Am Maßstab von Art. 3 EMRK erscheint es einem jungen, erwachsenen, gesunden und alleinstehenden männlichen Rückkehrer auch zumutbar, sich Wohnraum mit weiteren Personen zu teilen, sodass er die Kosten eines Zimmers bzw. 1-Zimmer-Apartments – einschließlich Kaution und Heizkosten – nicht dauerhaft allein zu tragen hat. Dem entspricht im Tatsächlichen, dass in Afghanistan statistisch fast die Hälfte der städtischen Bevölkerung in überbelegtem Wohnraum mit durchschnittlich 3 Personen pro Zimmer lebt (vgl. NSIA, Afghanistan Living Conditions Survey 2016-17, zit. nach OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 221 f.; vgl. auch FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 13). Das Teilen von Wohnraum ist insbesondere unter Rückkehrern üblich (vgl. FIS, a.a.O., S. 21) und auch Wohngemeinschaften junger Männer nehmen zu (vgl. Asylos, Situation of Young Male „Westernised“ Returnees to Kabul, August 2017, S. 64).

124

Belastbare, insbesondere nach Umständen und Intensität nachvollziehbare Berichte zu einer über Einzelfälle hinausgehenden Obdachlosigkeit junger, gesunder und alleinstehender männlicher Rückkehrer nach Kabul sind nicht ersichtlich (vgl. aber Stahlmann, Asylmagazin 2019, S. 284 f., wonach 9 Personen aus einer Gruppe von 547 „zeitweise oder dauerhaft von Obdachlosigkeit betroffen“ gewesen seien, wobei „zumindest die Versorgung mit Lebensmitteln sichergestellt“ gewesen sei).

125

(h) Auch unter den aktuellen Bedingungen der Coronavirus-Pandemie können (freiwillige) Rückkehrer aus Deutschland nach Afghanistan während und in den ersten Monaten nach ihrer Rückkehr in beachtlichem Umfang Hilfsangebote in Gestalt insbesondere von Geld-, daneben auch von Sach- und Beratungsleistungen in Anspruch nehmen. Dabei handelt es sich insbesondere um Förderung im Rahmen der Rückkehrhilfen-Programme REAG/GARP und StarthilfePlus (hierzu (aaa)), ERRIN (hierzu (bbb)) sowie um Beratungs- und Betreuungsangebote durch Ipso Afghanistan (hierzu (ccc)).

126

(aa) Nach dem Sachstand zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats können alleinstehende freiwillige Rückkehrer aus Deutschland nach Afghanistan im Rahmen der Rückkehrhilfen-Programme REAG/GARP und StarthilfePlus während der ersten sechs bis acht Monate nach Rückkehr finanzielle Hilfe in erheblichem Umfang in Anspruch nehmen; hinsichtlich des Verwendungszwecks sind sie dabei nicht eingeschränkt. Im Falle einer Antragstellung bis zum 30. Juni 2021 kann ein alleinstehender Rückkehrer in diesem Rahmen Geldleistungen im Umfang von bis zu 3.700 EUR erhalten. Nach dem genannten Stichtag, mit dem – nach derzeitigem Stand – die Verfügbarkeit bestimmter pandemiebezogener Zusatzzahlungen enden wird, wird voraussichtlich jedenfalls bis zum 31. März 2022 der reguläre Leistungsumfang der vorgenannten Programme von bis zu 2.200 EUR für eine Einzelperson fortbestehen. Diese Leistungen setzen sich wie folgt zusammen:

127

Freiwillige Rückkehrer aus Deutschland nach Afghanistan können grundsätzlich im Rahmen des – in Kooperation zwischen Bund und Ländern und der IOM angebotenen – Programms Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany (REAG)/Government Assisted Repatriation Program (GARP) Geldleistungen zur Erleichterung des Neubeginns im Herkunftsland erhalten, welche die Reisekosten, eine Reisebeihilfe von 200 EUR für Bedürfnisse während der Reise, eine sog. erste Starthilfe in Höhe von 1.000 EUR für eine volljährige Person sowie – im Bedarfsfall – die Kosten einer medizinischen (Anschluss-) Versorgung in Höhe von bis zu 2.000 EUR (für bis zu drei Monate nach Ankunft im Zielland) umfassen (vgl. Kap. II der Leitlinien zur Rückkehrförderung REAG/GARP-Programm 2021, Stand Februar 2021 – im Folgenden: Leitlinien).

128

Förderfähig sind insbesondere alle Leistungsberechtigten im Sinne von § 1 AsylbLG (vgl. Nr. 1.1.1 der Leitlinien), sofern sie mittellos sind (vgl. Nr. 3.1.1 Satz 1 der Leitlinien) und einen entsprechenden Antrag stellen (vgl. Nr. 3.1 der Leitlinien). Die sog. erste Starthilfe in Höhe von 1.000 EUR wird insbesondere Rückkehrern nach Afghanistan gewährt (vgl. Nr. 2.5.1 der Leitlinien) und in der Regel bei der Ausreise am Flughafen ausgezahlt.

129

Im Rahmen des ergänzenden Förderprogramms StarthilfePlus können freiwillige Rückkehrer nach Afghanistan, die mit dem REAG/GARP-Programm ausgereist sind und eine erste Starthilfe erhalten haben, eine ergänzende finanzielle Unterstützung (sog. zweite Starthilfe) in Höhe von 1.000 EUR erhalten, die sechs bis acht Monate nach der Ausreise im Zielstaat ausgezahlt wird. Zum Ausgleich pandemiebedingter Erschwernisse im Zielstaat werden im Rahmen des Programms StarthilfePlus zudem derzeit – bei Antragstellung bis zum 30. Juni 2021 – zwei sog. Coronavirus-Zusatzzahlungen in Höhe von 1.000 EUR (Zusatzzahlung I, Auszahlung innerhalb von acht Wochen nach Ausreise) und 500 EUR (Zusatzzahlung II, Auszahlung mit der zweiten Starthilfe) gewährt (vgl. Schriftsätze der Beklagten vom 23. Februar 2021, S. 2, und vom 22. März 2021, S. 1, sowie Informationsblatt StarthilfePlus, Stand März 2021, S. 3, Letzteres abrufbar unter https://files.returningfromgermany.de/files/StarthilfePlus_Erg%C3%A4nzende%20Reintegration_M%C3%A4rz2021.pdf).

130

Die Auszahlung der sog. zweiten Starthilfe und der Coronavirus-Zusatzzahlungen durch das Büro der IOM in Kabul findet auch in der derzeitigen Pandemielage statt (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 23. Februar 2021, S. 2 ff.; Schwörer, Anhörung, S. 8 f.)

131

(bb) Kumulativ zu den beiden vorgenannten Programmen steht freiwilligen Rückkehrern aus Deutschland eine Förderung nach dem EU-finanzierten Programm European Return and Reintegration Network – ERRIN – offen. Dieses Programm bietet Rückkehrern grundsätzlich sowohl Reintegrationshilfen, vornehmlich durch Beratung etwa zu Arbeitssuche oder Existenzgründung, als auch Sachleistungen im Wert von bis zu 2.000 EUR (nicht: Geldleistungen) für eine freiwillig zurückkehrende Einzelperson an (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 23. Februar 2021, S. 4 f.). Im Rahmen von ERRIN wird in Afghanistan bzw. Kabul ein örtlicher Vertragspartner der Beklagten tätig, mit dem der Geförderte nach Rückkehr schriftlich ein Reintegrationsvorhaben festlegt; dieses muss anschließend durch das BAMF geprüft und bewilligt werden, bevor die – auf sechs Monate ab Ausreise angelegten – Reintegrationshilfen umgesetzt werden können (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/erin). Auch das Angebot von ERRIN ist nicht pandemiebedingt ausgesetzt; es wird vielmehr derzeit durch eine Zusatzzahlung zur Deckung pandemiebedingten Sonderbedarfs in Höhe von 200 EUR für eine Einzelperson ergänzt (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 23. Februar 2021, S. 5).

132

(cc) Die Internationale Psychosoziale Organisation (Ipso) unterhält im Stadtkern von Kabul ein Zentrum für psychosoziale Beratung und mentale Gesundheit (hierzu und zum Folgenden https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/ipso-afghanistan sowie https://ipsocontext.org/de/projekte/afghanistan; vgl. zu Ipso auch FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 15; Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 24). Rückkehrer auch aus Deutschland, welche die Wiedereinfindung in der afghanischen Gesellschaft oder der örtlichen Gemeinschaft als problematisch und psychisch belastend erleben, erhalten Unterstützung insbesondere in Form von psychosozialer und psychiatrischer Betreuung, psychologischer Beratung, Hilfsgruppen und psychosozialer Beratung online; alle Angebote sind kostenfrei.

133

Ipso kooperiert zudem mit dem Projekt „Kolba-e-Ma“, das in Kabul soziale Treffpunkte für Rückkehrer organisiert. Aus der Erwägung, dass gerade junge Rückkehrer die afghanische Kultur oftmals im Wesentlichen durch ihre Eltern im Ausland vermittelt bekommen haben, zielt das Projekt darauf ab, das Wiederknüpfen sozialer Kontakte durch soziale Aktivitäten zu fördern und dadurch auch den Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Einkommensquellen zu erleichtern.

134

(2) Auf Grundlage der dargestellten Erkenntnisquellenlage ist die humanitäre Situation in Afghanistan bzw. Kabul auch unter den derzeitigen Gegebenheiten der SARS-CoV-2-Pandemie (weiterhin) dahingehend einzuschätzen, dass ein junger, erwachsener, gesunder und alleinstehender Mann regelhaft nicht allein aufgrund seiner Anwesenheit dort in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung gerät. Dieses Ergebnis deckt sich mit der Bewertung durch den EGMR, der in Bezug auf – die allgemeine Sicherheitslage und – die humanitäre Lage in Afghanistan bislang nicht davon ausgeht, dass eine Abschiebung dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellt (vgl. zuletzt Entsch. v. 16.6.2020, Nr. 42255/18 - M.H./Finnland, BeckRS 2020, 15216, Rn. 48 ff.; Urt. v. 25.2.2020, Nr. 68377/17, 530/18 - A.S.N. u.a./Niederlande, BeckRS 2020, 10613, Rn. 105 f.; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019, 1 B 2.19, juris Rn. 10 m.w.N.).

135

Bei einer Gesamtschau der im Rahmen einer Rückkehrprognose wesentlichen Aspekte ist für diese Rückkehrer die tatsächliche Gefahr einer Verelendung im Sinne der Anforderungen von Art. 3 EMRK nicht festzustellen (hierzu (a)). Insbesondere ist es unter Berücksichtigung der für freiwillige Rückkehrer aus Deutschland verfügbaren finanziellen Rückkehrhilfen nicht beachtlich wahrscheinlich, dass diese Rückkehrer innerhalb des nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK erforderlichen zeitlichen Zusammenhangs mit einer Abschiebung verelenden (hierzu (b)). Darüber hinaus ist auch nach einem Verbrauch dieser finanziellen Rückkehrhilfen – auf Basis der aktuellen Verhältnisse – nicht beachtlich wahrscheinlich, dass einem Rückkehrer mit den hier relevanten Merkmalen durch eigene Erwerbstätigkeit nicht die Bestreitung eines Lebensunterhaltes zumindest am Rande des Existenzminimums gelingt (hierzu (c)). Jedenfalls – unabhängig von den vorgenannten Erwägungen – ist den zahlreichen und eingehenden Erkenntnisquellen zur aktuellen humanitären Situation in Afghanistan bzw. Kabul nicht zu entnehmen, dass Angehörige der hier zu betrachtenden Personengruppe infolge ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verelenden (hierzu (d)).

136

(a) Bei einer Gesamtschau der im Rahmen einer Rückkehrprognose wesentlichen Aspekte ist für junge, erwachsene, gesunde und alleinstehende Männer auch unter den derzeitigen Gegebenheiten der SARS-CoV-2-Pandemie die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung – mithin ein „sehr hohes Gefährdungsniveau“, angesichts dessen humanitäre Gründe „zwingend“ gegen eine Rückkehr sprechen (s.o. a)) – nicht festzustellen. Zwar weisen afghanische Großstädte wie Kabul weiterhin ein erhebliches Infektionsgeschehen auf und es erscheint – trotz der bereits begonnenen Impfkampagne – auch das Auftreten weiterer Pandemiewellen in Afghanistan möglich. Zudem ist die Konjunkturlage der afghanischen Wirtschaft anhaltend schwach und für den ärmeren (Groß-)Teil der Bevölkerung besteht trotz umfangreicher Intervention des Staates sowie internationaler Organisationen eine erhebliche Nahrungsmittelunsicherheit fort, dies bei zunehmender Verschuldung der Haushalte. Andererseits sind – zumal faktisch – keine staatlichen Eindämmungsmaßnahmen mehr in Kraft, welche den Handel, den Dienstleistungssektor und das produzierende Gewerbe behindern; insbesondere sind Geschäfte, Handwerksbetriebe und Tagelöhnermärkte geöffnet. Auch hat die Weltbank ihre ursprüngliche, pessimistische Prognose für das Wachstum der afghanischen Wirtschaft in den Jahren 2021 und 2022 revidiert und geht nunmehr von einem Wachstum auf dem Niveau der letzten Jahre vor Pandemiebeginn aus. Soweit die Erholung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes von den Auswirkungen der ersten Pandemiewelle und des Lockdowns im Frühjahr und Sommer 2020 durch die saisontypische Konjunkturschwäche im Herbst und Winter 2020/2021 behindert worden ist, wird mit dem Ende der kalten Jahreszeit ab April 2021 mit einer zunehmenden Besserung gerechnet, die erfahrungsgemäß auch den Bedarf nach Arbeitskraft von Tagelöhnern umfasst. Grundnahrungsmittel und sonstige Lebensmittel sind im Land verfügbar; ihre Preise haben sich, wenngleich derzeit erheblich über dem Niveau vor Pandemiebeginn, stabilisiert. Schließlich herrscht auch kein allgemeiner Wohnungsnotstand; zwar ist die Unterkunftssituation für weite Teile der Bevölkerung nach Gebäudequalität und sanitären Verhältnissen unbefriedigend bis prekär, es existieren jedoch – auch infolge hoher Belegungsdichte städtischer Quartiere – keine belastbaren Berichte zu signifikanter Obdachlosigkeit von Auslandsrückkehrern insbesondere aus Europa.

137

Der Senat erachtet die vorgenannte Bewertung der aktuellen Situation nicht zuletzt mit Blick darauf für geboten, dass ein Schutz vor schlechten, jedoch keinem verantwortlichen Akteur zurechenbaren – auch nicht auf staatlicher Gleichgültigkeit basierenden – humanitären Bedingungen durch Art. 3 EMRK anerkanntermaßen (s.o. a)) ganz besonderen Ausnahmecharakter hat.

138

(b) Vor dem Hintergrund der vorgenannten tatsächlichen Gesichtspunkte ist es unter Berücksichtigung der für freiwillige Rückkehrer aus Deutschland verfügbaren finanziellen Rückkehrhilfen insbesondere nicht beachtlich wahrscheinlich, dass diese Rückkehrer innerhalb des nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK erforderlichen zeitlichen Zusammenhangs mit einer Abschiebung verelenden.

139

Der EGMR setzt in seiner jüngeren Rechtsprechung für die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung voraus, dass die aus ihr resultierende Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht nur schwerwiegend und irreversibel ist, sondern auch „schnell“ eintritt (vgl. EGMR, Urt. v. 13.12.2016, Nr. 41738/10 - Paposhvili/Belgien, NVwZ 2017, 1187, Rn. 183; dem – zu Konstellationen prekärer humanitärer Verhältnisse – folgend insb. OVG Bremen, Urt. v. 26.5.2020, 1 LB 57/20, juris Rn. 57 m.w.N.; VGH Kassel, Urt. v. 27.9.2019, 7 A 1637/14.A, juris Rn. 39; VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/00, juris Rn. 24 m.w.N.; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 106). Die Gefahr muss folglich in dem Sinne konkret sein, dass die drohende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Würde der Person in einem solchen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung durch den Vertragsstaat eintritt, dass bei wertender Betrachtung noch eine Zurechnung zu dieser Abschiebung – in Abgrenzung zu späteren Entwicklungen im Zielstaat oder gewählten Verhaltensweisen des Asylbewerbers – gerechtfertigt erscheint (vgl. auch VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 62; VG Köln, Beschl. v. 4.3.2021, 21 L 153/21.A, juris Rn. 62 ff., 150). Wo die zeitliche Höchstgrenze für einen solchen Zurechnungszusammenhang im Regelfall zu ziehen ist (für eine Jahresgrenze VG Freiburg, a.a.O., Rn. 61, 65), bedarf hier keiner Entscheidung. Denn angesichts der derzeit für freiwillige Rückkehrer aus Deutschland nach Afghanistan zugänglichen finanziellen Rückkehrhilfen (s.o. (1) (g)) und der Dauer der mit diesen Mitteln finanziell überbrückbaren Wiedereinfindungsphase (hierzu sogleich) erscheint die tatsächliche Gefahr einer Verelendung aus materieller Not unabhängig von einer genauen zeitlichen Grenzziehung nicht gegeben.

140

Die aktuell im Rahmen der Programme REAG/GARP und StarthilfePlus verfügbaren Rückkehrhilfen in Höhe von 3.700 EUR bzw. – zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – 4.350 USD, die der Senat insoweit berücksichtigen kann (hierzu (aa)) reichen bei Zugrundelegung zumindest ausreichender Lebenshaltungs- und Unterkunftskosten für eine Einzelperson in Kabul für jedenfalls mehr als 2,5 Jahre, bei Zugrundelegung monatlicher Budgets, wie sie derzeit einem Großteil der (regelhaft mehrköpfigen) afghanischen Haushalte zur Verfügung stehen, sogar wesentlich länger (hierzu (bb)). Daneben dürfte auch der nach Auslaufen der derzeit gewährten Coronavirus-Zusatzzahlungen voraussichtlich (wieder) verfügbare Gesamtbetrag von 2.200 EUR bzw. ca. 2.590 USD zur Bestreitung einer Eingewöhnungsphase von mindestens 1,5 Jahren ausreichend sein.

141

(aa) Die vorgenannten, im Rahmen der Programme REAG/GARP und StarthilfePlus gewährten finanziellen Rückkehrhilfen sind im vorliegenden Zusammenhang berücksichtigungsfähig (im Grds. allg. Auffassung, vgl. insb. OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2020, 1 LB 351/20, juris Rn. 42, 46; OVG Koblenz, Urt. v. 30.11.2020, 13 A 11421/19, juris Rn. 138; VGH Mannheim, zuletzt Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/00, juris Rn. 110 f.; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 250 ff.; VG Düsseldorf, Urt. v. 9.3.2021, 25 K 1234/19.A, juris Rn. 215; VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 56; VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 45; VG Köln, Beschl. v. 4.3.2021, 21 L 153/21.A, juris Rn. 135 ff.). Dem steht zunächst nicht entgegen, dass ein Rechtsanspruch auf Gewährung dieser Geldleistungen nicht gegeben ist, denn es liegen weder Berichte dazu vor, dass eine Bewilligung in der Vergangenheit trotz Erfüllung der Förderungsvoraussetzungen versagt worden wäre, noch Anhaltspunkte dafür, dass dies zukünftig zu erwarten stünde (ähnlich VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 56 m.w.N.). Im Übrigen ist jedenfalls für Kabul als Zielort der Rückkehr auch nicht ersichtlich, dass ein Empfang der sog. zweiten Starthilfe sowie der Coronavirus-Zusatzzahlungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an tatsächlichen Hindernissen im Land scheitert.

142

Einer Berücksichtigung der im Rahmen der Programme REAG/GARP und StarthilfePlus gewährten Hilfen steht auch nicht entgegen, dass diese sich an freiwillige bzw. die Rückkehr jedenfalls aktiv mitgestaltende Asylbewerber richten, eine „echte“ Freiwilligkeit jedoch in vielen Fällen, wie dies auch der Kläger geltend macht, nicht gegeben ist. Kann eine Rückkehr in das Herkunftsland bei Mitwirkung des Asylbewerbers in solcher Weise ausgestaltet werden, dass die bei Rückkehr dort vorgefundenen Bedingungen nicht die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots erfüllen, so ist diese Mitwirkung grundsätzlich auch dann zumutbar, wenn der Asylbewerber bei freier Wahl einen Verbleib im Bundesgebiet vorziehen würde. Denn grundsätzlich bedarf derjenige nicht des Schutzes im Bundesgebiet, der eine geltend gemachte Gefährdung in seinem Heimatland oder in einem anderen Zielstaat der Abschiebung durch zumutbares eigenes Verhalten, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehört, abwenden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.4.1997, 9 C 38.96, BVerwGE 104, 265, juris Rn. 27 m.w.N.; VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/00, juris Rn. 110 m.w.N.). Ob etwas anderes zu gelten hätte, wenn der Asylbewerber aufgrund zwingender tatsächlicher Umstände an der rechtzeitigen Stellung eines Förderungsantrages im Bundesgebiet gehindert ist, bedarf hier keiner Entscheidung, da solche Hindernisse im Falle des Klägers weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind.

143

(bb) Die aktuell im Rahmen der Programme REAG/GARP und StarthilfePlus verfügbaren Rückkehrhilfen in Höhe von 3.700 EUR bzw. ca. 4.350 USD erlauben es einer Einzelperson in Kabul bei Zugrundelegung realistischer Lebenshaltungskosten, ihren Lebensunterhalt zumindest auf dem von Art. 3 EMRK gebotenen Niveau – auch ohne Einkommenserzielung aus eigener Erwerbstätigkeit – für mehrere Jahre zu bestreiten.

144

Wie bereits ausgeführt, belaufen sich die allgemeinen Lebenshaltungs- und die Mietkosten, zu denen ein Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums in Kabul derzeit zu bestreiten ist, auf jedenfalls nicht mehr als insgesamt 130 USD (s.o. (1) (f) und (g)). Diese Kosten kann ein Rückkehrer unter Einsatz allein der vorgenannten finanziellen Rückkehrhilfen in Höhe von 3.700 EUR bzw. ca. 4.350 USD über einen Zeitraum von mehr als 33 Monaten decken. Der Gesamtbetrag von 130 USD an laufenden Verbrauchskosten im Monat erscheint dem Senat dabei am Maßstab von Art. 3 EMRK jedenfalls nicht zu niedrig angesetzt. Ob er tatsächlich noch über dem Niveau dessen liegt, was aktuell in Afghanistan bzw. Kabul als Lebensunterhalt am Rande des Existenzminimums im Sinne der Anforderungen von Art. 3 EMRK anzusehen ist, bedarf hier keiner Entscheidung (gg. Berücksichtigung finanzieller Rücklagen für unbenannte Bedarfe i.R.v. Art. 3 EMRK: VG Hamburg, GB v. 26.2.2021, 1 A 53/19, juris Rn. 46). Anhaltspunkte hierfür könnten die Umstände bieten, dass im Jahr 2019 etwa die Hälfte der abhängig Beschäftigten in Afghanistan ein durchschnittliches Monatseinkommen von im Mittel (nur) ca. 100 USD erzielte (s.o. (1) (e)) und dass nach Einschätzung von OCHA im Jahr 2021 ein Anteil von mehr als 90% der afghanischen Bevölkerung von weniger als 2 USD/Tag bzw. 60 USD/Monat lebt (s.o. (1) (d) (aa)). Würden als monatliche Lebenshaltungs- und Unterkunftskosten die beiden letztgenannten, für die Mehrheit der (regelhaft mehrköpfigen) Haushalte allein verfügbaren Budgets zugrunde gelegt – ohne dabei die derzeitige Neuverschuldung afghanischer Privathaushalte (s.o. (1) (d) (aa)) zu verkennen –, so wären die finanziellen Rückkehrhilfen erst nach mehr als 43 bzw. 72 Monaten verbraucht. Legt man hilfsweise den regulären, nicht durch pandemiebedingte Zusatzzahlungen erhöhten Förderungsumfang der oben genannten Hilfsprogramme von 2.200 EUR bzw. ca. 2.590 USD zugrunde, so ergeben sich immerhin überbrückbare Zeitspannen von mehr als 19 bzw. 25 bzw. 43 Monaten.

145

Die genannten Zeitspannen von mehr als 33 Monaten (bei Zugrundelegung von 4.350 USD) bzw. 19 Monaten (bei Zugrundelegung von 2.590 USD) reduzieren sich selbst dann nicht erheblich, wenn berücksichtigt wird, dass der vorgenannte Kostenbetrag von etwa 130 USD noch nicht die Heizkosten, eine ggf. erforderliche Mietkaution sowie eine Erstausstattung im Haushalt umfasst. Denn zum einen erscheint es, wie ebenfalls bereits ausgeführt (s.o. (1) (g)), einem jungen, gesunden, alleinstehenden und männlichen Rückkehrer am Maßstab von Art. 3 EMRK zumutbar, sich Wohnraum – jedenfalls sobald wie möglich – mit anderen Personen zu teilen, wodurch sich sein Anteil an den beiden erstgenannten Ausgabenposten deutlich verringert. Zum anderen ist davon auszugehen, dass die Kosten der Anschaffung einer Erstausstattung im Haushalt (Ofen, Kocher, Wasserkanister, Geschirr, Decken) einen Betrag von jedenfalls 300 USD kaum erreichen werden (vgl. auch Schwörer, Anhörung, S. 17; JMMI, Afghanistan Minimum Expenditure Basket Calculations, 10.-23.1.2021, S. 3, 7).

146

Darauf, ob die vorgenannten Spannen zeitlicher Reichweite der derzeit gewährten finanziellen Rückkehrhilfen im Einzelfall tatsächlich erreicht werden oder ein Verbrauch wegen besonderer Ausgaben bisweilen früher eintritt, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Der Senat verkennt auch nicht, dass sich Angehörige der hier zu betrachtenden Personengruppe möglicherweise nach einer Rückkehr Rückzahlungserwartungen bezüglich zur Finanzierung ihrer Ausreise aufgenommener Darlehen gegenübersehen (vgl. Asylos, Situation of Young Male „Westernised“ Returnees to Kabul, August 2017, S. 30 ff., 75 ff.). Die Zeitspannen lassen es nach Auffassung des Senats jedenfalls regelhaft nicht zu, die Berücksichtigungsfähigkeit und -bedürftigkeit der derzeit gewährten finanziellen Rückkehrhilfen im Rahmen der Rückkehrprognose aus der Erwägung heraus abzulehnen, diese Hilfen böten nur eine vorübergehende, hinsichtlich des Verbrauchs alsbald absehbare Unterstützung. Auch handelt es sich durchweg um Zeiträume, die in ihrer Dauer grundsätzlich (s. zu denkbaren Ausnahmen im Folgenden unter (c)) jenseits dessen liegen, was nach Auffassung des Senats noch als hinreichender zeitlicher Zurechnungszusammenhang zwischen einer Rückkehr und einer möglichen Verelendung infolge der allgemeinen humanitären Verhältnisse angesehen werden kann.

147

(c) Es ist auch nicht festzustellen, dass ein Rückkehrer mit den hier relevanten Merkmalen nach Verbrauch der vorgenannten Rückkehrhilfen in einem engeren zeitlichen Zusammenhang mit hoher Wahrscheinlichkeit verelenden wird. Zu dieser ergänzenden Betrachtung sieht der Senat sich durch die Erwägung veranlasst, dass der Schutzzweck von Art. 3 EMRK durch eine Auslegung verfehlt würde, nach der die Voraussetzungen der Norm aufgrund der Verfügbarkeit solcher Rückkehrhilfen zu verneinen wären, die nach ihrer Höhe die Bestreitung eines Zeitraumes (womöglich: „so gerade“) jenseits dessen erlauben, was nach der Rechtsprechung des EGMR als eine „schnelle“ Verelendung anzusehen wäre, wenn gleichzeitig abzusehen ist, dass der Rückkehrer nach Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engeren zeitlichen Zusammenhang mit hoher Wahrscheinlichkeit verelenden wird. Mit anderen Worten darf die Berücksichtigung von finanziellen Rückkehrhilfen nicht dazu führen, den mit Art. 3 EMRK intendierten Schutz durch eine starre zeitliche Bestimmung seiner Reichweite – und ggf. entsprechend bemessene Rückkehrhilfen – auszuhebeln (ähnlich VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 67 f. (nachlaufende Betrachtung, ob ein Leben des Ausländers am Rande des Existenzminimums nach Ablauf eines Jahreszeitraums unwahrscheinlich oder ausgeschlossen ist)).

148

Ein solcher Geschehensfortgang ist in der vorliegenden Konstellation jedoch nicht zu erwarten. Denn es ist – unter Zugrundelegung der aktuellen humanitären Verhältnisse – bereits nicht beachtlich wahrscheinlich, dass ein junger, gesunder und alleinstehender Rückkehrer nach Afghanistan bzw. Kabul nicht in der Lage wäre, jedenfalls am Ende einer – mittels finanzieller Rückkehrhilfen wirtschaftlich überbrückten – Eingewöhnungsphase durch eigene Erwerbstätigkeit einen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums zu bestreiten; umso weniger ist zu befürchten, dass er nach Verbrauch der vorgenannten Rückkehrhilfen in einem engeren zeitlichen Zusammenhang mit hoher Wahrscheinlichkeit verelenden wird.

149

Legte man dabei als monatliches Einkommen aus eigener Erwerbstätigkeit den Ende Februar 2021 in Kabul für einen ungelernten Tagelöhner – bei durchschnittlich etwa zwei verfügbaren Arbeitstagen zu je 350 AFN Tagelohn (vgl. WFP/vam, Afghanistan, Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 42 v. 3.3.2021, S. 7) – erzielbaren Verdienst von 3.000 AFN bzw. ca. 39 USD zugrunde, so wären zwar aus diesem voraussichtlich lediglich die laufenden Verbrauchskosten (Lebensmittel, Hygieneartikel, Trinkwasser, Kochbrennstoff, ggf. Bekleidung und geringe medizinische Ausgaben; s.o. (1) (f)), nicht aber zugleich Unterkunftskosten zu decken. Allerdings ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass das vorgenannte Einkommensniveau für einen Rückkehrer auch nach einer mehrmonatigen bzw. vielmehr (s.o. (b)) mehrjährigen, mit Rückkehrhilfen überbrückten Wiedereinfindungsphase und zudem dann mit solcher Dauer bestände, dass aufgrund dauerhaft defizitärer Einkommensverhältnisse eine Verelendung drohen würde. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass es sich bei den genannten Verdienstmöglichkeiten eines ungelernten Tagelöhners Ende Februar 2021 um eine Spätwintersituation im Rahmen eines saisonabhängigen Arbeitsmarktes handelt; schon bei Zugrundelegung von drei verfügbaren Arbeitstagen je Woche, wie sie vor Wintereinbruch im Herbst 2020 auch in Kabul noch erzielbar waren (s.o. (1) (e) und vgl. WFP/vam, Afghanistan, Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 29 v. 2.12.2020, S. 7), ergäbe sich auch für eine ungelernte Tagelöhnertätigkeit ein erzielbarer Monatsverdienst von 4.500 AFN bzw. ca. 58 USD, was nur knapp unterhalb des monatlichen Budgets von mehr als 90 % der afghanischen Bevölkerung liegt. Zum anderen und insbesondere kann nicht als beachtlich wahrscheinlich gelten, dass ein junger, gesunder und alleinstehender männlicher Rückkehrer nach Afghanistan bzw. Kabul auch nach Ablauf einer mehrmonatigen bzw. vielmehr mehrjährigen Wiedereinfindungsphase dauerhaft auf die Einkommensverhältnisse eines ungelernten Arbeiters im Rahmen der öffentlichen Tagelöhnermärkte beschränkt wäre.

150

Beachtlich wahrscheinlich ist nach der Einschätzung des Senats insoweit vielmehr, dass es einem Rückkehrer mit den vorgenannten Merkmalen innerhalb dieses Zeitraums gelingen kann, mit Hilfe eines vor Ort allmählich aufgebauten Netzwerkes nicht nur seine Unterkunftssituation zu konsolidieren, sondern sich – jedenfalls phasenweise – auch Einkunftsmöglichkeiten oberhalb des Niveaus eines ungelernten Tagelöhners zu erschließen. In diesem Zusammenhang sieht der Senat in den aktuellen Erkenntnisquellen keine belastbare Grundlage für die Annahme, der allmähliche Aufbau eines Netzwerks sozialer Verbindungen, insbesondere innerhalb der örtlichen Gemeinschaft, könne einem jungen, gesunden und alleinstehenden männlichen Rückkehrer nach Kabul nicht gelingen (vgl. auch VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, A 11 S 316/17, juris Rn. 425; VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 64, 81 f.; VG Hamburg, GB v. 26.2.2021, 1 A 53/19, juris Rn. 30 (im Einzelfall möglich); zweifelnd Schwörer, Anhörung, S. 7 („[E]s ist sehr schwer.“)). Angesichts des Umstandes, dass etwa 40 % der afghanischen Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben (vgl. FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 20) und sich die Bevölkerung in weiten Teilen Kabuls inzwischen mehrheitlich aus Auslandsrückkehrern und Binnenvertriebenen zusammensetzt (FIS, a.a.O., S. 3, 11; EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 18 f., 32), dürfte es sich bei der Notwendigkeit des Aufbaus neuer sozialer Verbindungen am Zielort der Rückkehr um ein verbreitetes Phänomen handeln (so auch VG Freiburg, a.a.O., Rn. 81; vgl. auch BFA, COI v. 16.12.2020, S. 35). Praktisch dürfte dies neben dem Umstand, dass sich Zuziehende in Kabul typischerweise in örtlichen Gemeinschaften mit ähnlichem kulturellen, Herkunfts- und Migrationshintergrund zusammenschließen (vgl. BFA, a.a.O., S. 35, 294 f.; EASO, a.a.O., S. 12, 19), für junge Rückkehrer aus Europa insbesondere dadurch erleichtert werden, dass für diese in Kabul soziale Projekte zur Vernetzung miteinander und zu ihrer Reintegration in die örtliche Gemeinschaft bestehen (s.o. (1) (h) (cc)). Den Quellen sind auch Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass wechselseitige Hilfe innerhalb der örtlichen Gemeinschaft auch – und bisweilen gerade – unter den aktuellen Pandemiebedingungen gelingt (vgl. Mashal, Waiving Rent and Making Masks, New York Times v. 31.3.2020; FES, On Shaky Grounds, S. 12; Asia Foundation, Afghanistan’s COVID-19 Bargain). Ein freiwilliger Rückkehrer aus Deutschland dürfte sich insoweit – trotz möglicher Vorurteile in der Gesellschaft (s.u. c) bb) bbb) (3)) – in einer vergleichsweise günstigen Situation befinden, als er durch Rückkehrhilfen auf absehbare Zeit finanziell abgesichert ist und hierdurch die Möglichkeit hat, sich ohne unmittelbaren Erwerbsdruck das Vertrauen der örtlichen Gemeinschaft – und auch potentieller Arbeitgeber – durch Hilfeleistungen und örtliches Engagement zu verdienen. Umso mehr dürfte dies gelten, sofern er im Einzelfall über besondere, im Ausland erworbene handwerkliche und sonstige berufliche Qualifikationen verfügt (s.u. c) cc) aaa)).

151

Gelingt es einem Rückkehrer auf diese Weise, sein Einkommensniveau auch nur auf dasjenige eines Tagelöhners mit erlernten Fertigkeiten im Herbst/Winter 2020/2021 in Kabul zu steigern, so erscheint – bei einem solchen Tagelohn von aktuell 750 AFN bzw. ca. 9,74 USD – ein monatliches Einkommen zwischen 6.430 AFN bzw. 83 USD (2 Arbeitstage/Woche) und 9.643 USD bzw. 125 USD (3 Arbeitstage/Woche) möglich (vgl. WFP/vam, Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 29 v. 2.12.2020, S. 7; Issue 42 v. 3.3.2021, S. 7).

152

(d) Jedenfalls – unabhängig von den vorgenannten Erwägungen – ist den zahlreichen und eingehenden Erkenntnisquellen zur aktuellen humanitären Situation in Afghanistan bzw. Kabul nicht belastbar zu entnehmen, dass Angehörige der hier zu betrachtenden Rückkehrergruppe in der Vergangenheit – über mögliche Einzelfälle hinaus – verelendet sind und daher auch in der Zukunft Rückkehrern ein solches Schicksal mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

153

Um verlässlich von dem Schicksal anderer Personen auf das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr für einen Einzelnen, sich im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sehen, zu schließen, bedarf es zum einen einer Gruppe von Personen, bei denen sich ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK bereits feststellen lässt, und zum anderen der Überzeugung, dass der betroffene Einzelne mit diesen Personen die Merkmale teilt, die für den Eintritt der Umstände, die zu einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung führen, maßgeblich waren (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, A 11 S 316/17, juris Rn. 195 ff.; Urt. v. 12.12.2018, A 11 S 1923/17, juris Rn. 137 ff.; Urt. v. 26.6.2019, 11 S 2108/18, juris Rn. 52 ff.; so auch VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 47; OVG Koblenz, Urt. v. 30.11.2020, 13 A 11421/19, juris Rn. 111; VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 70; Urt. v. 8.9.2020, A 8 K 10988/17, juris Rn. 32; VG Karlsruhe, Urt. v. 15.5.2020, A 19 K 16467/17, juris Rn. 84; vgl. auch OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 106). Ergibt die Quellenlage, dass Rückkehrer den Herausforderungen schlechter humanitärer Verhältnisse in ihrem Herkunftsland mit sehr unterschiedlichen Bewältigungsmechanismen, aber in der Vermeidung einer Verelendung überwiegend erfolgreich begegnen, so steht dies der Prognose entgegen, dass eine Abschiebung aufgrund der bestehenden humanitären Verhältnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung führen wird; denn unter diesen Umständen lässt sich bereits keine hinreichend große bzw. gleichartige Gruppe von Rückkehrern feststellen, deren Merkmale der Kläger im Einzelfall teilt (vgl. auch VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, a.a.O., Rn. 392; Urt. v. 12.12.2018, a.a.O., Rn. 210; Urt. v. 26.6.2019, a.a.O., juris Rn. 110, 127; VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, a.a.O., Rn. 72; Urt. v. 8.9.2020, a.a.O., Rn. 57).

154

Im Sinne der vorgenannten Grundsätze wird die Schlussfolgerung, dass für junge, erwachsene, gesunde und alleinstehende männliche Rückkehrer – insbesondere aus Europa – nicht aufgrund der allgemeinen humanitären Lage in Afghanistan bzw. Kabul die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung besteht, in der Rechtsprechung vielfach daraus abgeleitet, dass (weiterhin) keine belastbaren Berichte über eine Verelendung dieser Rückkehrergruppe bekannt sind (vgl. hierzu und zum Folgenden OVG Bautzen, Urt. v. 18.3.2019, 1 A 198/18.A, juris Rn. 80 ff.; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 100, 106; VGH München, Beschl. v. 17.12.2020, 13a B 20.30957, juris Rn. 25; Urt. v. 1.10.2020, 13a ZB 20.31004, juris Rn. 41; Urt. v. 6.7.2020, 13a B 18.32817, juris Rn. 63; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 266 ff.; VG Aachen, Urt. v. 18.9.2020, 7 K 157/20.A, juris Rn. 97; VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 72; Urt. v. 8.9.2020, A 8 K 10988/17, juris Rn. 57; VG Köln, Beschl. v. 4.3.2021, 21 L 153/21.A, juris Rn. 111; VG Würzburg, Urt. v. 26.11.2020, W 1 K 20.31152, juris Rn. 50; Urt. v. 2.9.2020, W 1 K 20.30872, juris Rn. 40, 45; so auch noch VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, 11 S 316/17, juris Rn. 400 ff., 407 ff., 421; Urt. v. 12.12.2018, A 11 S 1923/17, juris Rn. 200 ff., 206 ff., Urt. v. 26.6.2019, 11 S 2108/18, juris Rn. 117 ff., 123 ff.; Urt. v. 29.10.2019, A 11 S 1203/19, juris Rn. 48; a.A. VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 65; dem folgend OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2020, 1 LB 351/20, juris Rn. 49 f.; Urt. v. 22.9.2020, 1 LB 258/20, juris Rn. 47 ff.). Es wird festgestellt, dass, obwohl Angehörige auch dieser Personengruppe seit dem Jahr 2003 in erheblicher Zahl nach Afghanistan zurückgekehrt sind und dabei anhaltend schwierige humanitäre Verhältnisse vorgefunden haben, den umfangreichen Erkenntnismitteln keine belastbaren Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, dass diese Rückkehrer in Afghanistan bzw. Kabul ohne ein soziales Netzwerk nicht wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums bestreiten können bzw. dass sie sich gar in überwiegender Zahl oder typischerweise Hunger oder Obdachlosigkeit ausgesetzt sehen (vgl. zum Vorstehenden insb. VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, a.a.O., Rn. 407; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, a.a.O., Rn. 272 ff., 280).

155

Auch das erkennende Gericht stützt sich auf diese Erwägung, die es – auf Grundlage aktueller Erkenntnisquellen – für im Tatsächlichen weiterhin zutreffend (hierzu (aaa)) und darüber hinaus valide (hierzu (bbb)) erachtet.

156

(aa) Die vorgenannte Erwägung erscheint auch auf Grundlage aktueller Erkenntnisquellen im Tatsächlichen zutreffend.

157

Zwar ergibt die dargestellte Erkenntnisquellenlage eine erhebliche weitere Zuspitzung der humanitären Verhältnisse – im Wesentlichen, aber nicht nur – aufgrund der Pandemielage, insbesondere im Hinblick auf verschlechterte Erwerbsmöglichkeiten und gesunkene Haushaltseinkommen, damit einhergehende Verschuldung und eine erhöhte Nahrungsmittelunsicherheit. Gleichwohl existieren, soweit ersichtlich, weiterhin keine belastbaren Berichte zu einer über mögliche Einzelfälle hinausgehenden Verelendung der hier fraglichen Gruppe von Rückkehrern (zumal: aus Europa). Dies gilt bis hin zu jüngsten Erkenntnisquellen (vgl. etwa FEWS NET, Food Security Outlook February to September 2021; OCHA, Operational Situation Report v. 18.2.2021; Humanitarian Needs Overview 2021; SIGAR, Quarterly Report v. 30.1.2021; BFA, COI v. 16.12.2020).

158

Es gilt darüber hinaus auch für Quellen aus den zurückliegenden Jahren, denen eine solche Aussage bisweilen zugemessen wird. Soweit in der Rechtsprechung (vgl. VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 65; dem folgend OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2020, 1 LB 351/20, juris Rn. 49) gegen den oben genannten Befund einwendet wird, er könne angesichts der Beschreibung des akuten humanitären Bedarfs von Rückkehrern in dem durch OCHA veröffentlichten Humanitarian Needs Overview 2020 und den Ergebnissen der Finnish Fact-Finding Mission to Kabul im April 2019 „nicht uneingeschränkt“ aufrechterhalten werden, vermag der erkennende Senat auch diesen Quellen keine belastbaren Berichte zu einer signifikanten Verelendung von Angehörigen der hier fraglichen Gruppe zu entnehmen. Denn eine nähere Betrachtung ergibt, dass sich die (wohl) in Bezug genommenen Schilderungen humanitärer Verhältnisse – soweit es sich dabei um belastbare und allgemein aussagekräftige Erkenntnisse handelt – jedenfalls nicht spezifisch auf die hier zu betrachtende Personengruppe, sondern ganz allgemein auf Rückkehrer („returnees“) beziehen.

159

So enthält zwar das Humanitarian Needs Overview 2020 des OCHA aus dem Dezember 2019 aufgrund seines sektorspezifischen Ansatzes auch Ausführungen zu einer zunehmend prekären humanitären Lage von Rückkehrern („returnees“, „cross-border returnees“). Diese sind jedoch auf Rückkehrer insgesamt – in Abgrenzung insbesondere zu Binnenvertriebenen – bezogen und umfassen damit auch besonders vulnerable Gruppen wie Familien mit minderjährigen Kindern, Familien ohne erwachsenes männliches Mitglied, ältere Menschen und solche mit Behinderungen oder Krankheiten. Einen Abschnitt oder spezifische Aussagen zu einer signifikanten Verelendung der hier relevanten Personengruppe enthält der Überblick nicht. Entsprechendes gilt für das inzwischen aktuelle Humanitarian Needs Overview 2021 aus dem Dezember 2020.

160

Auch der Bericht des Finnish Immigration Service über die Fact-Finding Mission to Kabul im April 2019 trifft keine spezifischen Aussagen zu einer signifikanten Verelendung der hier relevanten Personengruppe. Er enthält im Übrigen auch für keine spezifizierte Rückkehrergruppe den konkreten, kohärenten und widerspruchsfreien Befund, ohne ein familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk sei insbesondere die Suche nach Arbeit und Unterkunft für diese Rückkehrer zwingend oder jedenfalls in aller Regel erfolglos, sodass diese verelendeten. Die in dem Bericht insoweit wiedergegebenen Aussagen bzw. Interviews (vgl. dort insb. S. 11 ff.) beschreiben die Schwierigkeiten von Rückkehrern nach Afghanistan vielmehr mit sehr unterschiedlicher Intensität und stehen zueinander in teilweise erheblicher inhaltlicher Spannung.

161

Auch verschiedenen Studien bzw. Berichten zur sozioökonomischen Situation von Europa-Rückkehrern in Afghanistan, deren Befunde in der Rechtsprechung bisweilen als Indizien für eine Verelendung dieser Rückkehrergruppe herangezogen werden (vgl. VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 36; sodann auch OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2020, 1 LB 351/20, juris Rn. 49; jew. unter Bezugnahme auf Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation, Deportation to Afghanistan, November 2019, S. 17; BAMF/IOM, Geförderte Rückkehr aus Deutschland, September 2019, S. 52 f.; Mixed Migration Center, Distant Dreams, Januar 2019, S. 31 f. (nur 1/7 der Befragten Rückkehrer aus Europa); REACH/Mixed Migration Platform, Migration from Afghanistan to Europe (2014-2017), Oktober 2017, S. 2 f., 21 f.; Refugee Support Network, After Return, April 2016, S. 38 ff.), sind belastbare Belege für eine über mögliche Einzelfälle hinausgehende Verelendung von Angehörigen der hier fraglichen Gruppe nicht zu entnehmen. Über den durchgängigen Befund, dass die Mehrheit der Befragten auch mehrere Monate nach Rückkehr noch ohne stabile und bedarfsdeckende Beschäftigung war, hinaus lässt sich den – methodisch recht unterschiedlichen – Studien bzw. Berichten keine belastbare Aussage zu einer Verelendungsgefahr entnehmen, da diese Quellen hierzu keine Feststellungen treffen. Vor diesem Hintergrund wirken sich methodische Gesichtspunkte – wie insbesondere die meist geringen Befragtenzahlen, die teilweise stark voneinander abweichenden Beschäftigungslosenquoten und der Umstand, dass Befragte vielfach in anderen Regionen Afghanistans lebten als Kabul – nicht eigenständig aus.

162

Entsprechendes gilt für Berichte von Stahlmann, wonach für einen signifikanten Anteil der 547 zwischen Dezember 2016 und April 2019 aus Deutschland abgeschobenen Männer festgestellt werden könne, dass diesen nach ihrer Rückkehr eine wirtschaftliche Reintegration in Afghanistan nicht gelinge und sie zudem in vielen Fällen Opfer von Drohungen oder Gewalttaten würden (vgl. Asylmagazin 2019, S. 276 ff.; ähnlich dies., Anhörung durch den VGH Mannheim in der mündlichen Verhandlung v. 12.10.2018 im Vf. A 11 S 316/17, Anl. 2 z. Sitzungsprotokoll, S. 1 ff.). Wenngleich die in diesem Zusammenhang dargelegten methodischen Schwierigkeiten, in einer signifikanten Anzahl von Fällen Informationen zum weiteren Ergehen im Heimatland zu erlangen, weitgehend nachvollziehbar sind, erscheint der Anteil der Personen, zu denen der Autorin letztlich nähere Informationen vorgelegen haben, mit 31 von 547 für eine Ableitung quantitativ belastbarer Aussagen schlicht zu gering (ähnlich insb. VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, A 11 S 316/17, juris Rn. 408 ff.; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 276 ff.). Im Übrigen berichtet diese Quelle zwar zu Art und (Miss-)Erfolg der nach Rückkehr unternommenen Versuche zur Bestreitung des Lebensunterhalts, benennt aber (ebenfalls) keine Fälle festgestellter Verelendung.

163

(bb) Die Erwägung, dass mangels entsprechender Berichte nicht davon auszugehen ist, dass Angehörige der hier relevanten Personengruppe nach einer Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul – ohne Unterstützung durch ein soziales Netzwerk – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verelenden, erscheint auch valide. Die gegen sie eingewendeten alternativen Erklärungsansätze greifen mangels Schlüssigkeit und empirischer Fundierung nicht durch. Sie unterstreichen zwar die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der in der afghanischen Bevölkerung und auch von Rückkehrern im Einzelfall verfolgten Bewältigungsstrategien; eine Überschreitung der Schwelle von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wird mit ihnen jedoch nicht aufgezeigt. Dies gilt insbesondere für die Einwände, das Fehlen von Berichten zu signifikanter Verelendung von Angehörigen der hier relevanten Personengruppe sei auf ein verelendungsbedingtes Abreißen des Kontaktes zu Hilfspersonen (hierzu (aaa)) oder auf eine Flucht vor drohender Verelendung in sog. negative Coping-Strategien zurückzuführen (hierzu (bbb).

164

(aaa) Der Einwand, die Verelendung junger, männlicher und alleinstehender Rückkehrer aus dem Ausland erscheine deshalb nicht in Lageberichten, weil gerade infolge der Verelendung die Verbindung zu Hilfsorganisationen und anderen Kontaktpersonen abreiße (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2019, S. 281; dem folgend VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 65), überzeugt vor dem Hintergrund der tatsächlichen Verhältnisse in Afghanistan und insbesondere in Kabul nicht.

165

Aufgrund der weitgehenden Abhängigkeit des afghanischen Staates von politischer, militärischer und humanitärer Hilfe ist eine im internationalen Vergleich auffallend hohe Zahl ausländischer und internationaler Organisationen im Land tätig, welche insbesondere die humanitäre Lage engmaschig und detailliert dokumentieren. OCHA zählt allein 162 aktuell in Afghanistan tätige humanitäre Hilfsorganisationen (vgl. Humanitarian Needs Overview 2021, S. 25). Aufgrund der starken Verbreitung von Mobiltelefonie – in etwa 90 % der Haushalte –, des Internets und sozialer Medien in afghanischen Großstädten (vgl. BFA, COI v. 16.12.2020, S. 238) dürfte auch die Aufrechterhaltung des Kontakts zwischen Mitarbeitern von NGOs oder Hilfsinitiativen im Ausland und einzelnen Zivilpersonen weitreichend gewährleistet sein. Insbesondere Umfragen unter zufällig ausgewählten und bedürftigen afghanischen Haushalten, wie sie beispielsweise im Rahmen von IPC, ERM, JMMI oder REACH zur finanziellen und Ernährungssituation der Befragten durchgeführt werden, deuten darauf hin, dass Hilfsorganisationen das Ausmaß der prekären humanitären Situation auch und gerade in Bezug auf gefährdete Gruppen regelhaft präzise und zutreffend erfassen. Daneben kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, dass Afghanistan im regionalen Vergleich über eine besonders lebendige und pluralistische Medienlandschaft verfügt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 7; BFA, COI v. 16.12.2020, S. 236), welche die Entwicklung der wirtschaftlichen und humanitären Situation ebenfalls verfolgt. Vor diesem Hintergrund erscheint zumindest sehr unwahrscheinlich, dass Berichte über eine nicht nur in Einzelfällen eintretende Verelendung junger Rückkehrer (zumal: aus Europa) in afghanischen Städten keinen Eingang in Pressemeldungen oder Länderberichte von Hilfsorganisationen finden (ähnlich VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 72).

166

(bbb) Auch der Einwand, eine verbreitete Verelendung junger männlicher Rückkehrer aus dem Ausland werde nur dadurch vermieden, dass diese in „negative Coping-Strategien“ wie Straftaten und sonstiges rechtswidriges Verhalten, Anschluss an bewaffnete Konfliktparteien oder erneute Auswanderung auswichen (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2019, S. 285 f.; dies., Gutachten v. 28.3.2018 für das VG Wiesbaden im Verfahren 7 K 1757/16.WI.A, S. 164; dem folgend VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 65; OVG Bremen, OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2020, 1 LB 351/20, juris Rn. 50; Urt. v. 22.9.2020, 1 LB 258/20, juris Rn. 50; in diese Richtung auch Schwörer, Gutachten, S. 17), greift nicht durch.

167

Zwar ist aufgrund der Quellenlage davon auszugehen, dass die vorgenannten Verhaltensweisen in der afghanischen Bevölkerung durch die schlechte humanitäre Situation gefördert werden (vgl. EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 15, 38; Samuel Hall Research, COVID-19 in Afghanistan, S. 4 f.; FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 8; SFH, Gefährdungsprofile v. 30.9.2020, S. 21; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 7, 13, 34, 42, 43, 73) und sich dabei insbesondere Familien mit Kindern in großer Bedrängnis sehen (vgl. World Vision, Impact of COVID-19 on the Most Vulnerable Families, S. 4). Zudem ist aus Interviews zu ersehen, dass solche Auswege – wenngleich nur nachrangig bzw. selten – auch von jungen männlichen Rückkehrern aus dem Ausland zumindest erwogen werden (vgl. die unter (aa) zur sozioökonomischen Situation von Rückkehrern zitierten Quellen). Abgesehen davon aber, dass einige der häufiger genannten negativen Bewältigungsformen – wie Kinderarbeit oder eine Zwangsverheiratung von Mädchen – im Falle erwachsener und alleinstehender männlicher Rückkehrer nicht in Betracht kommen, existieren auch darüber hinaus keine belastbaren Berichte dazu, dass es sich bei Straftaten, sonstigem rechtswidrigen Verhalten und dem Anschluss an bewaffnete Konfliktparteien um häufig oder gar regelhaft gewählte Auswege gerade unter Angehörigen der hier fraglichen Rückkehrergruppe handelt. Dann aber ist auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Angehörige dieser Gruppe eine drohende Verelendung im Sinne der Anforderungen von Art. 3 EMRK nur auf solche Weisen abzuwenden vermögen.

168

Entsprechendes gilt für den Verweis auf erneute Ausreisen. Die Beweggründe für eine erneute Ausreise sind, wie sich aus Befragungen von Rückkehrern ergibt, – ähnlich wie für die Erstausreise – vielfältig und umfassen auch Unzufriedenheit mit den sich in Afghanistan bietenden Berufs- und Ausbildungschancen, Sorgen hinsichtlich der Sicherheitslage, Resignation in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, häufige Erfahrungen mit Korruption im Alltag, der Vergleich mit den erlebten Verhältnissen in Europa und eine damit verbundene Entfremdung von der afghanischen Gesellschaft sowie unter Umständen der eigenen Familie (vgl. Asylos, Situation of Young Male „Westernised“ Returnees to Kabul, August 2017, S. 31 ff., 75 ff.; BAMF/IOM, Geförderte Rückkehr aus Deutschland, September 2019, S. 63 ff.; Mixed Migration Center, Distant Dreams, Januar 2019, S. 4, 46 ff.; REACH/Mixed Migration Platform, Migration from Afghanistan to Europe (2014-2017), Oktober 2017, S. 3, 21 ff.; Refugee Support Network, After Return, April 2016, S. 50 ff.). Die Ziele einer erneuten Ausreise gehen damit zumindest vielfach über die Abwendung einer bevorstehenden Verelendung hinaus (vgl. auch VG Freiburg, Urt. v. 5.3.2021, A 8 K 3716/17, juris Rn. 72). Der Annahme, eine erneute Ausreise diene regelhaft der Abwendung einer in absehbarer Zeit oder gar kurzfristig bevorstehenden Verelendung im Sinne der Anforderungen von Art. 3 EMRK, steht daneben auch der typischerweise sehr hohe finanzielle Aufwand einer Emigration aus Afghanistan, zumal bis nach Europa, entgegen.

169

Die Quellenlage deutet vielmehr darauf hin, dass die von jungen, erwachsenen, gesunden und alleinstehenden männlichen Rückkehrern verfolgten Strategien zur Bestreitung des Lebensunterhalts äußerst unterschiedlich und stark einzelfallabhängig sind (vgl. auch OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 278; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 102; VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, A 11 S 316/17, juris Rn. 416; Urt. v. 12.12.2018, A 11 S 1923/17, juris Rn. 211), wobei diese Lösungswege nicht zwingend oder auch nur typischerweise einen der vorgenannten Bewältigungsmechanismen zur Vermeidung einer Verelendung voraussetzen. So kommt – neben der Auskömmlichkeit eigener Erwerbstätigkeit, auch als Tagelöhner – als Erklärung dafür, dass trotz der seit Jahren angespannten humanitären Lage keine Berichte über eine signifikante Verelendung junger männlicher Rückkehrer bekannt sind, auch in Betracht, dass diese Personen nach ihrer Rückkehr tatsächlich doch Unterstützung durch familiäre oder sonstige soziale Netzwerke erfahren (vgl. dazu OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, a.a.O., Rn. 103; VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, a.a.O., Rn. 425), wie sich auch aus Umfragen unter Rückkehrern ergibt (vgl. BAMF/IOM, Geförderte Rückkehr aus Deutschland, September 2019, S. 6, 32, 38 ff., insb. 55 ff.; REACH/Mixed Migration Platform, Migration from Afghanistan to Europe (2014-2017), Oktober 2017, S. 3, 21 ff.; Refugee Support Network, After Return, April 2016, S. 18 ff.). Die Verfügbarkeit dieser Unterstützung wiederum kann entweder darin begründet liegen, dass diese Rückkehrer die Verfügbarkeit und den Nutzen familiärer Verbindungen im Rahmen ihrer Angaben im Asylverfahren – bewusst oder unbewusst – zu pessimistisch eingeschätzt haben, ein Netzwerk also bereits bestand, oder darin, dass der Neuaufbau eines sozialen Netzwerks vor Ort, wenngleich vermutlich mühsam und langwierig, schließlich doch gelingt (hierzu bereits (c)).

170

Als weitere Erklärung für das Fehlen belastbarer Berichte zu einer Verelendung junger Rückkehrer gerade aus Europa bzw. Deutschland kommt in Betracht, dass die verfügbaren Rückkehrhilfen in Gestalt von Geld-, Sach- und Beratungs- bzw. Unterstützungsleistungen ihre Funktion der Reintegrationshilfe nicht nur in Ausnahmefällen tatsächlich erfüllen. Dies kann auch bedeuten, dass diese Hilfen erfolgreich zum Aufbau zumindest einer bescheidenen unternehmerischen Selbstständigkeit genutzt werden – und dem geförderten Rückkehrer auf diese Weise insbesondere die intensive Konkurrenz und Ungewissheit auf dem Arbeitsmarkt für Tagelöhner ersparen (zweifelnd, bei Fehlen eines Netzwerks, Schwörer, Anhörung, S. 7 ff.). Dabei wird nicht verkannt, dass auch in einigen Bereichen des selbständigen Kleinunternehmertums, etwa bei der Personenbeförderung, in afghanischen Großstädten ein intensiver Wettbewerb besteht (vgl. Stahlmann, Gutachten v. 28.3.2018 für das VG Wiesbaden im Verfahren 7 K 1757/16.WI.A, S. 238; Refugee Support Network, After Return, S. 39 f.).

171

Auch die von Stahlmann (Asylmagazin 2019, S. 276 ff.) geschilderten Coping-Mechanismen junger aus Europa abgeschobener Männer veranschaulichen ergänzend, dass die Strategien zur Bestreitung des Lebensunterhaltes bzw. Vermeidung einer Verelendung von Fall zu Fall äußerst unterschiedlich und stark einzelfallabhängig sein dürften. Neben (nach ihren Erkenntnissen wenngleich nur vereinzelt) gelungener Erwerbstätigkeit nennt die Autorin in mehreren Fällen Kontakte zu Familienangehörigen und Freunden sowie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland und damit günstige Umstände, mit denen im Regelfall der hier zu betrachtenden Personengruppe – nach den Angaben im Asylverfahren – nicht zu rechnen wäre. Soweit sie eine erneute Ausreise aus Afghanistan als häufig gesuchten Ausweg aufführt, wird weder deutlich, dass es sich dabei um einen zwingenden Ausweg aus drohender Verelendung handelt, noch, auf welcher Grundlage schon kurze Zeit nach der Rückkehr nach Afghanistan in vielen Fällen die hierfür erforderlichen, erheblichen finanziellen Mittel (wieder) zur Verfügung stehen (s.o.).

172

c) Auch unter Berücksichtigung individueller Umstände in der Person des Klägers ist nicht festzustellen, dass dieser im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul aufgrund der dort herrschenden humanitären Lage in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung geriete.

173

Der Kläger erfüllt zunächst die Voraussetzungen für eine Förderung im Rahmen der Rückkehrhilfen-Programme REAG/GARP und StarthilfePlus (hierzu aa)). In seiner Person bestehen auch keine durchgreifenden gefahrerhöhenden Umstände (hierzu bb)). Vielmehr weist der Kläger besondere günstige Merkmale – im Sinne umfangreicher beruflicher Erfahrungen – auf, die dafür sprechen, dass er verhältnismäßig gute Aussichten hat, in Afghanistan bzw. Kabul wirtschaftlich Fuß zu fassen (hierzu cc)). Die für ihn als jungen, erwachsenen, gesunden und alleinstehenden Mann geltende Vermutung hinreichender Anpassungs-, Durchsetzungs- und Durchhaltefähigkeit (s.o. b) aa)) nach einer Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul wird in seinem Fall mithin durch individuelle Umstände nicht widerlegt, sondern bestätigt.

174

aa) Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für eine Förderung im Rahmen der Rückkehrhilfen-Programme REAG/GARP und StarthilfePlus, auf deren Grundlage er eine mehrmonatige bzw. mehrjährige Wiedereinfindungsphase finanziell würde überbrücken können. Er ist leistungsberechtigt im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG (vgl. Nr. 1.1.1 der Leitlinien zur Rückkehrförderung REAG/GARP-Programm 2021, Stand Februar 2021) und nach eigenen Angaben mittellos (vgl. Nr. 3.1.1 Satz 1 der Leitlinien). Zwingende Umstände, die ihn an einer rechtzeitigen Antragstellung im Rahmen der genannten Förderprogramme hindern könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

175

bb) Gefahrerhöhende individuelle Umstände, welche die Fähigkeit des Klägers zur Bewältigung der wirtschaftlichen und humanitären Situation in Afghanistan bzw. Kabul im Einzelfall durchgreifend in Frage stellen, liegen weder im Hinblick auf dessen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Qizilbash (hierzu aaa)) noch im Hinblick auf dessen sprachliche und kulturelle Sozialisation (hierzu bbb)) vor.

176

aaa) Die Zugehörigkeit des Klägers zur Volksgruppe der Qizilbash wirkt sich für diesen im Rahmen der allgemeinen humanitären Lage nicht gefahrerhöhend aus. Entsprechend wie bereits zur persönlichen Sicherheit des Klägers ausgeführt (s.o. 2.c)), ist den aktuellen Erkenntnisquellen auch eine soziale Diskriminierung von Angehörigen der Qizilbash aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit nicht zu entnehmen; im Übrigen werden Qizilbash im Alltag Afghanistans vielfach als Tadschiken angesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF v. 14.5.2018, S. 2; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation v. 17.7.2017, S. 13 ff.; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation v. 26.5.2015, S. 1 ff.).

177

bbb) Gefahrerhöhende individuelle Umstände ergeben sich für den Kläger auch nicht aus dessen sprachlicher und kultureller Sozialisation. Der Kläger spricht mehrere in Afghanistan vorherrschende Landessprachen und ist im Rahmen seines Aufwachsens vollständig im afghanisch-iranischen Kulturkreis sozialisiert worden (hierzu (1)). Gefahrerhöhende individuelle Umstände bestehen auch nicht im Hinblick auf die mehrjährigen Aufenthalte des Klägers im Iran (hierzu (2)) und in Europa (hierzu (3)).

178

(1) Der Kläger spricht zwei der in Afghanistan vorherrschenden Landessprachen, nämlich – ausweislich seiner Angaben im Asylverfahren und wie in verschiedenen behördlichen und gerichtlichen Anhörungen unter Beweis gestellt – sowohl Dari als auch Farsi. Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung kann er in beiden Sprachen lesen und schreiben.

179

Der Kläger hat auch eine abgeschlossene Sozialisation im afghanisch-iranischen Kulturkreis. Er ist nach eigenen Angaben während der ersten ein oder zwei Lebensjahre in Afghanistan und sodann bis zu seinem 20. Lebensjahr im kulturell verwandten (vgl. auch OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn.131; VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, 11 S 316/17, juris Rn. 435) Iran – und auch dort weiterhin in einem afghanischem (Groß-) Familienverband – aufgewachsen. Bei seiner Ausreise aus dem Iran im Alter von 20 Jahren war mithin seine Sozialisation im afghanisch-iranischen Kulturkreis abgeschlossen.

180

(2) Ein gefahrerhöhender individueller Umstand ergibt sich für den Kläger nicht daraus, dass er ab seinem ersten oder zweiten Lebensjahr im Iran aufgewachsen ist und dabei möglicherweise die dortigen Sitten und Umgangsformen sowie eine landestypische sprachliche Färbung angenommen hat. Die Eigenschaft als sog. de-facto-Iraner begründet grundsätzlich für einen jungen, erwachsenen, gesunden und alleinstehenden Rückkehrer nach Afghanistan keinen am Maßstab von Art. 3 EMRK durchgreifenden gefahrerhöhenden individuellen Umstand (hierzu (a)). Im Falle des Klägers liegen keine besonderen individuellen Umstände vor, die eine abweichende Würdigung dieses Aspektes gebieten (hierzu (b)).

181

(a) Die Eigenschaft als sog. de-facto-Iraner begründet für einen jungen, erwachsenen, gesunden und alleinstehenden Rückkehrer nach Afghanistan grundsätzlich keinen am Maßstab von Art. 3 EMRK durchgreifenden gefahrerhöhenden individuellen Umstand.

182

Aus der aktuellen Quellenlage ergibt sich nicht, dass es einem jungen, zu wesentlichen Teilen im Iran aufgewachsenen afghanischen Staatsangehörigen grundsätzlich nicht oder nur erheblich schwerer als anderen Rückkehrern – ohne bestehendes Netzwerk – möglich ist, in Afghanistan bzw. Kabul sein Überleben zu sichern (so auch OVG Koblenz, Urt. v. 22.1.2020, 13 A 11356/19, juris Rn. 65 ff.; VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 130, 149; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 297 ff.; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn.126 ff.; VGH Mannheim, Urt. v. 26.6.2019, 11 S 2108/18, juris Rn. 130; Urt. v. 12.10.2018, 11 S 316/17, juris Rn. 338 ff., 435).

183

Ausgangspunkt der Erwägungen ist dabei, dass die Nachbarländer Iran und Afghanistan sich in ihren kulturellen Gepflogenheiten nahestehen und es sich bei Farsi und Dari – wie auch der Kläger in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat – um ähnliche Sprachen handelt. Allerdings stellt sich der Iran, obgleich auch stark islamisch geprägt, aus Sicht vieler Afghanen als die grundsätzlich freizügigere Gesellschaft dar. Wird – etwa durch einen iranischen Akzent – erkennbar, dass ein afghanischer Staatsangehöriger längere Zeit im Iran gelebt hat oder dort aufgewachsen ist, kann dies innerhalb der afghanischen Gesellschaft in gewissem Umfang nachteilige Vorurteile (etwa, die Person sei „unafghanisch“) und Ablehnung auslösen (vgl. zum Vorstehenden Stahlmann, Gutachten v. 28.3.2018 für das VG Wiesbaden im Verfahren 7 K 1757/16.WI.A, S. 283 ff.; BFA, COI v. 16.12.2020, S. 322 f.; EASO, Individuals targeted unter societal and legal norms, Dezember 2017, S. 101 ff.; EASO, Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020, S. 92 f.).

184

Eine solche soziale Diskriminierung kann zwar im Einzelfall Beleidigungen und Zurückweisungen im Alltag und unter Umständen einen erschwerten Zugang insbesondere zum Wohnungs- und zum Arbeitsmarkt zur Folge haben. Im Rahmen der rechtlichen Bewertung nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK dürfte es einem jungen, im Iran aufgewachsenen afghanischen Staatsstaatsangehörigen jedoch regelhaft möglich und zumutbar sein, sich nach einer Rückkehr den konservativeren Sitten der afghanischen Gesellschaft anzupassen (vgl. OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 299; vgl. auch OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 121). Dies gilt zumal dann, wenn er im Iran innerhalb seines afghanischen Familienverbandes aufgewachsen ist. Vor diesem Hintergrund ist aufgrund der Quellenlage insbesondere ein faktischer Ausschluss solcher Rückkehrer vom Wohnungs- oder Arbeitsmarkt nicht ersichtlich. Über beleidigende, nicht tätliche Anfeindungen hinausgehende Konfrontationen sind nach der Quellenlage nur in Ausnahmefällen aufgrund besonderer individueller Umstände anzunehmen (vgl. EASO, Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020, S. 92 f.). Auch neuere Berichte, wonach Menschen, die seit dem Beginn der Pandemie aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt sind, als „Importeure des Virus“ stigmatisiert worden sind (vgl. OCHA, Humanitarian Needs Overview 2021, S. 37; FES, On Shaky Grounds, S. 13), lassen keinen höheren allgemeinen Gefährdungsgrad als den oben genannten erkennen.

185

(b) Im konkreten Fall des Klägers gilt nichts Abweichendes. Insbesondere ist dieser im Iran innerhalb seines afghanischen (Groß-)Familienverbandes aufgewachsen. Zudem machen in weiten Teilen Kabuls – als dem hier maßgeblichen zukünftigen Aufenthaltsort des Klägers – die Einheimischen neben großen Zahlen in jüngerer Zeit Zugezogener, insbesondere Auslandsrückkehrern und Binnenvertriebenen, nur noch eine Minderheit der Stadtbevölkerung aus (s.o. b) bb) bbb) (2) (c)).

186

(3) Ein erschwerender individueller Umstand ergibt sich für den Kläger auch nicht aus dessen Eigenschaft als Rückkehrer aus Europa. Diese Eigenschaft begründet grundsätzlich für ein Mitglied der hier relevanten Personengruppe keinen am Maßstab von Art. 3 EMRK durchgreifenden gefahrerhöhenden individuellen Umstand (hierzu (a)); dies gilt auch im konkreten Fall des Klägers (hierzu (b)).

187

(a) Der Status eines Rückkehrers aus Europa begründet grundsätzlich für ein Mitglied der hier relevanten Personengruppe keinen relevant gefahrerhöhenden individuellen Umstand.

188

Zwar existieren Berichte zu verschiedenen Formen sozialer Stigmatisierung und Diskriminierung von Rückkehrern aus Europa und anderen westlichen Industrienationen durch die afghanische Gesellschaft (vgl. zum Folgenden Asylos, Situation of Young Male „Westernised“ Returnees to Kabul, August 2017, S. 18 f., 29 ff.; Stahlmann, Gutachten v. 28.3.2018 für das VG Wiesbaden im Verfahren 7 K 1757/16.WI.A, S. 299 ff.; dies., Anhörung durch den VGH Baden-Württemberg am 12.10.2018 im Verfahren A 11 S 316/17, Anl. 2 z. Sitzungsniederschrift, S. 1 ff.; dies., Asylmagazin 2019, S. 278 ff.; vgl. auch BFA, COI v. 16.12.2020, S. 323; EASO, Key Socio-Economic Indicators, August 2020, S. 16; EASO, Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020, S. 80 ff.; Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 25). Anlass für Misstrauen und Feindseligkeit in der afghanischen Gesellschaft gegenüber Rückkehrern insbesondere aus Europa kann je nach den Umständen der Verdacht der Abwendung vom Islam und seinen Geboten, des Verrats am Land – oder jedenfalls dem Machtanspruch der Taliban – oder der Übernahme in Europa (vermeintlich) verbreiteten sittlichen Fehlverhaltens sein. Auch wird eine Rückkehr aus Europa nach erfolglosem Betreiben eines Asylverfahrens in der afghanischen Gesellschaft vielfach als Scheitern angesehen, zumal wenn die Flucht durch Vermögensmittel aus dem Familien- oder Freundeskreis finanziert wurde. Bei zwangsweise Zurückkehrenden besteht bisweilen die Sorge, Grund der Abschiebung könne eine Straftat gewesen sein. Zugleich ist die Vorstellung verbreitet, ein Rückkehrer müsse im westlichen Ausland zu Wohlstand gekommen sein, was diesen einer erhöhten Gefahr aussetzt, Opfer einer Eigentums- oder Vermögensstraftat zu werden. Die möglichen Auswirkungen der Stigmatisierung als „verwestlichter“ bzw. in Europa gescheiterter Rückkehrer unterscheiden sich in Art und Intensität und reichen regelhaft von Benachteiligungen durch Behörden und Vermieter über Beleidigungen und Bedrohungen bis hin zu körperlichen Misshandlungen und der Vertreibung aus der örtlichen Gemeinschaft. Das Risiko von Anfeindungen wird in Bezug auf Städte wie Kabul als im Vergleich zu ländlichen Gebieten geringer eingestuft (vgl. EASO, Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020, S. 81; Asylos, a.a.O., S. 37).

189

Allerdings ergibt sich aus den genannten Arten von Feindseligkeit für Rückkehrer mit den vorliegend relevanten Merkmalen im Regelfall keine tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung (so auch VGH Mannheim, Urt. v. 29.10.2019, 11 S 1203/19, juris Rn. 39; Urt. v. 26.6.2019, 11 S 2108/18, juris Rn. 73 ff., 124 ff.; eingehend in Urt. v. 12.10.2018, 11 S 316/17, juris Rn. 321 ff., 411 ff., 426; VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 91 ff., 131, 149; OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.12.2019, 9 LA 452/19, juris Rn. 14 ff.; Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 117 ff., 148; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 246, 278; VG Köln, Urt. v. 25.8.2020, 14 K 1041/17.A, juris Rn. 59). Den Berichten zu den vorgenannten Diskriminierungen ist nicht zu entnehmen, dass eine überwiegende Anzahl an Rückkehrern von ernsthaften Nachteilen betroffen ist. Daneben tragen diese Berichte nicht die Schlussfolgerung, dass den dergestalt benachteiligten Rückkehrern aufgrund dessen regelhaft der Zugang zu sozialen Netzwerken, zu Arbeit und Unterkunft sowie insgesamt zu einer Existenzsicherung verwehrt bleibt. Dies ergibt sich auch daraus, dass die Zahl der in Quellen als Belege angeführten Fälle bezogen auf die Gesamtzahl der hier zu betrachtenden Personengruppe zu gering erscheint, um belastbare Aussagen zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer solchen diskriminierenden Behandlung zu treffen. Soweit die genannten Formen der Bedrohung oder Benachteiligung von den Taliban ausgehen, dürfte im Übrigen hinsichtlich des Gefährdungsgrades nach dem Zielort der Rückkehr zu differenzieren sein; belastbare Erkenntnisse zu Kabul sind insoweit nicht ersichtlich. Soweit die Nachteile von der Familie des Rückkehrers selbst drohen, verfängt der Einwand nicht im Falle von Rückkehrern, die familiäre Verbindungen in Afghanistan nicht mehr haben.

190

(b) Wiederum gilt im konkreten Fall des Klägers nichts Abweichendes. Anfeindungen durch Familienmitglieder sind schon deshalb nicht zu erwarten, weil solche nach seinen Angaben in Afghanistan nicht mehr vorhanden oder für ihn nicht auffindbar sind. Soweit dem Kläger Ablehnung infolge von – nach afghanischen Maßstäben – provokanten oder anstößigen Umgangsformen oder Erscheinungsmerkmalen entgegenschlagen könnte, ist ihm grundsätzlich eine Anpassung des Verhaltens und des äußeren Erscheinungsbildes an die örtlichen Verhältnisse zumutbar (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 121; vgl. auch OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 299).

191

cc) Anstatt gefahrerhöhender individueller Umstände weist der Kläger besondere positive Merkmale auf, die darauf hindeuten, dass er vergleichsweise gute Aussichten hat, in Afghanistan bzw. Kabul wirtschaftlich Fuß zu fassen. Diese Gesichtspunkte sind geeignet, die allgemeine Vermutung hinreichender Anpassungs-, Durchsetzungs- und Durchhaltefähigkeit (s.o. b) aa)) im Einzelfall des Klägers zu bestätigen. Zunächst ist nichts dazu geltend gemacht oder sonst ersichtlich, dass in seinem Fall besondere nicht-pathologische Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, etwa aufgrund besonders geringer Körperkraft oder einer erwerbsrelevanten Intelligenzminderung, bestehen. Darüber hinaus bestehen für den Kläger auf Grundlage seiner bisherigen Ausbildungs- und Erwerbsbiografie vergleichsweise gute Aussichten, in Afghanistan bzw. Kabul erwerbstätig sein zu können und dadurch wirtschaftlich Fuß zu fassen (hierzu aaa)), auch wenn er dies nach seinen Angaben in Afghanistan nie zuvor musste (hierzu bbb)).

192

aaa) Für den Kläger bestehen konkrete Anhaltspunkte, dass er jedenfalls eine Vielzahl von Gelegenheitsarbeiten, wie sie in afghanischen Städten typischerweise von Tagelöhnern verrichtet werden, darüber hinaus aber möglicherweise auch anspruchsvollere handwerkliche und sonstige Arbeiten im Rahmen einer zumindest kleinen unternehmerischen Selbstständigkeit wird ausführen können. Dies können auch solche Tätigkeiten sein, in denen er bisher über keine Kenntnisse verfügt. Nach seinen – schlüssigen und auch durch das Ergebnis der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung nicht in Frage gestellten – Angaben zu seiner bisherigen Ausbildungs- und Erwerbsbiografie verfügt der Kläger über erhebliche Erfahrungen auf handwerklichen Gebieten und hat zudem seine selbständige Handlungs- und Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Nach dem Besuch der Schule im Iran bis zur 5. Klasse hat der Kläger über mehr als zehn Jahre Erfahrungen als Anstreicher und als Fliesenleger gesammelt. In Deutschland hat er insbesondere eine einjährige Einstiegsqualifizierung im Beton- und Stahlbetonbau und sodann, bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, mehr als die Hälfte der Berufsausbildung zum Beton- und Stahlbetonbauer absolviert. Er verfügt damit über umfangreiche Erfahrungen in insbesondere (bau-)handwerklichen Berufsbildern. Der Senat geht davon aus, dass diese Erfahrungen jedenfalls überwiegend auch auf dem Arbeitsmarkt einer afghanischen Großstadt verwertbar sein werden; zudem dürfte viel dafür sprechen, dass sie dem Kläger jedenfalls nach einer Übergangsphase auch den Zugang zu solchen Arbeitsaufträgen ermöglichen werden, die besser als nur mit dem Durchschnittslohn eines ungelernten Tagelöhners entlohnt werden. Da der Kläger darüber hinaus nach eigenen Angaben vor seiner Ausreise aus dem Iran bereits selbständig berufstätig war, verfügt er über zumindest grundlegende kaufmännische Kenntnisse und Fähigkeiten im Bereich der Auftragsakquisition und der Kundenstammpflege. Da die – auch in Afghanistan verwertbaren – beruflichen Erfahrungen und Qualifikationen des Klägers vor dem Hintergrund der vorstehenden Erwägungen nicht auf eine Tätigkeit als Anstreicher beschränkt sind, greift auch sein Vorbringen, die in Afghanistan üblichen Lehmhäuser bedürften keines Anstriches und den Menschen dort fehlten für Aufträge an Anstreicher ohnehin die erforderlichen finanziellen Mittel, gegen die Feststellung günstiger Umstände in seiner Person nicht durch.

193

bbb) Soweit der Kläger noch geltend macht, er sei – in Afghanistan – noch nie „auf sich allein gestellt“ gewesen, stellt dies bei Bestehen einer hinreichenden sprachlichen und kulturellen Sozialisation (s.o. c) bb) bbb)) grundsätzlich keinen gefahrerhöhenden individuellen Umstand dar (vgl. auch VGH Kassel, Urt. v. 27.9.2019, 7 A 1923/14.A, juris Rn. 186 f.; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 145). Wie bereits ausgeführt, ist gerade für die Gruppe junger, erwachsener, gesunder und alleinstehender Männer grundsätzlich davon auszugehen, dass sie die erforderliche Resilienz für einen Neubeginn in Afghanistan bzw. Kabul auch alleine und unabhängig davon aufweisen, ob sie bereits Erfahrungen auf dem afghanischen Arbeitsmarkt und mit schwerer körperlicher Tätigkeit, wie sie insbesondere auf dem Tagelöhnermarkt gefordert wird, gemacht haben. Darüber hinaus greift der Einwand auch in Anbetracht der konkreten persönlichen Umstände des Klägers nicht durch. Denn der Kläger hat vor seiner Ausreise aus dem Iran – und damit ebenfalls im iranisch-afghanischen Kulturkreis – zuletzt selbständig gearbeitet, also unangeleitet und in Verantwortung gegenüber einem eigenen Kundenstamm, dies zudem trotz eines noch vergleichsweise jungen Alters von damals ca. 20 Jahren. Es ist weder substantiiert dargelegt noch sonst ersichtlich, inwiefern der Kläger diese bereits in jungen Jahren unter Beweis gestellte Selbständigkeit in der Folgezeit, insbesondere auf der Flucht nach Europa und während seines Aufenthaltes in Deutschland, nicht weiter ausgebaut, sondern stattdessen verloren haben sollte.

II.

194

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (analog). Ein Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift besteht weder in Bezug auf die individuelle gesundheitliche Verfassung des Klägers (hierzu 1.) noch – in verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift – angesichts des allgemeinen Risikos einer Erkrankung an COVID-19 nach einer Rückkehr nach Afghanistan (hierzu 2.).

195

1. Eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für Leib oder Leben des Klägers aufgrund einer bestehenden Erkrankung ist nicht ersichtlich.

196

Eine solche erhebliche Gefahr kann bei einer bestehenden Erkrankung zu bejahen sein, wenn bei einer Rückkehr eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung drohen würde, die auf unzureichenden medizinischen Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat der Abschiebung oder anderen zielstaatsbezogenen Umständen beruht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat einträte (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997, 9 C 58.96, BVerwGE 105, 383, juris Rn. 12 f.; Urt. v. 17.10.2006, 1 C 18.05, BVerwGE 127, 33, juris Rn. 15; Urt. v. 22.3.2012, 1 C 3.11, BVerwGE 142, 179, juris Rn. 34). Diese Voraussetzungen liegen im Fall des Klägers nicht vor. Hinsichtlich der von ihm geltend gemachten Gliederschmerzen in den Extremitäten bei Kälte, wohl infolge früherer Brandverletzungen, fehlt es bereits an einem aktuellen, den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG entsprechenden Attest. Darüber hinaus ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dieses Leiden sich im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in der vorgenannten, für § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlichen Weise verschlimmern würde.

197

2. Ein Abschiebungsverbot ergibt sich für den Kläger auch nicht in verfassungskonformer Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus dem allgemeinen Risiko, bei einer Rückkehr nach Afghanistan alsbald an COVID-19 zu erkranken und infolge fehlender Behandlungsmöglichkeiten an dieser Erkrankung zu sterben.

198

Drohen bestimmte Gefahren der Bevölkerung im Zielland allgemein, besteht eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG insoweit jedoch nicht, so kommt aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur dann in Betracht, wenn dieses zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke in Bezug auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erforderlich ist (vgl. hierzu und zum Folgenden BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, 9 C 9.95, BVerwGE 99, 324, juris Rn. 14 (zu § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG 1990); Urt. v. 17.10.2006, 1 C 18.05, BVerwGE 127, 33, juris Rn. 16, 20; Urt. v. 8.9.2011, 10 C 14.10, BVerwGE 140, 319, juris, Rn. 22 f.; st. Rspr.). Dies ist bei Bestehen einer extremen allgemeinen Gefahrenlage gegeben, in welcher jeder Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen ausgeliefert würde. Bezüglich der erforderlichen Wahrscheinlichkeit des Gefahreintritts ist für das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage ein gegenüber dem im Asylrecht entwickelten Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengerer Maßstab anzulegen; die allgemeine Gefahr muss sich für den jeweiligen Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit verwirklichen. Nur dann rechtfertigt sich die Annahme eines aus den Grundrechten folgenden zwingenden Abschiebungshindernisses, das die gesetzliche Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG überwinden kann (BVerwG, Urt. v. 19.11.1996, 1 C 6.95, BVerwGE 102, 249, juris Rn. 35). Die Realisierung der Gefahren muss alsbald nach der Rückkehr drohen (BVerwG, Urt. v. 8.9.2011, a.a.O., Rn. 23).

199

Auch im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Zielstaat der Abschiebung erwarten – insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage –, kann dieser Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre (vgl. hierzu und zum Folgenden BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 38; Urt. v. 19.11.1996, 1 C 6.95, BVerwGE 102, 249, juris Rn. 35). Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie insbesondere im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen. Die medizinische Versorgungslage im Zielstaat ist in diesem Zusammenhang nur bei akut behandlungsbedürftigen Vorerkrankungen oder in solchen Fällen von Bedeutung, in denen aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse mit einer entsprechend hohen Wahrscheinlichkeit eine lebensbedrohliche Erkrankung zu erwarten ist, für die dann faktisch kein Zugang zu medizinischer (Grund-)Versorgung besteht (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 39; Beschl. v. 25.10.2012, 10 B 20.12, juris Rn. 14).

200

Diese Voraussetzungen liegen im Fall des Klägers bei einer Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul nicht vor. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger sich mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul mit dem SARS-CoV-2-Virus infizieren, sodann einen schweren Krankheitsverlauf erleiden und infolgedessen – auch aufgrund unzureichender Behandlungsmöglichkeiten – in die Gefahr des Todes oder schwerster Gesundheitsbeeinträchtigungen geraten wird. Insbesondere eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Krankheit im Falle des – jungen und gesunden (s.o.) – Klägers einen schweren Verlauf nehmen wird, ist nicht festzustellen.

201

Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft variieren die Krankheitsverläufe bei mit dem SARS-CoV-2-Virus infizierten Personen in ihrer Schwere und Gefährlichkeit erheblich. Risikogruppen lassen sich dabei nicht eindeutig bestimmen. Aufgrund der Vielfalt verschiedener potentiell prädisponierender Vorerkrankungen und ihrer Schweregrade sowie der Vielzahl anderer Einflussfaktoren (z.B. Alter, Geschlecht, Allgemeinzustand) und deren Interaktion gilt die Risikoeinschätzung als hochkomplex und eine generelle Festlegung zur Einstufung in eine Risikogruppe als nicht möglich (vgl. hierzu und zum Folgenden den Epidemiologischen Steckbrief des Robert Koch Institutes zu SARS-CoV-2 und COVID-19, dort unter Ziffer 15., https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=31DB93CAB62F5795E41057ABDABBB560.internet102?nn=13490888#doc13776792bodyText15). Wenngleich schwere Verläufe auch bei Personen ohne bekannte Vorerkrankung und bei jüngeren Patienten auftreten können, werden sie bei diesen Patientengruppen doch nicht häufig beobachtet. Ist damit die im Rahmen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei verfassungskonformer Auslegung erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit bereits hinsichtlich der Möglichkeit, dass der Kläger einen schweren Krankheitsverlauf erleiden könnte, nicht gegeben, kommt es auf die Verfügbarkeit der im Falle eines solchen Krankheitsverlaufs erforderlichen medizinischen Behandlung im Rahmen des afghanischen Gesundheitssystems nicht an.

III.

202

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.

203

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 (analog, vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 18.6.2020, 1 Bf 484/19, juris Rn. 87), 709 Satz 2, 711 ZPO.

204

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO sind nicht gegeben.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen