Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (6. Senat) - 6 Bs 26/21
Tenor
1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 21. Januar 2021, soweit darin der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt worden ist, wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- Euro festgesetzt.
2. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
3. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 21. Januar 2021, soweit darin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt worden ist, wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I.
- 1
Der Antragsteller begehrt im Wege vorläufigen Rechtsschutzes die Sicherung seines Aufenthalts.
- 2
Der xxxx geborene Antragsteller ist irakischer Staatsangehöriger. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte seiner Ehefrau im August 2017 die Flüchtlingseigenschaft zu. Sie ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. AufenthG, die zuletzt bis zum 18. Oktober 2023 verlängert wurde. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 7. September 2017 beantragten der Antragsteller und sieben seiner Kinder bei dem Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Erbil die Erteilung von Visa zwecks Familienzusammenführung zu der irakischen Ehefrau des Antragstellers bzw. der Mutter der gemeinsamen Kinder. Entsprechende Visa wurden dem Antragsteller und seinen Kindern am 25. Februar 2018 erteilt.
- 3
Der Antragsteller erhielt nach seiner Einreise in das Bundesgebiet zunächst eine Fiktionsbescheinigung, am 23. Mai 2018 eine bis zum 16. Oktober 2020 gültige Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug. Dem Antragsteller war eine Erwerbstätigkeit erlaubt, er stand wie auch seine Ehefrau aber durchgehend im Leistungsbezug nach SGB II.
- 4
Am 12. Dezember 2018 kehrte der Antragsteller, ohne die Antragsgegnerin hierüber zu informieren, in den Irak zurück, um sich nach eigenen Angaben um seinen psychisch erkrankten Bruder zu kümmern. Er kehrte am 8. Juli 2020 in die Bundesrepublik Deutschland zurück und stellte am 8. September 2020 einen „Antrag auf Erteilung/Verlängerung eines Aufenthaltstitels“.
- 5
Mit Verfügung vom 24. September 2020 stellte die Antragsgegnerin fest, dass der bisherige Aufenthaltstitel des Antragstellers gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG zum 12. Juni 2019 erloschen sei. Sie lehnte zudem den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab, forderte ihn zur Ausreise auf und drohte ihm die Abschiebung in den Irak an. Hiergeben erhob der Antragsteller Widerspruch und verwies unter anderem auf eine Stellungnahme eines Betreuers über seine familiäre Situation.
- 6
Am 21. Oktober 2020 hat der Antragsteller um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 21. Januar 2021 abgelehnt. Der Antragsteller habe nicht glaubhaft gemacht, dass ihm ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ohne vorherige Ausreise und Einholung eines Visums zum Familiennachzug zustehe. Für den Antragsteller komme zwar die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 29 Abs. 2 Satz 1, 30 Abs. 1 AufenthG in Betracht, denn seine Ehefrau, die ebenfalls irakische Staatsangehörige sei, sei im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. AufenthG. Nach § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG könne in diesen Fällen von den Voraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG abgesehen werden, aber nicht von dem Erfordernis, vor der Einreise das erforderliche Visum einzuholen. Von der Einreise mit dem erforderlichen Visum könne nur abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt seien oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht zumutbar sei, das Visumverfahren nachzuholen. Beides sei hier nicht der Fall. Ein gebundener Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bestehe nicht, da der Lebensunterhalt der Familie nicht gesichert sei. Ferner bestehe aufgrund der unerlaubten Einreise des Antragstellers ein Ausweisungsinteresse. Von beiden Regelvoraussetzungen könne nach § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nur im Ermessenswege abgesehen werden. Aufgrund des pauschalen Vortrags in der Antragsschrift könne das Gericht auch nicht erkennen, dass es dem Antragsteller unzumutbar wäre, erneut auszureisen und sich um ein Visum zur Einreise zwecks Familienzusammenführung zu bemühen. Seine Kinder seien nicht mehr im Kleinkindalter. Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Antragsteller auch im Dezember 2018 seine Familie verlassen habe, um sich um seinen jüngsten Bruder, mit dem die Familie im Irak vor der Ausreise zusammengelebt habe, zu kümmern. Er habe in der Zwischenzeit zudem Gelegenheit gehabt, sich hierfür einen Termin zu besorgen. Auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK sei das Festhalten der Antragsgegnerin an der Durchführung des Visumverfahrens unter Einbeziehung der besonderen Umstände des Einzelfalls verhältnismäßig.
- 7
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde.
II.
- 8
Die zulässige Beschwerde gegen den einstweiligen Rechtsschutz versagenden Beschluss ist unbegründet. Aus den von dem Antragsteller dargelegten Gründen, die das Beschwerdegericht zunächst nur zu prüfen hat (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), ist die angefochtene Entscheidung weder zu ändern noch aufzuheben.
- 9
Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen. Eine Abschiebung ist rechtmäßig, wenn die Voraussetzungen einer Abschiebung vorliegen (vgl. § 58 AufenthG - i.d.R. vollziehbare Ausreisepflicht, Erlass einer Abschiebungsandrohung unter Setzung einer angemessenen Ausreisefrist) und ein Anspruch auf Duldung nicht besteht. Soweit der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit einem ihm zustehenden Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begründet und in diesem Zusammenhang auf das anhängige Widerspruchsverfahren Bezug nimmt, begehrt er eine sog. Verfahrensduldung. Wie sich im Umkehrschluss aus der in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG getroffenen, begrenzten Regelung ergibt, folgt aber allein daraus, dass ein Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geltend macht und diesen im Bundesgebiet durchsetzen will, noch kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, welches im Wege einer Verfahrensduldung zu sichern ist. Ein solche Verfahrensduldung kann nur in Ausnahmefällen zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten sein, wenn z.B. eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrechtzuerhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugutekommen kann (BVerwG, Urt. v. 18.12.2019, 1 C 34.18, BVerwGE 167, 211, juris Rn. 30; VGH München, Beschl. v. 27.11.2018, 19 CE 17.550, KommunalPraxis BY 2019, 64, juris Rn. 30 f.; OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.8.2017, 13 ME 213/17, juris Rn. 3; OVG Münster, Beschl. v. 11.1.2016, 17 B 890/15, juris Rn. 6 ff.). Dazu zählt der vom Verwaltungsgericht geprüfte Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlingen nach §§ 29 Abs. 2 Satz 1, 30 Abs. 1 AufenthG im Ausgangspunkt nicht (so zum Familiennachzug zu Deutschen bereits OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.8.2017, a.a.O., Rn. 3).
- 10
Auch in diesen Fällen kommt eine Verfahrensduldung allerdings in Fällen in Betracht, in denen das Gesetz eine Ausnahme von der Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum vorsieht (so zu § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG VGH Mannheim, Beschl. v. 20.9.2018, 11 S 1973/18, InfAuslR 2019, 12, juris Rn. 21; so auch OVG Bautzen, Beschl. v. 3.11.2020, 3 B 262/20, juris Rn. 14) oder eine im Inland bestehende, nach Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 6 Abs. 1 GG schützenswerte familiäre Beziehung, insbesondere zu noch minderjährigen Kindern, eine auch nur kurzfristige Unterbrechung der familiären Bindungen durch Ausreise unzumutbar erscheinen lässt (in diesem Sinne OVG Bremen, Beschl. v. 20.5.2020, 2 B 34/20, Asylmagazin 2020, 325, juris Rn. 34; OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.8.2017, 13 ME 213/17, juris Rn. 4).
- 11
Dem Antragsteller ist danach auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens keine Verfahrensduldung zu erteilen.
- 12
1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Beschwerdegerichts zum Schutze des Kindeswohls in einer Vater-Kind-Beziehung steht einem Verweis auf das Visumverfahren nicht grundsätzlich entgegen.
- 13
Der Antragsteller macht unter Bezugnahme auf die von ihm angeführten und zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (u.a. Beschl. v. 31.8.1999, 2 BvR 1523/99) wie auch des Beschwerdegerichts (u.a. Beschl. v. 27.5.2008, 4 Bs 42/08) geltend, das Verwaltungsgericht habe die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anzulegenden Maßstäbe in Bezug auf die Vater-Kind-Beziehung verkannt. Seine Kinder könnten seine Abwesenheit überleben, eine Trennung diene aber nicht ihrem Wohl.
- 14
Dieser Einwand überzeugt nicht. Die von dem Antragsteller zitierte Rechtsprechung betrifft im Wesentlichen die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer unter Verweis auf das geltende Aufenthaltsrecht daran gehindert werden kann, seinen ständigen Aufenthalt mit seiner Familie im Bundesgebiet zu nehmen. Vorliegend geht es aber darum, ob der Antragsteller zu diesem Zweck zunächst ein Visumverfahren zu durchlaufen hat. Es bestehen auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Zweifel, dass es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG grundsätzlich vereinbar ist, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (BVerfG, Beschl. v. 4.12.2007, 2 BvR 2341/06, InfAuslR 2008, 239, juris Rn. 6). Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (BVerfG, Beschl. v. 17.5.2011, 2 BvR 1367/10, NVwZ-RR 2011, 585, juris Rn. 15). Etwas anderes gilt nur in Ausnahmefällen, wenn aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles dem Ausländer oder seinen Familienangehörigen auch eine nur vorübergehende Trennung nicht zuzumuten ist (so bei Vorhandensein betreuungsbedürftiger Haushaltsangehöriger BVerfG, Beschl. v. 17.5.2011, a.a.O., Rn. 19 ff.) oder die Ausreise des Ausländers zu einer nicht absehbaren Trennung von seiner Familie führt (VGH München, Beschl. v. 2.2.2021, 10 C 20.3063, juris Rn. 14).
- 15
2. Einen solchen Ausnahmefall hat das Verwaltungsgericht hier im Ergebnis zu Recht nicht angenommen. Dem Antragsteller und seiner Familie ist eine vorübergehende Trennung zumutbar; die Trennung wäre im Falle einer Ausreise auch nicht unabsehbar.
- 16
a) Insoweit geht das Beschwerdegericht davon aus, dass das Visumverfahren des Antragstellers jedenfalls innerhalb eines Zeitraumes von deutlich unter einem Jahr abgeschlossen werden kann. Das Visumverfahren des Antragstellers im Jahr 2018 hat insgesamt weniger als ein halbes Jahr in Anspruch genommen. Zwar kann es nach den Angaben auf der Homepage des Generalkonsulats in Erbil zu verlängerten Wartezeiten aufgrund der vorherigen, coronabedingten Schließung des Konsulats kommen („Due to the closure of the Consulate General caused by the spread of the Corona Virus longer waiting times might occur“, abrufbar unter https://visa.vfsglobal.com/irq/en/deu/news/national-visa, zuletzt abgerufen am 28.4.2021). Aktuell sind aber wieder Termine für Anträge auf Familiennachzug für Juli 2021 buchbar (https://irak.diplo.de/iq-de/vertretungen/generalkonsulat1?openAccordionId=item-2373086-2-panel, zuletzt abgerufen am 28.4.2021), so dass auch im Vergleich zum Jahr 2018 nicht von erheblich längeren Verfahrenslaufzeiten auszugehen ist.
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b) Eine Trennung für einen solchen Zeitraum ist dem Antragsteller und seiner Familie zumutbar.
- 18
In die Prüfung der Zumutbarkeit sind zwar mit einem besonderen Gewicht die möglichen Folgen einer auch nur vorübergehenden Trennung für die Kinder des Ausländers einzubeziehen, insbesondere wenn es sich um sehr kleine Kinder handelt, die den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen können und diese als endgültigen Verlust erfahren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.1.2006, 2 BvR 1935/05, NVwZ 2006, 682, juris Rn. 22). Anderseits ist aber auch zu berücksichtigen, ob der Ausländer das Visumverfahren ohne rechtfertigenden Grund umgegangen hat und der Trennungszeitraum im Falle der Nachholung des Visumverfahrens daher maßgeblich in seinen Verantwortungsbereich fällt (VGH München, Beschl. v. 19.6.2018, 10 CE 18.993 u.a., juris Rn. 5).
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Gemessen daran wiegen die Interessen des Antragstellers und seiner Familie an seinem vorübergehenden Verbleib im Bundesgebiet nicht besonders schwer. Der Antragteller legt weder mit der Antrags- noch mit der Beschwerdebegründung konkret dar, aus welchen Gründen eine solche Trennung unzumutbare Folgen für seine Kinder oder seine Ehefrau haben könnte. Dafür ist auch sonst nichts ersichtlich. Die Kinder des Antragstellers sind, wie vom Verwaltungsgericht bereits ausgeführt, nicht mehr so klein - sein jüngster Sohn ist 6 Jahre alt -, dass ihnen die vorübergehende Abwesenheit ihres Vaters nicht verständlich gemacht werden könnte. Das Verwaltungsgericht hat zudem zutreffend darauf verwiesen, dass der Antragsteller bereits im Dezember 2018 seine Familie verlassen hat, um sich um seinen jüngsten Bruder im Irak zu kümmern. Aus welchen Gründen seine Familie nunmehr eine vorübergehende Abwesenheit des Antragstellers nicht mehr verkraften könnte, erschließt sich dem Beschwerdegericht nicht. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt auch die pauschale und - soweit ersichtlich - maßgeblich auf den Erklärungen der Kindesmutter beruhende Mitteilung des Jugendamtes vom 25. März 2021, wonach im Sinne des Kindeswohls die Familie nicht getrennt werden sollte und eine gemeinsame Unterbringung befürwortet werde, keine andere Bewertung.
- 20
Darüber hinaus liegt hier schon die Notwendigkeit einer erneuten Trennung ausschließlich im Verantwortungsbereich des Antragtellers. Es hätte an ihm gelegen, sich während seines etwa eineinhalbjährigen Aufenthalts im Irak um ein Visum zur (erneuten) Familienzusammenführung zu bemühen, ohne dass damit im Ergebnis überhaupt eine über den selbst gewählten Abwesenheitszeitraum hinausgehende Trennung von seiner Familie verbunden gewesen wäre. Der Antragsteller hat im Übrigen auch nicht vorgetragen, dass er sich zumindest nach seiner Rückkehr um einen Termin bei dem Generalkonsulat in Erbil bemüht hätte, um den Zeitraum einer Trennung im Falle einer Ausreise zum Zwecke der Nachholung des Visumverfahrens möglichst kurz zu halten.
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c) Es ist auch nicht deshalb eine dauerhafte Trennung von seiner Familie zu befürchten, weil die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen für einen Familiennachzug nicht vorliegen.
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Der Antragsteller macht mit der Beschwerdebegründung geltend, dass der Lebensunterhalt seiner Ehefrau und ihrer Kinder nicht gesichert sei, was aber Voraussetzung für die Visumerteilung zwecks Familienzusammenführung sei. Ein Absehen von der Lebensunterhaltssicherung, wie es im Jahre 2018 bei der Erteilung des Visums zwecks Familienzusammenführung zu seiner in Deutschland als Flüchtling lebenden Ehefrau möglich gewesen sei, sei ausgeschlossen, weil die Voraussetzungen des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (gemeint ist wohl § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) nicht mehr gegeben seien. Es sei faktisch ausgeschlossen, dass seine Ehefrau durch eigenes Erwerbseinkommen für sich, ihre Kinder und ihn - den Antragsteller - den Lebensunterhalt sichern könne.
- 23
Dieser Einwand greift nicht durch. Soweit die Ausführungen des Antragstellers dahingehend zu verstehen sein sollten, dass die fehlende Lebensunterhaltssicherung die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs nach § 29 Abs. 2 AufenthG wie auch eines entsprechenden Visums (§ 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) grundsätzlich ausschließe, trifft dieser Einwand nicht zu. Zwar ist anders noch als im Jahr 2018 von der Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung im Falle des Antragstellers nach § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht mehr zwingend abzusehen, weil er seinen neuerlichen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zwecks Familienzusammenführung nicht innerhalb von drei Monaten, nachdem seiner Ehefrau die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, gestellt hat. Allerdings kann nach § 29 Abs. 2 S. 1 AufenthG weiterhin nach pflichtgemäßem Ermessen von diesem Erfordernis abgesehen werden.
- 24
Das Beschwerdegericht geht nach bisherigem Sachstand ferner davon aus, dass im Hinblick auf die fehlende Lebensunterhaltssicherung eine Ermessensausübung zu Lasten des Antragstellers nicht begründet werden könnte. Der besondere Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG und Art. 8 EMRK gebietet es, auch bei der Prüfung von Nachzugsansprüchen das Interesse der Angehörigen der Kernfamilie, insbesondere auch das Wohl minderjähriger Kinder, bei der Prüfung einer Ausnahme von den Regelausschlussgründen zu berücksichtigen (vgl. zum Gewicht der durch Art. 6 GG geschützten Belange BVerwG, Urt. v. 17.12.2020, 1 C 30.19, juris Rn. 33 ff.). Die Gewährung eines an sich im Ermessen stehenden Nachzugsanspruchs kann daher insbesondere geboten sein, wenn die Familieneinheit mit minderjährigen Kindern nur im Bundesgebiet verwirklicht werden kann (so zu § 36 AufenthG Marx in: GK-AufenthG, Stand: Febr. 2021, § 36 Rn. 48 m.w.N.). Die allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu dem hier einschlägigen § 29 AufenthG greifen diesen Rechtsgedanken ausdrücklich auf. Danach ist bei der zu treffenden Ermessenentscheidung, ob von einer Regelerteilungsvoraussetzung abgesehen wird, dem Umstand, dass dem Asylberechtigten oder Konventionsflüchtling eine Familienzusammenführung in einem Verfolgerstaat nicht zugemutet werden kann, besondere Bedeutung beizumessen (Nr. 29.2.1 AVV-AufenthG). Das wirkt sich auch hier zugunsten des Antragstellers aus. Der Antragsteller kann die Familieneinheit mit seiner Ehefrau, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, und den sechs gemeinsamen minderjährigen Kindern nur im Bundesgebiet herstellen. Jedenfalls unter der von dem Antragsteller selbst vorgetragenen Voraussetzung, dass es seiner Ehefrau aufgrund ihrer fehlenden Schul- und Berufsbildung realistischerweise bisher nicht möglich war, ihren Lebensunterhalt im Bundesgebiet durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu sichern, wird ihr bzw. dem Antragsteller die fehlende Lebensunterhaltssicherung auch nicht mit einem solchen Gewicht vorgehalten werden können, dass sie eine Familienzusammenführung im Bundesgebiet auf Dauer ausschließen könnte.
- 25
Ein Nachzug zu seiner Familie ist im Falle einer Ausreise schließlich nicht deshalb auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen, weil es seiner Ehefrau - wie der Antragsteller mit der Beschwerde weiter geltend macht - in Anbetracht der Größe seiner Familie und der Wohnraumknappheit nicht möglich sei, eine „halbwegs bezahlbare“ Wohnung zu finden. Zum einen kann gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auch insoweit - unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK - nach pflichtgemäßem Ermessen von dieser Erteilungsvoraussetzung abgesehen werden. Zum anderen handelt es sich bei dem Wohnraumerfordernis nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG um eine in die Sphäre des Ausländers fallende Erteilungsvoraussetzung, deren Erfüllung ihm - nicht zuletzt aufgrund der Berücksichtigung der Unterkunftskosten nach § 22 SGB II, § 35 SGB XII - in aller Regel möglich und zumutbar ist (BVerwG, Beschl. v. 4.7.2019, 1 B 26.19 u.a., Buchholz 402.242 § 36 AufenthG Nr. 6, juris Rn. 10). Aus dem pauschalem Vorbringen des Antragstellers - sein Verweis auf Art. 32 EU-Qualifikationsrichtlinie wie auch die generelle Wohnraumknappheit - ergeben sich jedenfalls keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Anmietung einer ausreichend großen Wohnung gleichwohl auf Dauer unmöglich wäre und dieser Umstand seine Rückkehr in das Bundesgebiet ausschließen könnte.
- 26
3. Die Abschiebung ist schließlich nicht unabhängig von den hier fehlenden Voraussetzungen einer Verfahrensduldung auszusetzen, weil der Kläger auch aus anderen Gründen keine Duldung beanspruchen kann.
- 27
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
III.
- 28
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (vgl. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Eine hinreichende Aussicht auf Erfolg ist zwar bereits dann anzunehmen, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der beabsichtigten Rechtsverfolgung besteht. Denn die Prüfung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren darf nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung seitens einer unbemittelten Partei unverhältnismäßig zu erschweren und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe von einem schon hoch wahrscheinlichen oder gar sicheren Prozesserfolg abhängig zu machen; die Rechtsverfolgung würde sonst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorverlagert (vgl. BVerwG, Beschl. v. 5.1.1994, 1 A 14.92, Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 33). Auch nach diesem Maßstab sind keine hinreichenden Erfolgsaussichten gegeben. Auf die Ausführungen unter II. wird Bezug genommen.
IV.
- 29
Die zulässige Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hat ebenfalls keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht hinreichende Erfolgsaussichten verneint. Auch insoweit wird auf die Ausführungen unter II. Bezug genommen.
- 30
Die Kostenentscheidung hinsichtlich der Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.
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