Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (2. Senat) - 2 Bs 182/21
Tenor
Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 3. Juni 2021 dahingehend geändert, dass auch der Antrag des Antragstellers zu 1. auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 14. Oktober 2020 gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 6. März 2019 in der Fassung des Ergänzungsbescheides Nr. 2 vom 10. Mai 2019 abgelehnt wird. Im Übrigen wird die Beschwerde verworfen.
Im Ausspruch zu den Kosten wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 3. Juni 2021 auf die Beschwerde der Beigeladenen dahingehend geändert, dass der Antragsteller zu 1. die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens einschließlich der in diesem Verfahren angefallenen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zur Hälfte trägt; hinsichtlich der Kostentragungspflicht des Antragstellers zu 2. bleibt der Beschluss des Verwaltungsgerichts unverändert. Der Antragsteller zu 1. trägt zudem die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der in diesem Verfahren angefallenen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zur Hälfte. Die andere Hälfte der Kosten des Beschwerdeverfahrens und ihrer in diesem Verfahren angefallenen außergerichtlichen Kosten trägt die Beigeladene.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,-- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
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Die Antragsteller wenden sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses.
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Der Antragsteller zu 1. ist Eigentümer des Grundstücks .../... (Flurstück ... der Gemarkung Horn Geest) in Hamburg-Horn. Der Antragsteller zu 2. war bis zum 31. Dezember 2020 Testamentsvollstrecker über den Nachlass des 2007 verstorbenen früheren Eigentümers dieses Grundstücks. Das Grundstück ist in seinem westlichen Teil, entlang des ..., mit einem - einschließlich des Dachgeschosses - viergeschossigen Mehrfamilienhaus in geschlossener Bauweise bebaut. Unmittelbar an dieses Mehrfamilienhaus anschließend ist das Grundstück an seinem östlichen Rand, entlang der ..., mit einem eingeschossigen Gebäude bebaut, das als Ladenlokal genutzt wird.
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An das vorgenannte Grundstück grenzt im Süden das Grundstück ... (Flurstück ... der Gemarkung Horn Geest, ehemals Flurstück ... - im Folgenden: Vorhabengrundstück), das derzeit unbebaut ist.
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Beide Grundstücke liegen im räumlichen Geltungsbereich des Bebauungsplans Horn 15 vom 14. September 1965 (HmbGVBl. S. 154 - im Folgenden: Bebauungsplan). Das Grundstück des Antragstellers zu 1. ist in seinem westlichen, mit dem Mehrfamilienhaus bebauten Bereich als allgemeines Wohngebiet bei maximal dreigeschossiger geschlossener Bauweise („WA III g“) ausgewiesen; die dergestalt bebaubare Fläche ist nach Norden und Westen, zu den Straßen hin, durch Baulinien und nach Süden durch eine hintere Baugrenze begrenzt. In seinem südöstlichen Bereich, entlang der ..., ist ein Sondergebiet Läden bei eingeschossiger geschlossener Bauweise („SOL 1 g“) ausgewiesen, zudem werden eine Baulinie entlang der Straßengrenze der ..., eine hintere, in Nord-Süd-Richtung verlaufende Baugrenze sowie eine maximale Traufhöhe von 4,50 m festgesetzt. Für das Vorhabengrundstück werden dieselben Festsetzungen getroffen wie für den vorgenannten südöstlichen Teil des Grundstücks des Antragstellers zu 1. Gemäß § 2 Nr. 3 der Bebauungsplanverordnung sind im Sondergebiet Läden nur Ladengeschäfte zulässig; ausnahmsweise können Schank- und Speisewirtschaften sowie nicht störende Handwerksbetriebe zugelassen werden.
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Mit Bescheid vom 6. März 2019 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen - einer Anstalt des öffentlichen Rechts, die insbesondere Wohnungen für vordringlich Wohnungssuchende bereitstellt - auf deren Antrag vom 31. Juli 2018 im Baugenehmigungsverfahren mit Konzentrationswirkung eine Baugenehmigung für die Neuerrichtung eines Wohnhauses mit 23 Wohnungen und Teilkeller auf dem Vorhabengrundstück. Mit dem Bescheid wurden der Beigeladenen Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB für die Abweichung von der zulässigen Art der baulichen Nutzung im Sondergebiet Läden durch eine Wohnnutzung (Nr. 4.1), für das Überschreiten der höchstzulässigen Zahl an Vollgeschossen um vier auf fünf - unter der Bedingung, dass eine Firsthöhe von 15,50 m nicht überschritten werden dürfe - (Nr. 4.2) sowie für das Überschreiten der rückwärtigen Baugrenze um bis zu 1,10 m (Nr. 4.3) erteilt. Ausweislich der Bauvorlagen, die Bestandteil des Baugenehmigungsbescheides sind, wird der Baukörper zum Grundstück des Antragstellers zu 1. hin in Höhe und Tiefe - durch einen Rücksprung des 4. Obergeschosses nach Süden und einen Rücksprung der Westfassade in der Nähe der nördlichen Grundstücksgrenze - abgestaffelt. Die West- bzw. Rückfassade ist mit Balkonen versehen, welche teilweise die hintere Baugrenze überschreiten. Gemäß der unter Nr. 6.1 des Baugenehmigungsbescheides enthaltenen Bedingung darf mit den Bauarbeiten erst begonnen werden, wenn ein Ergänzungsbescheid über die Standsicherheit erteilt worden ist; dieser Ergänzungsbescheid (Nr. 2) wurde der Beigeladenen unter dem 10. Mai 2019 erteilt.
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Bereits zuvor, unter dem 23. Juli 2018, war der Beigeladenen ein Bauvorbescheid für die Neuerrichtung eines Wohnhauses mit 20 Wohnungen und Teilkeller auf dem Vorhaben-grundstück erteilt worden, in dem Befreiungen für die Abweichung von der zulässigen Art der baulichen Nutzung durch eine Wohnnutzung (Nr. 6.1) sowie für das Überschreiten der höchstzulässigen Zahl an Vollgeschossen um vier auf fünf (Nr. 6.2) erteilt worden waren. Der Antragsteller zu 1. war vor Erlass des Bauvorbescheides als Nachbar beteiligt worden und hatte unter dem 9. April 2018 Einwendungen erhoben. Der Bauvorbescheid und der Baugenehmigungsbescheid wurden dem Antragsteller zu 1. nach ihrem Erlass nicht bekannt gegeben.
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Am 14. Oktober 2020 erhoben die Antragsteller sowohl gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 6. März 2019 - unter späterer Erstreckung auf den Ergänzungsbescheid Nr. 2 vom 10. Mai 2019 - als auch gegen Bauvorbescheid vom 23. Juli 2018 Widerspruch; über die Widersprüche ist noch nicht entschieden.
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Am 15. Dezember 2020 haben die Antragsteller das Verwaltungsgericht um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit dem Antrag ersucht, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 6. März 2019 anzuordnen. Zur Begründung haben sie im Wesentlichen vorgetragen, die erteilten Befreiungen hinsichtlich der Art und des Maßes der baulichen Nutzung sowie der überbaubaren Grundstücksfläche beträfen sämtlich zu ihren Gunsten nachbarschützende Festsetzungen und seien am Maßstab von § 31 Abs. 2 BauGB rechtswidrig erteilt worden, da die Grundzüge der Planung berührt seien. Zudem stelle sich das Vorhaben durch seine Dimensionierung und seine verschattende Wirkung als rücksichtslos dar. Daneben seien zu ihren Gunsten nachbarschützende Anforderungen des Bauordnungsrechts an die Abstandsflächentiefe und die Standsicherheit des Vorhabens verletzt.
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Mit Beschluss vom 3. Juni 2021 hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers zu 1. gegen die Baugenehmigung vom 6. März 2019 angeordnet und den Antrag des Antragstellers zu 2. abgelehnt. Der Antrag des Antragstellers zu 2. sei unzulässig, da eine Antragsbefugnis insbesondere in Prozessstandschaft nach Ablauf seiner Einsetzung als Testamentsvollstrecker nicht mehr in Betracht komme. Der Antrag des Antragstellers zu 1. sei zulässig, insbesondere habe der Antragsteller zu 1. weder wegen längerer Untätigkeit nach Kenntnis von dem Vorhaben der Beigeladenen sein Antragsrecht verwirkt, noch sei sein Widerspruch wegen einer solchen Verwirkung offenkundig unzulässig. Sein Antrag habe auch in der Sache Erfolg, denn die mit der Baugenehmigung erteilte Befreiung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung, die sich auf eine nachbarschützende und auch für sein Grundstück getroffene Festsetzung beziehe, sei voraussichtlich rechtswidrig und verletze ihn in subjektiven Rechten. Die Befreiung von der Ausweisung als „Sondergebiet Läden“ sei am Maßstab von § 31 Abs. 2 BauGB rechtswidrig, weil sie die Grundzüge der Planung berühre. Aus der Planbegründung ergebe sich, dass die Festsetzungen der Ladengebiete nach den Vorstellungen des Plangebers zu den Grundzügen der Planung gehörten. Zwar seien die Nutzungsarten danach überwiegend der vorhandenen Bebauung - zu der die Wohnbebauung und der Laden auf dem Grundstück des Antragstellers zu 1. sowie weitere eingeschossige Läden gehört hätten - entsprechend festgelegt worden, ohne dass ein über die Bestandssicherung hinausgehendes Ziel der Festsetzung formuliert worden sei. Insbesondere für die ausgewiesenen Ladenflächen gelte dies jedoch nicht. Für die Ladenflächen an der ..., zu denen auch das seinerzeit wie heute unbebaute Vorhabengrundstück gehöre, sei ausdrücklich festgelegt worden, dass diese zur Versorgung der in der Nähe wohnenden Bevölkerung dienen sollten. Demnach sei es dem Plangeber darauf angekommen, die Nahversorgung der Wohnbevölkerung durch Ausweisung entsprechender Sondergebietsflächen zu sichern und zu entwickeln. Für die Bedeutung dieser Zielsetzung spreche auch, dass der Plangeber auf die Festsetzung der Sondergebiete hätte verzichten können, wenn er dem Versorgungsgedanken kein besonderes Gewicht zugemessen hätte; denn Läden seien auch ohne diese Festsetzung innerhalb des Plangebiets gemäß § 3 Abs. 3 bzw. § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO 1962 zulässig gewesen. Der Grundzug der Planung sei auch berührt, denn die mit der Befreiung zugelassene Wohnnutzung sei durch die Festsetzung als Sondergebiet Läden gerade ausgeschlossen worden.
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Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Beigeladenen.
II.
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Während die Beschwerde der Beigeladenen, soweit sie sich gegen die Ablehnung des Antrags des Antragstellers zu 2. richtet, als unzulässig zu verwerfen ist (hierzu 1.), ist sie im Übrigen, soweit sie sich gegen die stattgebende Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den Antrag des Antragstellers zu 1. richtet, zulässig und auch in der Sache erfolgreich (hierzu 2.). Im letztgenannten Umfang führt sie zur Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses und zur Ablehnung des Eilrechtsschutzgesuchs des Antragstellers zu 1.
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1. Soweit die - uneingeschränkt gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 3. Juni 2021 erhobene und nicht zwischen den beiden Antragstellern differenzierende - Beschwerde der Beigeladenen sich gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts richtet, mit der das Eilrechtsschutzgesuch des Antragstellers zu 2. als unzulässig abgelehnt worden ist, ist sie in Ermangelung einer Beschwer der Beigeladenen als unzulässig zu verwerfen. Auch aus dem Beschwerdevorbringen der Beigeladenen im Übrigen ergeben sich keine Anknüpfungspunkte für eine einschränkende Auslegung ihres Antrags im Beschwerdeverfahren.
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2. Im Übrigen, soweit sie sich gegen die stattgebende Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den Antrag des Antragstellers zu 1. richtet, hat die zulässige, insbesondere nach § 147 Abs. 1 VwGO fristgemäß erhobene Beschwerde der Beigeladenen auch in der Sache Erfolg.
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a) Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO zunächst beschränkt ist, erschüttern die Richtigkeit der entscheidungserheblichen Annahme des Verwaltungsgerichts, die der Beigeladenen durch die Antragsgegnerin erteilte Befreiung von der Ausweisung eines Sondergebiets Läden sei rechtswidrig und verletze den Antragsteller zu 1. in subjektiven Rechten, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt seien. Zwar erschüttert die Beschwerde nicht die Annahme des Verwaltungsgerichts, die genannte Befreiung sei auf der Grundlage von § 31 Abs. 2 BauGB nicht rechtmäßig erteilt worden, weil sie die Grundzüge der Planung berühre (hierzu aa)). Die Beigeladene legt jedoch am Maßstab von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO durchgreifend dar, dass diese Befreiung durch die Antragsgegnerin auf der Grundlage des zwischenzeitlich in Kraft getretenen Befreiungstatbestandes nach § 31 Abs. 3 BauGB rechtmäßig erteilt werden kann, was das Beschwerdegericht zu berücksichtigen hat (hierzu bb)).
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aa) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Befreiung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung sei auf der Grundlage von § 31 Abs. 2 BauGB nicht rechtmäßig erteilt worden, weil sie die Grundzüge der Planung berühre, wird durch die von der Beigeladenen dargelegten Gründe nicht erschüttert.
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Zu Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass es sich bei der - auch in der Planbegründung herausgestellten (vgl. dort S. 3) - städtebaulichen Funktion der ausgewiesenen Sondergebiete Läden, die in der Nähe wohnende Bevölkerung zu versorgen, um einen Grundzug der Planung handelt. Diese Annahme zieht die Beigeladene insbesondere nicht durch den Einwand durchgreifend in Zweifel, das Verwaltungsgericht habe die Gewichtung der verschiedenen Ausweisungen innerhalb der planerischen Konzeption, bei der die Wohnnutzung prägend und die im Sondergebiet festgesetzte Ladennutzung aufgrund ihres der Wohnnutzung dienenden Charakters untergeordnet sei, verkannt. Sowohl Planzeichnung als auch Planbegründung lassen vielmehr erkennen, dass es sich bei den ausgewiesenen Sondergebieten Läden nach der planerischen Konzeption um eine zur Sicherstellung der Nahversorgung der Wohnbevölkerung für notwendig erachtete funktionelle Ergänzung der Wohngebietsausweisungen handelt; sie ist damit zwar dienend, aber nicht untergeordnet. Das Verwaltungsgericht hat insoweit auch zutreffend darauf abgestellt, dass der Plangeber die Nahversorgung der Wohnbevölkerung erkennbar als so wesentlich angesehen hat, dass er sie durch eine Sondergebietsausweisung besonders absichern wollte, anstatt sie einer - ungewissen, weil durch Wohnnutzung verdrängungsgefährdeten - Zulassung in den Wohngebieten gemäß § 3 Abs. 3 bzw. § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO 1962 zu überlassen. Der Umstand, dass die fußläufig erreichbare Versorgung der Wohnbevölkerung mit Läden bei Planerlass im Jahr 1965 noch eine größere Bedeutung hatte als gegenwärtig, wird auch daraus deutlich, dass der Plangeber die Sondergebiete Läden an im Wesentlichen entgegengesetzten Enden des Plangebiets ausgewiesen, sie also in der Fläche verteilt hat.
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bb) Die Beigeladene legt jedoch am Maßstab von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO durchgreifend dar, dass die Befreiung von der festgesetzten Laden- zugunsten einer Wohnnutzung durch die Antragsgegnerin inzwischen auf der Grundlage des hinzugetretenen Befreiungstatbestandes nach § 31 Abs. 3 BauGB rechtmäßig erteilt werden kann.
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Nach dieser durch das Gesetz zur Mobilisierung von Bauland vom 14. Juni 2021 (BGBl. I S. 1802, 1804 - Baulandmobilisierungsgesetz) eingeführten Vorschrift kann in einem Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt, das nach § 201a BauGB bestimmt ist, mit Zustimmung der Gemeinde im Einzelfall von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugunsten des Wohnungsbaus befreit werden, wenn die Befreiung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Der Erschütterung der genannten tragenden Annahme des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses steht nicht entgegen, dass die Verordnung über die Bestimmung der Freien und Hansestadt Hamburg als Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt nach § 201a BauGB vom 13. Juli 2021 (HmbGVBl. S. 530), mit der ein zentrales Tatbestandsmerkmal von § 31 Abs. 3 BauGB erfüllt wird, gemäß Art. 54 Satz 1 HV erst mit dem 24. Juli 2020 und damit nach Ende der Beschwerdebegründungsfrist gemäß § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO - mit Ablauf des 15. Juli 2021 - in Kraft getreten ist.
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Zwar reicht es entgegen der Auffassung der Beigeladenen in diesem Zusammenhang nicht aus, dass die Antragsgegnerin mit § 1 Satz 1 der Verordnung über die Einführung einer Mietpreisbegrenzung nach § 556d des Bürgerlichen Gesetzbuchs vom 23. Juni 2020 (HmbGVBl. S. 341 - Mietpreisbegrenzungsverordnung) eine entsprechende Bestimmung für Zwecke des Mietrechts getroffen hat. Denn wie bereits dem Wortlaut von § 31 Abs. 3 BauGB („Gebiet [...], das nach § 201a BauGB bestimmt ist“) eindeutig entnommen werden kann, ist insoweit die Bestimmung durch eine auf Grundlage und gemäß den Anforderungen von § 201a BauGB zustande gekommene Rechtsverordnung erforderlich.
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Ungeachtet ihres Inkrafttretens (erst) zum 24. Juli 2021 kann das Beschwerdegericht jedoch die Bestimmung der Freien und Hansestadt Hamburg nach § 201a BauGB als Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt ohne Verstoß gegen § 146 Abs. 4 Satz 1, 3 und 6 VwGO berücksichtigen (vgl. zur Berücksichtigung nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist eingetretener Umstände, mit Übersicht zum Meinungsstand, Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 146 Rn. 81 ff.; Kuhlmann, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 146 Rn. 30). Denn zum einen ist die Beigeladene ihrer fristgebundenen Darlegungspflicht nach § 146 Abs. 4 Satz 1 und 3 VwGO nachgekommen, indem sie innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist schlüssig die Möglichkeit einer rechtmäßigen Erteilung der Befreiung von der Sondergebietsfestsetzung auf Grundlage von § 31 Abs. 3 BauGB einschließlich der - zu diesem Zeitpunkt allerdings noch bevorstehenden - Bestimmung nach § 201a BauGB dargelegt hat. Zum anderen ist diese Bestimmung seither durch die Antragsgegnerin getroffen worden und in Kraft getreten, sodass sie im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts anzuwendendes Recht ist.
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b) Die dem Beschwerdegericht damit eröffnete eigene Prüfung in der Sache führt zur Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses und zur Ablehnung des Aussetzungsantrages des Antragstellers zu 1. Bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotenen Abwägung der betroffenen öffentlichen und privaten Interessen der Beteiligten überwiegt hier, der gesetzlichen Regel nach § 212a Abs. 1 BauGB entsprechend, das Interesse der Beigeladenen am sofortigen Vollzug der Baugenehmigung das Aussetzungsinteresse des Antragstellers zu 1., da ein Verstoß gegen zu dessen Gunsten nachbarschützend wirkende Vorschriften des Bauplanungs- (hierzu aa)) oder des Bauordnungsrechts (hierzu bb)) durch den angefochtenen Baugenehmigungsbescheid bei summarischer Prüfung nicht ersichtlich ist.
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aa) Eine Verletzung des Antragstellers zu 1. in durch bauplanungsrechtliche Vorschriften vermittelten subjektiven Rechten ist bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ausreichenden und gebotenen summarischen Prüfung nicht festzustellen. Sie ergibt sich insbesondere nicht aus den im Baugenehmigungsbescheid vom 6. März 2019 zugunsten des Vorhabens erteilten Befreiungen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung - für eine Wohnnutzung auf einer als Sondergebiet Läden ausgewiesenen Fläche -, des Maßes der baulichen Nutzung - für eine Überschreitung der höchstzulässigen Zahl an Vollgeschossen um vier auf fünf Vollgeschosse, mit der die Antragsgegnerin zugleich konkludent von der festgesetzten Traufhöhe von 4,50 m befreit hat - und der überbaubaren Grundstücksfläche - für eine Überschreitung der hinteren Baugrenze um bis zu 1,10 m durch die der Westfassade angegliederten Balkone.
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Insoweit gilt, dass vorliegend allein die - bereits kraft Bundesrechts drittschützende (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.9.1993, 4 C 28.91, BVerwGE 94, 151, juris Rn. 12) - Gebietsausweisung Nachbarschutz zugunsten des Antragsteller zu 1. entfaltet. Hingegen kommt weder der festgesetzten Höchstzahl von nur einem Vollgeschoss und der Traufhöhenbegrenzung auf 4,5 m noch der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenze eine solche Wirkung zu. Die Festsetzungen eines Bebauungsplans über das Maß der baulichen Nutzung und die überbaubare Grundstücksfläche vermitteln grundsätzlich keine nachbarlichen Abwehrrechte; sie können im Einzelfall - ausnahmsweise - nach dem Willen des Plangebers dem Schutz der Nachbarn dienen, wenn sie wechselseitige Beschränkungen oder Begünstigungen für die einbezogenen Grundstücke zur Folge haben (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 25.6.2019, 2 Bs 100/19, NVwZ 2019, 1365, juris Rn. 27 ff. m.w.N.).
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Für die genannten Festsetzungen der höchstzulässigen Geschosszahl, der Traufhöhe und der rückwärtigen Baugrenze ist eine solche Einbindung in ein wechselseitiges Austauschverhältnis nicht ersichtlich. Sie ergibt sich insbesondere nicht aus einem - vom Antragsteller zu 1. geltend gemachten, aber anhand von Planzeichnung und -begründung nicht näher belegten - planerischen Ziel, eine Verschattung der Mehrfamilienhäuser entlang des ... durch eine mehrgeschossige Bebauung auf der Westseite der ... zu verhindern. Für die Annahme einer solchen nachbarschützenden Zielrichtung bedürfte es nachvollziehbarer Anhaltspunkte, die hier nicht bestehen. Dass die Festsetzungen höchstens eines Vollgeschosses und einer Traufhöhe von 4,5 m allein mit einer solchen nachbarschützenden Zielrichtung zu erklären sind, wie der Antragsteller zu 1. der Sache nach anführt, trifft bereits im Hinblick darauf nicht zu, dass die gleichen Festsetzungen auch innerhalb der im Süden des Plangebiets ausgewiesenen Sondergebiete Läden getroffen worden sind, die angesichts der erheblichen Abstände zu den nächstgelegenen Baufenstern mit Wohngebietsausweisung keinen Anlass für eine solche belichtungssichernde Festsetzung boten.
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Daraus folgt, dass der Antragsteller zu 1. lediglich in Bezug auf die erteilte Befreiung von der nachbarschützenden Gebietsausweisung einen Anspruch auf vollumfängliche Überprüfung besitzt, ob diese Befreiung objektiv rechtmäßig erteilt wurde. Hinsichtlich der im Übrigen erteilten Befreiungen entfaltet lediglich das in § 31 Abs. 2 und 3 BauGB jeweils enthaltene Erfordernis der Würdigung nachbarlicher Interessen zu seinen Gunsten Nachbarschutz, wobei dieser Würdigung die Maßstäbe zugrunde zu legen sind, die das Bundesverwaltungsgericht zum drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme, § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO, entwickelt hat (vgl. - jew. zu § 31 Abs. 2 BauGB - BVerwG, Beschl. v. 8.7.1998, 4 B 64.98, NVwZ-RR 1999, 8, juris Rn. 6 f.; OVG Hamburg, Beschl. v. 27.3.2017, 2 Bs 51/17, BauR 2017, 1148, juris Rn. 15; für Übertragbarkeit auf § 31 Abs. 3 BauGB Scheidler, WiVerw 2021, 45 (49)).
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Ob die Befreiung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung am Maßstab des Befreiungstatbestandes nach § 31 Abs. 2 BauGB, auf den die Antragsgegnerin sich bei der Erteilung gestützt hat, rechtmäßig ist, bedarf hier keiner Entscheidung; wie bereits ausgeführt (s.o. 2. a) aa)), handelt es sich bei der Nahversorgung der Wohnbevölkerung mit Läden nach der dem Bebauungsplan zugrundeliegenden Konzeption um einen Grundzug der Planung. Für Wohnungsbauvorhaben in einem Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt, das nach § 201a BauGB bestimmt ist, stellt der nunmehr hinzugetretene Befreiungstatbestand nach § 31 Abs. 3 BauGB die gegenüber Absatz 2 der Vorschrift sachlich speziellere Regelung dar. Bei summarischer Prüfung kann die Befreiung von der Gebietsausweisung hier auf der Grundlage von § 31 Abs. 3 BauGB rechtmäßig erteilt werden, denn die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor (hierzu bb)) und es kann im vorliegenden Einzelfall mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Antragsgegnerin im Rahmen des anhängigen Widerspruchsverfahrens zugunsten der Beigeladenen eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über die Erteilung dieser Befreiung auf der Grundlage von § 31 Abs. 3 BauGB treffen wird (hierzu cc)).
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bb) Die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 31 Abs. 3 BauGB liegen bei summarischer Prüfung vor.
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Das Vorhaben der Beigeladenen dient dem Wohnungsbau in einem Gebiet, das - zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts - nach § 201a BauGB als Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt bestimmt ist. Nach dem Erkenntnisstand im Beschwerdeverfahren sind Zweifel daran, dass die Verordnung vom 13. Juli 2021 über die Bestimmung der Freien und Hansestadt Hamburg als Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt nach § 201a BauGB den formellen und materiellen Anforderungen dieser Vorschrift genügt und wirksam ist, weder dargetan noch sonst ersichtlich. Das in § 31 Abs. 3 BauGB enthaltene Zustimmungserfordernis zugunsten der Gemeinde stellt angesichts von § 246 Abs. 5 BauGB keine eigenständigen Anforderungen an die Erteilung einer Befreiung durch die Antragsgegnerin.
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Die Befreiung von der Gebietsausweisung ist hier auch für einen Einzelfall getroffen worden. Diesem Erfordernis ist genügt, solange nicht erkennbar ist, dass eine vergleichbare Befreiungslage im Plangebiet in einer solchen Anzahl gleich gelagerter Fälle eintreten könnte, dass die Schwelle des Planungserfordernisses überschritten würde (vgl. - jew. zu § 31 Abs. 2 BauGB - VGH Mannheim, Beschl. v. 17.5.2013, 3 S 1643/12, NVwZ-RR 2013, 912, juris Rn. 33, 35; OVG Münster, Beschl. v. 4.6.2020, 2 B 417/20, ZfBR 2020, 784, juris Rn. 30 ff.; vgl. auch - zu den Grundzügen der Planung – BVerwG, Beschl. v. 5.3.1999, 4 B 5.99, NVwZ 1999, 1110, juris Rn. 6; OVG Hamburg, Beschl. v. 8.8.2013, 2 Bf 108/11, NordÖR 2014, 120, juris Rn. 45). Die Erteilung der Befreiung ermöglicht hier die Schließung einer Baulücke; unter Berücksichtigung sowohl der planerischen Festsetzungen als auch der tatsächlichen Grundstücksgegebenheiten ist nicht ersichtlich, dass diese Befreiungslage sich innerhalb des Plangebiets in einer erheblichen Zahl gleichgelagerter Fälle einstellen könnte.
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Die Befreiung erscheint ferner mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Angesichts der auch in der Gesetzesbegründung hervorgehobenen Funktion des hinzugetretenen Befreiungstatbestandes nach § 31 Abs. 3 BauGB, die Bindungswirkung der planerischen Konzeption bzw. ihrer Grundzüge bei der Erteilung einer Befreiung gegenüber § 31 Abs. 2 BauGB zu lockern, ist nach dem Willen des Gesetzgebers im Rahmen dieses Merkmals nicht zu betrachten, ob die Grundzüge der Planung berührt werden (vgl. BT-Drs. 19/24838, S. 19, 28; Scheidler, WiVerw 2021, 45 (48)). Sonstige öffentliche Belange, die dem Vorhaben entgegenstehen könnten, sind bei summarischer Prüfung nicht ersichtlich. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass die Erteilung der Befreiung einen städtebaulichen Missstand entstehen lassen würde.
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Die Tatbestandsvoraussetzungen von § 31 Abs. 3 BauGB liegen schließlich auch unter der Würdigung nachbarlicher Interessen vor. Nicht nur in Bezug auf die erteilte Befreiung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung, sondern auch im Hinblick auf die weiteren Befreiungen bezüglich des Maßes und der überbaubaren Grundstücksfläche sowie in seiner Ausgestaltung insgesamt stellt sich das Vorhaben bei summarischer Würdigung als für die Nutzung des Grundstücks des Antragstellers zu 1. nicht unzumutbar dar. Als unzumutbar bzw. rücksichtslos ist ein Vorhaben zu werten, wenn die mit ihm verbundenen Beeinträchtigungen für den Nachbarn bei der Nutzung des eigenen Grundstücks bei einer Abwägung, in die die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung und die Interessen des Bauherrn einzustellen sind, billigerweise unzumutbar erscheinen (siehe nur OVG Hamburg, Beschl. v. 25.5.2020, 2 Bs 55/20, juris Rn. 48). Solches ist hier nicht ersichtlich. Im Einzelnen:
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Aus der Zulassung einer Wohnnutzung auf der Fläche der für Läden bestimmten Sondergebietsausweisung ergeben sich weder für die Wohn- noch für die Ladennutzung des Grundstücks des Antragstellers zu 1. unzumutbare Beeinträchtigungen. Insoweit ist insbesondere nicht erkennbar, dass mit der zugelassenen Wohnnutzung grundsätzlich größere nutzungsartbedingte Beeinträchtigungen verbunden sind als mit der planerisch festgesetzten Ladennutzung. Während sich Nutzungsformen mit möglicher Störwirkung für Nachbarn zwischen einer Wohn- (z.B. Balkon- und Freiflächennutzung, insb. am Abend) und einer Ladennutzung (z.B. geräuschintensive Warenanlieferung, etwa morgens) regelhaft unterscheiden dürften, besteht eine allgemein größere Störungseignung einer der beiden Nutzungsarten nicht.
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Die Festsetzung von Stellplätzen mit Einfahrt südlich der Sondergebietsausweisung entfaltet entgegen der Auffassung des Antragstellers zu 1. keine Schutzwirkung zu seinen Gunsten.
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Auch durch die erteilte Befreiung hinsichtlich der zulässigen Geschosszahl sowie der Gebäude- bzw. Traufhöhe sind bei summarischer Würdigung keine unzumutbaren Beeinträchtigungen für das Grundstück des Antragstellers zu 1. zu erwarten. Zwar führt diese Befreiung zu einer erheblichen Abweichung von den Festsetzungen des Bebauungsplans, was im Rahmen der Würdigung der Interessen gebietsansässiger Nachbarn grundsätzlich zu berücksichtigen ist (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 7.6.2021, 2 Bs 84/21, juris (zu § 31 Abs. 2 BauGB)). Bei Betrachtung der konkreten Grundstücksverhältnisse bedingt diese erhebliche Planabweichung hinsichtlich des Maßes allerdings voraussichtlich keine unzumutbaren Beeinträchtigungen insbesondere unter dem Aspekt einer möglichen erdrückenden bzw. abriegelnden Wirkung oder der Belichtungsverhältnisse.
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Einer erdrückenden Wirkung des Vorhabens für den als Laden genutzten Teil des Grundstücks des Antragstellers zu 1. steht entgegen, dass das Vorhaben aus dem eingeschossigen Ladengebäude mangels entsprechender Fassadenöffnungen nicht wahrnehmbar ist. In Bezug auf das dreigeschossige Mehrfamilienhaus im nordwestlichen Grundstücksteil gilt zunächst, dass eine Höhendifferenz im Umfang von zwei Vollgeschossen - das Vorhaben ist überwiegend fünfgeschossig - zwischen zwei unterschiedlich dimensionierten Baukörpern für sich betrachtet regelhaft keine erdrückende Wirkung entfaltet (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 6.11.2019, 2 Bs 218/19, BauR 2020, 445, juris Rn. 35 m.w.N.). Überdies wird die Wirkung der Gebäudehöhe des Vorhabens auf das genannte Mehrfamilienhaus durch den verbleibenden Abstand - von ca. 3,50 m zur Südostecke des Mehrfamilienhauses, dessen Südfassade in diesem Bereich zunächst fensterlos ist - und den gerade zu diesem Zweck durch die Beigeladene vorgesehenen Rücksprung des 4. Obergeschosses nach Süden um ca. 2,70 m gemindert.
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Ebenso wenig ist eine abriegelnde Wirkung des Vorhabens auf das Grundstück des Antragstellers zu 1. festzustellen. Hierzu trägt wesentlich bei, dass das Vorhaben an der gemeinsamen Grundstücksgrenze eine maßvolle Tiefe von nur ca. 8 m aufweist und erst in einem weiteren Abstand von ca. 7,50 m zur Grundstücksgrenze seine maximale Tiefe von knapp 13 m erreicht. Diese noch maßvolle Tiefe des Vorhabens, das - mit Ausnahme eines Balkonstranges - die hintere Baugrenze nicht übertritt, führt in Verbindung mit dem Umstand, dass das Mehrfamilienhaus des Antragstellers zu 1. um mehrere Meter von der Ostgrenze des Grundstücks zurückgesetzt ist, zu einer seitlichen Überdeckung der beiden Baukörper in Ost-West-Richtung, die zumutbar ist.
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Daraus ergibt sich zugleich, dass auch die Beeinträchtigungen der Belichtung bzw. Besonnung des Grundstücks und dabei insbesondere des - gegenüber dem Ladenlokal erhöht schutzbedürftigen - Mehrfamilienhauses des Antragstellers zu 1. sich nicht als rücksichtslos darstellen. Zwar genoss das Grundstück des Antragstellers zu 1., solange das unmittelbar südlich gelegene Vorhabengrundstück unbebaut war, eine besonders vorteilhafte, weil nahezu gänzlich uneingeschränkte Belichtungssituation.Allerdings gilt grundsätzlich, dass das Rücksichtnahmegebot keine bestimmte Dauer oder „Qualität“ der natürlichen Belichtung oder die unveränderte Beibehaltung einer insoweit zuvor gegebenen Situation gewährleistet (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 26.9.2007, 2 Bs 188/07, NordÖR 2008, 73, juris Rn. 10). Die in Höhe und Tiefe durch die genannten Rücksprünge des Vorhabens gemäßigte Überdeckung mit dem Mehrfamilienhaus in Ost-West-Richtung ermöglicht es, dass - neben den Ostfassaden sowohl des Ladens als auch des Mehrfamilienhauses, die direkte Belichtung über weite Teile des Vormittags erfahren - auch die mit Balkonen versehene Südfassade des Mehrfamilienhauses im Laufe des Nachmittages zunehmend und sodann vollständig direktes Licht bzw. Sonne empfängt.
- 38
cc) Das Beschwerdegericht kann im vorliegenden Einzelfall auch mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die Antragsgegnerin im Rahmen des anhängigen Widerspruchsverfahrens zugunsten der Beigeladenen eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über die Erteilung der Befreiung bezüglich der Art der baulichen Nutzung auf der Grundlage von § 31 Abs. 3 BauGB treffen wird. Diese Frage stellt sich, weil die Antragsgegnerin die Erteilung dieser Befreiung im Baugenehmigungsbescheid vom 6. März 2019 auf § 31 Abs. 2 BauGB gestützt hat. Anders als die Beigeladene annimmt, folgt aus einer - hier einmal unterstellten - fehlerfreien Ausübung des der Baugenehmigungsbehörde durch § 31 Abs. 2 BauGB eingeräumten Erteilungsermessens nicht ohne weiteres - oder gar „erst recht“ -, dass auch den Anforderungen an eine fehlerfreie Ermessensausübung auf Grundlage von § 31 Abs. 3 BauGB entsprochen ist. Die für § 31 Abs. 2 BauGB geltende Feststellung, dass angesichts des dichten Gefüges materieller Tatbestandsvoraussetzungen nur ein geringer Spielraum für die Ermessensausübung verbleibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.9. 2002, 4 C 13.01, BVerwGE 117, 50, juris Rn. 31; Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 14. Aufl. 2019, § 31 Rn. 43 m.w.N.), lässt sich auf § 31 Abs. 3 BauGB nicht übertragen (a.A. offenbar Scheidler, WiVerw 2021, 45 (47)). Den im Vergleich zu § 31 Abs. 2 BauGB gelockerten materiellen Anforderungen von § 31 Abs. 3 BauGB auf Tatbestandsseite stehen ein größerer Ermessensspielraum der Baugenehmigungsbehörde bei der Inanspruchnahme dieser Ermächtigungsgrundlage, ein weiterer Kreis ermessensrelevanter - städtebaulicher (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 9.2.2021, 2 Bs 231/20, juris Rn. 30 m.w.N.) - Erwägungen und damit höhere Anforderungen an die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens gegenüber. Dieses Ermessen hat die Antragsgegnerin, der die Vorschrift des § 31 Abs. 3 BauGB bei der Erteilung der Befreiung im Baugenehmigungsbescheid vom 6. März 2019 noch nicht zur Verfügung stand, bislang noch nicht ausgeübt.
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Die besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalles lassen allerdings die verlässliche Prognose des Beschwerdegerichts zu, dass die Antragsgegnerin im Rahmen des noch anhängigen Verfahrens zur Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers zu 1. vom 14. Oktober 2020 das ihr nunmehr durch § 31 Abs. 3 BauGB eröffnete Ermessen in rechtsfehlerfreier Weise im Sinne einer Erteilung der Befreiung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ausüben wird. Angesichts des Umstandes, dass es sich bei dem Vorhaben der Beigeladenen nicht lediglich um ein - im Rahmen von § 31 Abs. 3 BauGB grundsätzlich privilegiertes - Wohnbauvorhaben, sondern darüber hinaus um ein Vorhaben zur Bereitstellung von Wohnraum für vordringlich Wohnungssuchende handelt, an dessen Verwirklichung ein hervorgehobenes öffentliches Interesse besteht, kann ein solcher Ausgang der Ermessensausübung im vorliegenden Einzelfall ungeachtet des weiteren Kreises ermessensrelevanter Belange mit der gebotenen hohen Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden. In Bezug auf die übrigen, nicht nachbarschützenden Festsetzungen, von denen die Antragsgegnerin Befreiungen zugunsten der Beigeladenen erteilt hat, kommt es im Rahmen der Nachbaranfechtung auf die objektive Rechtmäßigkeit der jeweiligen Befreiung nicht an (s.o. aa)).
- 40
bb) Auch ein Verstoß gegen zugunsten des Antragstellers zu 1. nachbarschützend wirkende Vorschriften des Bauordnungsrechts ist bei summarischer Prüfung nicht gegeben.
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aaa) Soweit der Antragsteller zu 1. sich auf eine Missachtung abstandsflächenrechtlicher Anforderungen nach § 6 Abs. 5 HBauO beruft, ist ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften nicht festzustellen.
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Wie sich aus der Verweisung in § 71 Abs. 2 Nr. 1 HBauO (allein) auf das Mindestabstandsflächenerfordernis nach § 6 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 HBauO im Umkehrschluss ergibt, entfalten die Anforderungen an die Abstandsflächentiefe nach dem Maß von 0,4 H gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 HBauO keinen Nachbarschutz (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 25.6.2019, 2 Bs 100/19, NVwZ 2019, 1365, juris Rn. 77).
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Auch ein Verstoß gegen das Mindestabstandsflächengebot nach § 6 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 HBauO liegt nicht vor. Denn die durch den Bebauungsplan für das Vorhabengrundstück getroffene Festsetzung einer geschlossenen Bauweise erfüllt die Anforderungen von § 6 Abs. 1 Satz 3 HBauO, wonach eine Abstandsfläche nicht erforderlich ist vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach - hier - planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss. Zu Unrecht hält der Antragsteller zu 1. dem entgegen, der Ausschluss abstandsflächenrechtlicher Anforderungen könne angesichts der erteilten Befreiung hinsichtlich der Geschosszahl bzw. Gebäudehöhe und der damit gegenüber der Planlage zugunsten der Beigeladenen veränderten Bebaubarkeit entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze nicht gelten. Eine solche Befreiung ist zwar - wie bereits ausgeführt - nach § 31 Abs. 2 und 3 BauGB unter dem Gesichtspunkt nachbarlicher Interessen zu würdigen; die Anwendbarkeit von § 6 Abs. 1 Satz 3 HBauO schließt sie indes nicht aus.
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bbb) Ohne Erfolg beruft sich der Antragsteller zu 1. zuletzt auf eine Verletzung von zu seinen Gunsten nachbarschützend wirkenden Anforderungen an die Standsicherheit des Vorhabens, durch die er sein Gebäude gefährdet sieht.
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Nach § 15 Abs. 1 Satz 4 HBauO darf die Errichtung, Änderung und Beseitigung baulicher Anlagen nicht dazu führen, dass die Standsicherheit anderer baulicher Anlagen und die Tragfähigkeit des Baugrundes der Nachbargrundstücke gefährdet werden. Zwar entspricht es, wie bereits ausgeführt, dem ausdrücklichen Willen des Landesgesetzgebers, dass die Hamburgische Bauordnung Nachbarrechte ausschließlich im Rahmen von § 71 Abs. 2 HBauO gewährt, was im Umkehrschluss grundsätzlich auch Nachbarschutz durch standsicherheitsrechtliche Erfordernisse ausschließt (vgl. hierzu und zum Folgenden OVG Hamburg, Beschl. v. 25.6.2019, 2 Bs 100/19, NVwZ 2019, 1365, juris Rn. 77 m.w.N.). Gleichwohl ist die Vorschrift des § 15 Abs. 1 Satz 4 HBauO zur Sicherung der Grundrechte des Nachbareigentümers oder anderer auf dem Grundstück Betroffener aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 GG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie Drittschutz vermittelt, wenn die konkrete Gefährdung der Standsicherheit ein behördliches Einschreiten erforderlich macht, um unmittelbar bevorstehende erhebliche Gefahren für Leib, Leben, Gesundheit oder Eigentum abzuwenden.
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Eine solche konkrete Gefährdung der Standsicherheit seines Gebäudes - oder auch nur der Baugrube - ist allerdings weder durch den Antragteller zu 1. substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Insbesondere erscheint es fernliegend, von einer solchen konkreten Gefährdung in jedem Fall der Errichtung eines Vorhabens in geschlossener Bauweise zu einem Nachbargrundstück bzw. -gebäude auszugehen.
III.
- 47
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 bis 3, 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
IV.
- 48
Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
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