Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (2. Senat) - 2 M 161/11
Tenor
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt B. mit der Maßgabe bewilligt, dass keine höheren Kosten erstattet werden als bei der Beauftragung eines Rechtsanwalts, der am Wohnort des Antragstellers oder am Gerichtsort ansässig ist.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Greifswald – 2. Kammer – vom 3. August 2011 geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung vom 24.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2011 wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
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Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine vom Rechtsvorgänger des Antragsgegners (im Folgenden einheitlich: Antragsgegner) unter Anordnung der sofortigen Vollziehung erlassene Ausweisungsverfügung.
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Durch Beschluss vom 3. August 2011 hat es das Verwaltungsgericht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers wiederherzustellen. In den Gründen heißt es u.a.: Die angefochtenen Bescheide seien offensichtlich rechtmäßig. Die Ausweisung sei nach § 53 Nr. 1 AufenthG zwingend, da der Antragsteller wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden sei.
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Die dagegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat beschränkt ist (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), führt zu einer Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Dem Antragsteller ist der begehrte vorläufige Rechtsschutz zuzusprechen.
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Die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu treffende Entscheidung ergeht auf der Grundlage einer Interessenabwägung. Nach der Beschwerdebegründung und der Beschwerdeerwiderung des Antragsgegners ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die angefochtene Verfügung sei offensichtlich rechtmäßig, nicht aufrechtzuerhalten.
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Dem rechtlichen Ausgangspunkt des Verwaltungsgerichts, dass die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für eine Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG vorliegen, ist allerdings zu folgen; dies wird in der Beschwerdebegründung auch nicht in Zweifel gezogen.
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Das Verwaltungsgericht hat allerdings nicht problematisiert, dass die erwähnte strafgerichtliche Verurteilung bereits vom 18.09.1997 datiert und hat nicht geprüft, ob – wie der Antragsteller meint – eine fast vierzehnjährige „Vorratshaltung“ eines Ausweisungsgrundes unzulässig ist.
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Dass der Antragsteller sich nicht darauf berufen kann, dass der vom Antragsgegner geltend gemachte Ausweisungsgrund verbraucht bzw. verwirkt sei, ist jedenfalls nicht offensichtlich. In der Rechtsprechung ist allgemein anerkannt, dass Ausweisungsgründe als verwirkt oder verbraucht angesehen werden können.
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Dabei wird zum Teil offenbar auch angenommen, dass es ausreicht, wenn die Ausländerbehörde einige Jahre „schlicht untätig“ bleibt (vgl. Hessischer VGH, Urt. vom 04.03.2002 - 12 UE 203/02 -). Bei dieser Betrachtungsweise spricht manches dafür, dass der Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG (bzw. früher: § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG) verbraucht ist. Allerdings wären die angefochtenen Bescheide wohl nicht offensichtlich rechtswidrig. Denn die – jeweils für den Antragsteller in den letzten ca. vierzehn Jahren zuständige – Ausländerbehörde ist nur untätig geblieben, was das Gebrauchmachen von dem besagten Ausweisungsgrund angeht. Gleichwohl sind einige Versuche unternommen worden, den Antragsteller (auf anderer rechtlicher Grundlage) abzuschieben. Aber auch wenn man bezüglich der Verwirkung bzw. des Verbrauchs einen strengeren Maßstab anlegen würde, wonach es erforderlich wäre, dass der Ausländer aus dem konkreten Verhalten der Ausländerbehörde heraus darauf vertrauen dürfte, dass diese von dem Ausweisungsgrund keinen Gebrauch mehr machen würde (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. vom 17.11.2009 - 10 ZB 09.1415 -, Rn. 9 m.w.N.), wäre nicht offensichtlich, dass die Ausweisungsverfügung rechtmäßig ist. Zum einen hat die Ausländerbehörde dem Antragsteller nicht nur Duldungen, sondern auch wiederholt Aufenthaltsgestattungen erteilt, ohne sich die Ausweisung vorzubehalten, obwohl das Vorliegen des Ausweisungsgrundes von vornherein bekannt war. Zum anderen ist nicht offensichtlich, dass der Antragsteller nicht den besonderen Abschiebungsschutz des § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG beanspruchen kann. Nach dieser Vorschrift genießt ein Ausländer, der mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, besonderen Ausweisungsschutz. Das Verwaltungsgericht ist in seinem Beschluss vom 05.01.2011 – 2 B 1550/10 – auf den der Antragsteller in der Beschwerdebegründung Bezug nimmt, davon ausgegangen, dass der Antragsteller in einer familiären Lebensgemeinschaft mit seinem am 27.02.2010 geborenen leiblichen Sohn sowie dessen (ausländischer) Mutter und ihrem am 06.06.2008 geborenen deutschen Kind zusammen lebt. Ob nicht der Familienbegriff des § 56 AufenthG so weit zu fassen ist, dass die vorliegende Beziehungskonstellation darunter fällt, bedarf allerdings nicht der Klärung im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. Falls diese Frage zu bejahen sein sollte, wäre im Hauptsacheverfahren ebenfalls zu klären, ob von der dann in Betracht zu ziehenden Regelausweisung (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG) wegen der beschriebenen Beziehungskonstellation oder wegen der extrem langen Zeit, die seit der Straftat im Sinne von § 53 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vergangen ist, abzusehen sein würde, wobei auch eine Rolle spielen könnte, dass die erwähnten Kinder sehr klein sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.2006 - 2 BvR 1535/05 -, Rn. 22, zit. nach juris).
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Die bei (zumindest) offenen Erfolgsaussichten vorzunehmende Interessenabwägung geht hier jedenfalls zugunsten des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Ausweisung ist hier als geringer zu bewerten als das Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung vorerst verschont zu bleiben, weil der Antragsgegner nach dem bereits erwähnten Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 05.01.2011 daran gehindert ist, die Ausweisung zu vollziehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.09.2011 - 1 VR 1/11 -, Rn. 9, zit. nach juris).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die Prozesskostenhilfe auf §§ 166 VwGO, 114 ZPO und die Streitwertfestsetzung auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 GKG.
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Referenzen
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- § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 53 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 2 BvR 1535/05 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 80 1x
- § 53 Nr. 1 AufenthG 3x (nicht zugeordnet)
- 12 UE 203/02 1x (nicht zugeordnet)
- § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- 2 B 1550/10 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 146 1x
- §§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 114 Voraussetzungen 1x
- VwGO § 152 1x
- ZPO § 166 Zustellung 1x
- §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- § 56 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)