Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (3. Senat) - 3 M 182/12
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Schwerin vom 20.11.2012 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners vom 10.07.2012 (Az. 03941-11) wird angeordnet.
Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750,- € festgesetzt.
Gründe
I.
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Die Antragsteller und Beschwerdeführer wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Verbrauchermarktes mit Bäcker und Fleischer mit einer Verkaufsfläche von (knapp) unter 800 qm und 72 Stellplätzen an der T. Straße in A-Stadt.
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Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Baugenehmigung mit der Begründung abgelehnt, sie könnten sich nicht auf einen Gebietserhaltungsanspruch berufen. Aufgrund der in der näheren Umgebung vorhandenen Nutzungen wie einem Hotel, einer Tankstelle, einer Autovermietung und einer Autowaschanlage könne nicht von einem reinen Wohngebiet ausgegangen werden. Wegen der wohngebietsunverträglichen Autowaschanlage käme auch in Betracht, die nähere Umgebung keinem der Baugebiete nach der BauNVO zuzuordnen. Ginge man von einem faktischen allgemeinen Wohngebiet aus, sei der geplante Verbrauchermarkt bauplanungsrechtlich seiner Art nach nicht nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO unzulässig. Der Annahme, dass der Discountmarkt der Gebietsversorgung diene, stehe nicht entgegen, dass dieser an einer vielbefahrenen Ausfallstraße liege. Hieraus könne im Hinblick auf das übliche Sortiment eines NETTO-Marktes nicht auf eine gebietsübergreifende Versorgung geschlossen werden, zumal in A-Stadt eine gute Versorgung mit Verbrauchermärkten bestehe. Auch die Stellplatzgröße sei kein ausreichend gewichtiges Indiz für eine übergebietliche Ausrichtung des Marktes. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes durch unzulässige Lärmimmissionen auf das Grundstück der Antragsteller sei nicht überwiegend wahrscheinlich; die Immissionsrichtwerte nach der TA-Lärm für ein allgemeines Wohngebiet würden bei Umsetzung der genehmigten Bebauung und Nutzung eingehalten. Die von den Antragstellern behauptete höhere Kundenzahl (und damit verbundenen höheren Fahrzeugbewegungen) seien nicht weiter sachverständig belegt und stünden einer Einschätzung des TÜV-Nord entgegen. Auf eine Unbestimmtheit der Baugenehmigung im Hinblick auf drittschützende Bestimmungen könnten sich die Antragsteller nicht berufen. Auch ohne Einbeziehung der schalltechnischen Untersuchung regele die Baugenehmigung das zum Schutze der Nachbarn vor schädlichen Umwelteinwirkungen Erforderliche. Unberechtigtes Parken Dritter in der Nacht sei spekulativ und dem könne durch nachträgliche Anordnungen Rechnung getragen werden.
II.
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Die dagegen gerichtete Beschwerde hat unter Zugrundelegung des gem. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO maßgeblichen Beschwerdevorbringens Erfolg.
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Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung erweist sich nach der im Eilverfahren gebotenen und allein möglichen summarischen Prüfung aller Voraussicht nach als rechtswidrig und verletzt die Antragsteller in ihren Rechten, weil sie dem geplanten Vorhaben einen Gebietserhaltungsanspruch für ein faktisches allgemeines Wohngebiet entgegen halten können.
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Der Senat geht davon aus, dass sich die nähere Umgebung des geplanten Vorhabens als allgemeines Wohngebiet darstellt, so dass sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art gem. § 34 Abs. 2 BauGB nach § 4 BauNVO beurteilt und sich die Antragsteller auf einen entsprechenden Gebietserhaltungsanspruch berufen können.
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Der aus § 34 Abs. 2 BauGB resultierende und von den Antragstellern in erster Linie geltend gemachte Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet (§ 9 Satz 1 Nr. 1 BauGB, § 1 Abs. 3 BauNVO) das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben zur Wehr zu setzen. Derselbe Nachbarschutz besteht im unbeplanten Innenbereich, der hier mangels Bebauungsplans vorliegt, wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung entspricht (BVerwG, B. v. 27.09.2007 - 4 B 36/07 -, juris). Die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art der Nutzung beurteilt sich in diesen Fällen sodann allein danach, ob das Vorhaben aufgrund seiner Art nach der BauNVO in dem Gebiet allgemein zulässig wäre; auf die nach der BauNVO ausnahmsweise zulässigen Vorhaben ist § 31 Abs. 1 BauGB, im Übrigen ist § 31 Abs. 2 BauGB entsprechend anzuwenden (BVerwG, U. v. 16.09.1993, BVerwGE 94, 151 und v. 23.08.1996, BVerwGE 101, 364).
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Sieht man die nähere Umgebung des Vorhabens mit den durch die Beschwerde nicht angezweifelten Feststellungen des Verwaltungsgerichts und aufgrund des Eindrucks im Ortstermin im Osten durch die Bahnlinie, im Westen durch das Waldstück am H.weg, im Norden durch die T. Straße und im Süden durch die am R. Weg beginnende Bebauung mit Wochenend- und Gartenhäusern als begrenzt an, so ist eine überwiegende Wohnbebauung mit Ein- und Zweifamilienhäusern vorzufinden. Nach Einschätzung des Senats dürfte der T. Straße als vierspurige Ausfallstraße trennende Wirkung zukommen, so dass das Gebiet nördlich der T. Straße – auch wegen vorhandenen Freiflächen zwischen der T. Straße und der sich erst daran nördlich anschließenden Bebauung – wohl nicht mehr zur näheren Umgebung zu zählen ist. Damit zählt auch der von der Beigeladenen angeführte Park+Ride Parkplatz sowie das Hotel aufgrund der Lage nördlich der T. Straße nicht mehr zur näheren Umgebung des Vorhabens.
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Der Annahme eines faktischen reinen Wohngebiets steht die in der nordöstlichen Ecke dieses Gebietes vorhandene Tankstelle entgegen. Vom Vorliegen eines solchen Gebietes gehen die Antragsteller in der Beschwerde selbst nicht mehr aus. Die Tankstelle und der sich weiter nordöstlich in der äußerten Ecke des beschriebenen Gebietes befindliche Autoverleih, die ausweislich der Inaugenscheinnahme im Ortstermin nicht (mehr) über eine Waschanlage verfügen, stehen der Annahme eines faktischen allgemeinen Wohngebietes nicht entgegen.
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Tankstellen sind im allgemeinen Wohngebiet gem. § 4 Abs. 3 Nr. 5 BauNVO ausnahmsweise zulässig, wobei grundsätzlich nur kleine Tankstellen mit wenigen Zapfsäulen und der üblichen Ausstattung mit Anlagen für die Wartung und Pflege von Kraftfahrzeugen sowie für den Verkauf von Waren als gebietstypisch bzw. gebietsverträglich anzusehen sind. Zum Schutz der Wohnruhe vor Lärm durch den Tankstellenbetrieb kommen im Einzelfall dem Standort und der Anordnung der Anlage auf dem Grundstück Bedeutung zu, so dass ein Standort am Rande des Gebiets an einer stärker befahrenen Straße eher zulassungsfähig als an einer ruhigen Wohnstraße oder an der Grenze zu einem reinen Wohngebiet ist. In einem solchen Fall kann auch die Schutzwürdigkeit einer von der Tankstelle betroffenen Wohnnutzung durch eine höhere Vorbelastung mit Lärm gemindert sein (vgl. Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB-Kommentar, § 4 BauNVO Rn. 138 f m.w.N. zur Rspr.).
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Hiervon ausgehend können bei einer Tankstelle mit (mindestens) 5 Tankanlagen und 10 Zapfsäulen und einem geräumigen Verkaufsraum zwar Zweifel an der Gebietstypik für ein allgemeines Wohngebiet bestehen. Allerdings erscheint die Tankstelle aufgrund ihrer Lage in der äußeren nord-östlichen Ecke des Gebietes an der T. Straße als vierspurige Ausfallstraße und der daraus resultierende Vorbelastung für die angrenzende Wohnbebauung trotz ihrer Größe noch als gebietsverträglich für ein allgemeines Wohngebiet, zumal die Erschließung der Tankstelle allein von der T. Straße aus erfolgt, der Tankstellenbetrieb insgesamt in Richtung der T. Straße ausgerichtet ist und durch die Lage des Verkaufsgebäudes von der dahinterliegenden Wohnbebauung, zu der keine Anbindung für Fahrzeuge besteht, abgegrenzt ist.
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Unter Zugrundelegung des Vortrages der Beigeladenen und den Feststellungen im Ortstermin, wonach durch den Autoverleih auch Lkw und Transporter vermietet werden und auf dem Gelände eine größere Zahl von Fahrzeugen vorgehalten wird, kann dieser zwar nicht als ausnahmsweise zulässiger nicht störender Gewerbebetrieb i.S.v. § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO angesehen werden. So sind etwa Kfz- Handels- und Reparaturbetriebe als störend in einem allgemeinen Wohngebiet anzusehen (vgl. VGH Mannheim, B. v. 16.02.1987 – 3 S 261/87 -, VBlBW 87, 342; OVG Berlin, U. v. 15.08.2003 – 2 B 18.01 -, NVwZ-RR 2004, 391), wobei bei einem Autoverleih gegenüber einem Autohandel von einer höheren Frequenz an Fahrzeugbewegungen auszugehen sein dürfte.
- 12
Allerdings handelt es sich nach Auffassung des Senats bei dem Autoverleih um einen Fremdkörper, der der Annahme eines faktischen allgemeinen Wohngebietes nicht entgegen steht. Bei der Beurteilung der näheren Umgebung haben Fremdkörper außer Betracht zu bleiben, die als singuläre Anlagen in einem auffälligen Kontrast zur übrigen Bebauung stehen und die wegen ihrer Einzigartigkeit den Charakter der Umgebung nicht prägen. Dabei sind vor allem die Größe des Baukörpers, die von ihm ausgehenden Störungen und die Homogenität der übrigen Bebauung zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, U. v. 15.02.1990 – 4 C 23.86 -, BRS 50, Nr. 75). Störende Einwirkungen auf die Umgebungsbebauung schließen die Annahme eines Fremdkörpers nicht aus, wenn sie der Umgebung nicht ein bestimmtes Gepräge aufdrücken. Je weniger homogen die Bebauung ist, desto weniger wird eine aus dem Rahmen fallende Anlage bei der notwendigen wertenden Betrachtung als Fremdkörper qualifiziert werden können (Bracher in Gelzer/Bracher/Reidt, Bauplanungsrecht, 7. Aufl., Rn. 2012).
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Ausgehend von dem Vortrag der Beteiligten und den Feststellungen im Rahmen des Ortstermins ist in der oben beschriebenen näheren Umgebung des Vorhabens mit Ausnahme der Tankstelle und dem Autoverleih Wohnbebauung vorhanden, so dass diese beiden Anlagen in deutlichem Kontrast zur übrigen homogenen Bebauung stehen. Die von dem Autoverleih ausgehenden Störungen für die übrige Bebauung werden zum einen durch die Lage in der äußersten nord-östlichen Ecke des umschriebenen Gebietes direkt an einer vierspurigen Ausfallstraße und einer Bahnlinie und auch dadurch relativiert, dass sich zwischen dem Vorhabengrundstück und dem sich anschließenden Grundstück der Antragsteller noch die Tankstelle befindet, deren Immissionen die des Autoverleihs überlagern. Der Autoverleih ist zudem zur Wohnbebauung durch eine ca. 28 m lange und 4 m hohe Lärmschutzwand abgetrennt und entfaltet damit wegen seiner Lage und der beschriebenen Situation keine prägende Wirkung für die übrige Bebauung.
- 14
Schließlich kommt aufgrund der Singularität des Autoverleihs gegenüber der übrigen Wohnbebauung und dessen Randlage sowie der (ausnahmsweisen) Zulässigkeit der Tankstelle die Annahme eines faktischen Gewerbegebietes nicht in Betracht.
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Der vom Verwaltungsgericht angenommene Gebietsversorgungscharakter des Vorhabens der Beigeladenen wird mit der Beschwerde substantiiert angezweifelt und aufgrund der Feststellungen im Ortstermin und dem weiteren Vortrag der Beteiligten im Beschwerdeverfahren kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Vorhaben überwiegend der übergebietlichen Versorgung dient und der mangelnde Gebietsversorgungscharakter der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens entgegensteht.
- 16
Mit einer Verkaufsfläche von knapp unter 800 qm handelt es sich bei dem von der Beigeladenen geplanten Lebensmittel-Discounter um einen Laden i.S.v. § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO, der im allgemeinen Wohngebiet zulässig ist, soweit er der Versorgung des Gebietes dient (vgl. zur Größe in Abgrenzung zum großflächigen Einzelheiten: Stock, a.a.O., § 4 BauNVO Rn. 52 m.w.N.).
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Die Beschränkung auf den Gebietsbezug in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO soll den gebietstypischen Schutz der Wohnruhe gewährleisten und dient insbesondere der Vermeidung einer durch den An- und Abfahrtverkehr erzeugten, sich nicht mit einem allgemeinen Wohngebiet vertragenden Unruhe, die durch die Einbeziehung eines überörtlichen Kundenkreises von außen in das Gebiet getragen wird. Die Grenze des Gebiets, um dessen Versorgung es geht, bestimmt sich dabei nach den jeweiligen konkreten städtebaulichen Verhältnissen und ist unabhängig von etwa festgesetzten Baugebietsgrenzen oder der näheren Umgebung i.S.v. § 34 Abs. 1 BauGB. Maßgeblich ist, dass es sich um einen einheitlich strukturierten und zusammenhängenden Bereich handelt, wobei neben Gebieten anderer Nutzungsart auch solche Gebiete außer Betracht zu bleiben haben, die von dem Einzelhandelsbetrieb so weit entfernt sind, dass der vom Verordnungsgeber vorausgesetzte Funktionszusammenhang nicht mehr als gewahrt angesehen werden kann (vgl. BVerwG, B. v. 03.09.1998 - 4 B 85.98 -, BRS 60 Nr. 67; OVG Münster, B. v. 19.08.2003 – 7 B 1040/03 -, BRS 66 Nr. 72, juris Rn. 38; OVG Lüneburg, B. v. 19.07.2004 - 1 ME 116/04 -, NVwZ-RR 2005, 231, juris Rn. 13; OVG Bautzen, B. v. 30.08.2004 - 1 BS 297/04 -, BRS 67 Nr. 67, juris Rn. 8).
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Ob ein Laden oder Verkaufsbetrieb im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO der Versorgung des Gebiets dient, ist anhand objektiver Kriterien unter Berücksichtigung des Betriebskonzepts typisierend zu ermitteln, wobei neben der Größe und sonstigen Beschaffenheit des Betriebs auch die sich daraus ergebenden Erfordernisse einer wirtschaftlich tragfähigen Ausnutzung, die örtlichen Gegebenheiten, insbesondere die demografischen und sozialen Verhältnisse im Gebiet, und die typischen Verhaltensweisen in der Bevölkerung einbezogen werden können. Danach ist zu beurteilen, ob die Anlage zumindest in einem erheblichen, ins Gewicht fallenden Umfang auch von den Bewohnern des Gebiets aufgesucht wird (vgl. BVerwG, U. v. 29.10.1998 - 4 C 9.97 -, BRS 60 Nr. 68). Der funktionale Zusammenhang zum Gebiet ist gegeben, wenn der Verkaufsbetrieb objektiv geeignet ist, seinen Umsatz zu einem ins Gewicht fallenden, mehr als nur unerheblichen Umfang aus dem Gebiet zu beziehen, wobei jedenfalls ein Umsatzanteil von 60 % ausreichen dürfte (vgl. Stock, a.a.O., Rn. 40 f m.w.N.). Die jeweilige Versorgungsstruktur wird durch die Eigenart des konkret betroffenen Gebiets maßgeblich mitgeprägt. Wohngebiete können, je nachdem, welche der jeweils zulässigen Nutzungen tatsächlich ausgeübt werden und in welcher Weise von den in §§ 16 ff. BauNVO eröffneten Möglichkeiten Gebrauch gemacht worden ist, einen ganz unterschiedlichen Charakter aufweisen. Ein Gebiet, in dem sozialer Wohnungsbau in verdichteter Form vorherrscht, hebt sich deutlich von einer aufgelockerten Villenbebauung ab. Dementsprechend unterschiedlich können die Bedürfnisse der Bewohner sein, deren Befriedigung zu dienen ein Vorhaben im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO geeignet sein muss. Ein Vorhaben mag in einem bestimmten Wohnumfeld unbedenklich sein, kann an einem anderen Standort aber unzulässig sein, weil es dort der gebietstypischen Bedarfssituation nicht hinreichend Rechnung trägt (Senatsurteil vom 16.01.2013 – 3 L 25/08 – zu einer Schank- und Speisewirtschaft).
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Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe bestehen nach den Angaben der Beteiligten und den Feststellungen im Ortstermin im Eilverfahren zwar keine durchgreifenden Zweifel an dem von der Beigeladenen dargelegten Betriebskonzept und des dem zugrunde gelegten Versorgungsbereichs. Das Warensortiment des Vorhabens - in erster Linie Lebensmittel - erscheint grundsätzlich geeignet, der Gebietsversorgung zu dienen. Aufgrund der Möglichkeiten zur Querung der T. Straße sowohl für Fußgänger als auch für Fahrzeuge im Bereich des Vorhabens können die Wohnbebauung nördlich der T. Straße bis zur Höhe R. und dann Teile der (überwiegenden) Wohnbebauung im südlich des Vorhabens anschließenden Bereich K. als Versorgungsbereich gesehen werden. Dessen Struktur und Einwohnerzahl (knapp 4.000 im engeren Bereich) dürften auch die in Literatur und Rechtsprechung angeführten Kriterien für eine wirtschaftliche Tragfähigkeit des Vorhabens erfüllen, wonach Lebensmittel-Discounter bei einem heute üblichen Zuschnitt von 700 bis 1.000 qm Verkaufsfläche einen Einzugsbereich von 4.000 bis 9.000 Einwohner benötigten (vgl. OVG Berlin, B. v. 21.12.2011 – OVG 10 S 29.10 -, BauR 2012, 683 unter Hinweis auf Kuschnerus, Der standortgerechte Einzelhandel, 2007, Rn. 61, 66, 103, 191).
- 20
Angesichts der Größe des Marktes, die die Grenze zur Großflächigkeit i.S.d. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO nur sehr knapp unterschreitet, bedarf die Frage des Gebietsversorgungscharakters allerdings einer besonders eingehenden Prüfung (vgl. Stock, a.a.O., Rn. 53).
- 21
Auch wenn die Lage eines Vorhabens in der von der Beigeladenen geplanten Art an einer Ausfallstraße wie auch die die Werte einer Stellplatzsatzung überschreitende Zahl von genehmigten Stellplätzen für sich genommen nicht zwangsläufig gegen den Gebietsversorgungscharakter sprechen, so deuten diese Umstände zumindest auf eine Ausrichtung auf einen überörtlichen Kundenkreis hin (vgl. OVG Münster, B. v. 19.08.2003, a.a.O., Rn. 42; OVG Magdeburg, U. v. 14.11.2006 - 2 L 504/02 -, juris Rn. 31). Kunden, die unter Berücksichtigung der topographischen Verhältnisse und der sonstigen örtlichen Gegebenheiten auf die Benutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen sind, gehören nämlich grundsätzlich nicht mehr zur Zielgruppe, deren Versorgung § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO vornehmlich ermöglichen will (vgl. BVerwG, B. v. 03.09.1998 – 4 B 85.98 -, BRS 60 Nr. 67 für Schank- und Speisewirtschaften). Zwar mag es für die Frage des Gebietsversorgungscharakters eines Vorhabens für sich genommen unschädlich sein, wenn die im Gebiet Ansässigen mit Kraftfahrzeugen anfahren, weil die heutigen Einkaufsgewohnheiten der Bevölkerung sich dadurch kennzeichnen, dass Einkäufe regelmäßig nicht mehr täglich, sondern ein- oder zweimal wöchentlich getätigt werden und wegen der dann größeren Warenmengen auch bei geringeren Entfernungen Kraftfahrzeuge genutzt werden (vgl. OVG Bautzen, B. v. 30.08.2004, a.a.O.; OVG Berlin, B. v. 21.12.2011, a.a.O.). Auch kann ein Selbstbedienungsmarkt am Rande eines allgemeinen Wohngebiets jedenfalls dann zugelassen werden, wenn der Bereich durch eine stark befahrene Straße mitgeprägt und lärmvorbelastet ist (OVG Lüneburg, B. v. 08.01.1986 – 6 B 164/85 -, BauR 1986, 187), so dass ein Gebietsbezug nicht schon wegen einer (auch) für Kunden außerhalb des Gebiets günstigen Verkehrslage verneint werden kann (a.A. OVG Münster, B. v. 28.11.2000 – 10 B 1428/00 -, BauR 2001, 906; Rn. 28 in juris; kritisch: Jäde in Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB, BauNVO, § 4 Rn. 6).
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Neben der Lage des Vorhabens an der T. Straße als einer vielbefahrenen Ausfallstraße weist das Vorhaben aber zudem mit 72 genehmigten Stellplätzen eine dreifach höhere Stellplatzzahl aus als nach der Stellplatzsatzung der Antragsgegnerin vorgesehen. Eine derart hohe Stellplatzzahl kann ein gewichtiges Indiz gegen den Gebietsversorgungscharakter des Vorhabens sein (OVG Lüneburg, B. v. 19.07.2004, a.a.O. bei 62 Stellplätzen für 692 qm Verkaufsfläche; VG Gelsenkirchen, B. v. 22.05.2012 – 5 L 263/12 -, zit. n. juris bei 70 Stellplätzen für 799 qm Verkaufsfläche). Betrachtet man diese – für einen in einem allgemeinen Wohngebiet zulässigen Laden – vergleichsweise hohe Stellplatzzahl vor dem eingangs geschilderten Zweck der Beschränkung auf den Gebietsbezug in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO (Gewährleistung des gebietstypischen Schutzes der Wohnruhe, Vermeidung einer durch den An- und Abfahrtsverkehr erzeugten Unruhe), so erscheint jedenfalls ein Vorhaben, welches erst durch massiven aktiven Lärmschutz die zulässigen Lärmimmissionsrichtwerte (gerade noch) einhält, als nicht mehr der Gebietsversorgung dienend.
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Können die Antragsteller danach einen Gebietserhaltungsanspruch geltend machen, kommt es entscheidungserheblich nicht mehr darauf an, ob das Vorhaben auch das Rücksichtnahmegebot verletzt und sich die Baugenehmigung wegen Unbestimmtheit als rechtswidrig erweist.
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Die mit der Beschwerde aufgeworfene Frage der eindeutigen Bestimmung der Anlieferungszeiten dürfte sich weniger als Frage der Bestimmtheit der Baugenehmigung stellen. Im Bauantrag, der Grundlage der Genehmigung ist, ist die Betriebszeit eindeutig von 07.00 - 21.00 Uhr und die Immissionszeit von 06.00 – 22.00 Uhr jeweils werktags angegeben. Ein Widerspruch besteht insoweit zu der schalltechnischen Untersuchung des TÜV-Nord vom 10.04.2012 und deren 1. Ergänzung vom 10.05.2012, die als Bestandteil der Bauvorlagen und damit des Bescheides angesehen wird und in der als organisatorische Maßnahme die Möglichkeit der Belieferung des Backshop bereits vor 6.00 Uhr angegeben wird. Hier weicht das Betriebskonzept des Bauantrages offensichtlich von der begutachteten Situation ab. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich eine Überschreitung der Immissionszeiten auf die Frage der Beachtung des Rücksichtnahmegebotes auswirken kann.
- 25
Die in diesem Zusammenhang mit der Beschwerde erhobenen Zweifel an der schalltechnischen Untersuchung wegen der eingestellten Bewegungshäufigkeit pro Stellplatz und Stunde erscheinen insoweit unbegründet, als sie mit dem eingestellten Faktor von 1,37 Bewegungen pro 10 qm Verkaufsfläche dem durchschnittlichen Wert nach der sog. Bayerischen Parkplatzlärmstudie entsprechen. Soweit mit der Beschwerde zum anderen die der Untersuchung zugrunde gelegten Kundenzahlen angezweifelt werden, vermag der Verweis auf die erstinstanzlich zitierte obergerichtliche Rechtsprechung, unbeschadet dessen, ob sie sich auf Läden mit Gebietsversorgungscharakter bezieht, die vom Verwaltungsgericht angeführte mangelnde Substantiierung der von den Antragstellern behaupteten Zahlen nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen. So ist in dem vom OVG Lüneburg entschiedenen Fall (B. v. 19.07.2004, a.a.O.) von 750 Kunden/Tag und 1.500 Fahrzeugbewegungen bei einer Verkaufsfläche von 692 qm ausgegangen worden, die sich in etwa mit den hier zugrunde gelegten 1.900 Fahrzeugbewegungen für 900 Kunden bei einer Verkaufsfläche von 799 qm decken. Das OVG Münster (B. v. 28.11.2000 – 10 B 1428/00 -, a.a.O. und B. v. 19.08.2003 – 7 B 1040/03 -, BauR 2004, 788) geht bei Aldi-Märkten an verkaufsstärksten Tagen von einem Durchlauf von 2.000 Pkw-Kunden aus. Diese Zahl kann einer gebotenen Durchschnittsbetrachtung jedoch nicht zugrunde gelegt werden. Das OVG Koblenz (U. v. 02.03.2001 – 1 A 12338/99 -, BauR 2001, 1062, Rn. 28 in juris) sieht unter Zugrundelegung einer vom ihm eingeholten gutachterlichen Stellungnahme keine unzumutbaren Lärmeinwirkungen und damit keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots bei einem Vorhaben mit 802 qm Verkaufsfläche und 70 Außen- sowie 18 Tiefgaragenstellplätzen. Es verhält sich auch nicht so, dass der TÜV-Nord seiner Begutachtung lediglich die von der Beigeladenen angegebenen Kundenzahlen zugrunde gelegt hat. Im Schreiben vom 18.09.2012 an die Beigeladene (Anl. BG 1 zum SS. v. 25.09.2012) wird aufgrund eigener Untersuchungen (des TÜV-Nord) davon ausgegangen, dass die tatsächliche Zahl der Pkw-Kunden eher geringer sei und ein Ansatz mit 900 Pkw innerhalb der Öffnungszeiten für den geplanten Markt mit seiner örtlichen Lage auf der sicheren Seite liege. Schließlich kommt die 2. Ergänzung zur schalltechnischen Untersuchung des TÜV-Nord vom 02.10.2012 (Anl. BG 2 zum SS. v. 04.10.2012) unter Zugrundelegung eines Bewegungsfaktors von 1,9 bei 952 Kunden zu dem Ergebnis, dass am maßgeblichen Immissionsort IO 2 am Grundstück der Antragsteller eine Gesamtbelastung von 53 dB(A) tags und 37 dB(A) nachts besteht. Jedenfalls nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung kann die Grundlage der schalltechnischen Untersuchung danach nicht als ernsthaft in Zweifel gezogen angesehen werden.
- 26
4. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 159 S. 1 und 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1 und 3, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
- 27
Hinweis:
- 28
Der Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO und § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar
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