Beschluss vom Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (8. Senat) - 8 ME 2/13

Gründe

I.

1

Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung des Antragsgegners, sich zu einer Verteilungsstelle für unerlaubt eingereiste Ausländer zu begeben.

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Die Antragstellerin ist kosovarische Staatsangehörige. Mit Schreiben vom 12. November 2012 zeigte sie dem Antragsgegner an, vor einiger Zeit in das Bundesgebiet eingereist zu sein. Sie sei weder im Besitz eines Passes noch eines Visums. Sie sei schwanger und werde voraussichtlich am 6. Januar 2013 entbinden. Vater des Kindes sei Herr C. D. aus E.. Dieser verfüge über eine Niederlassungserlaubnis. Sie - die Antragstellerin - lebe mit Herrn D. in einer häuslichen Gemeinschaft. Beide beabsichtigten zu heiraten, sobald die erforderlichen Dokumente beschafft seien. Die Antragstellerin beantragte ihre Verteilung an den Wohnort des Herrn D. und die Erteilung einer Duldung.

3

Der Antragsgegner forderte die Antragstellerin mit Bescheid vom 14. November 2012 auf, sich unverzüglich, spätestens bis zum 25. November 2012, zur Landesaufnahmebehörde Niedersachsen in Braunschweig zu begeben, damit diese vor der Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Verteilung vornehmen könne. Gründe, die der Verteilung an einen bestimmten Ort entgegenstehen, seien nicht ersichtlich.

4

Gegen diesen Bescheid hat die Antragstellerin am 21. November 2012 Klage vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück erhoben - 5 A 303/12 - und vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Sie hat geltend gemacht, es lägen zwingende Gründe vor, die ihrer Verteilung entgegenstünden. Sie sei hochschwanger und daher in besonderer Weise auf Fürsorge und Unterstützung angewiesen. Diese werde vom Kindesvater, der ihr Unterkunft, Unterhalt und Beistand gewähre, erbracht. Zudem sei sie reiseunfähig.

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Die Antragstellerin hat beantragt,

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die aufschiebende Wirkung ihrer Klage anzuordnen, hilfsweise den Antragsgegner zu verpflichten, ihr eine Duldung zu erteilen.

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Der Antragsgegner hat beantragt,

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den Antrag abzulehnen,

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und darauf hingewiesen, dass Herr D. zwar die Vaterschaft anerkannt habe, zur Wirksamkeit aber noch die Zustimmung der Antragstellerin erforderlich sei, die bisher fehle. Ungeachtet dessen sei es der Antragstellerin zumutbar und möglich, sich zu der Landesaufnahmebehörde zu begeben, um dort die Verteilung zu beantragen. Etwa vorliegende zwingende Gründe für eine Verteilung an den Wohnort des Kindesvaters könnten von der Landesaufnahmebehörde berücksichtigt werden.

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Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 18. Dezember 2012 abgelehnt. Zwingende Gründe, die der Verteilung der Antragstellerin an einen bestimmten Ort entgegenstehen, lägen nicht vor. Der Kindesvater habe zwar am 21. November 2012 die Vaterschaft für das ungeborene Kind anerkannt, es sei aber in keiner Weise glaubhaft gemacht worden, dass zwischen der Antragstellerin und dem Kindesvater überhaupt in Zukunft mit dem gemeinsamen Kind eine familiäre Lebensgemeinschaft gelebt werde. Dies gelte umso mehr, als die Antragstellerin selbst bislang der Vaterschaftsanerkennung nicht zugestimmt habe. Auch eine Reiseunfähigkeit sei nicht glaubhaft gemacht worden. Es bleibe der Antragstellerin unbenommen, bei der zuständigen Landesaufnahmebehörde ihre familiären Belange geltend zu machen, um eine Verteilung in den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners zu erreichen. Auch der Hilfsantrag bleibe ohne Erfolg. Bevor die Antragstellerin nicht von der zuständigen Landesaufnahmebehörde verteilt worden sei, dürfe der Antragsgegner eine Aussetzung der Abschiebung nicht verfügen.

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Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin am 27. Dezember 2012 Beschwerde eingelegt, mit der sie ihre erstinstanzlich gestellten Anträge weiterverfolgt. Sie macht geltend, das Verwaltungsgericht habe das Vorliegen zwingender Gründe für eine Verteilung an den Wohnort des Kindesvaters zu Unrecht verneint. Sie habe glaubhaft gemacht, derzeit mit dem Kindesvater eine häusliche und familiäre Gemeinschaft zu führen. Es sei nicht nachzuvollziehen, warum hieraus nicht auch auf eine künftige gemeinsame Lebensführung geschlossen werden könne. Der Vaterschaftsanerkennung habe sie lediglich in der gebotenen Form bisher nicht zustimmen können, weil sie weder über einen Pass noch ein Passersatzpapier verfüge, um sich gegenüber den deutschen Behörden ausweisen zu können. Wenn der Antragsgegner wegen der offensichtlichen familiären Belange selbst von einer Weiterleitung der Antragstellerin an den Wohnort des Kindesvaters ausgehe, erweise sich die Anordnung, zunächst die Verteilungsstelle aufzusuchen, als bloße Förmelei, deren Notwendigkeit vom grundgesetzlichen Schutz der Familie überwogen werde.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners (Beiakte A) Bezug genommen.

II.

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Die Beschwerde der Antragstellerin hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der von der Antragstellerin vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück - 5 A 303/12 - erhobenen Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 14. November 2012 anzuordnen.

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Hat ein Rechtsbehelf kraft Gesetzes - wie hier nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 15a Abs. 2 Satz 4 AufenthG - keine aufschiebende Wirkung, so kann das Verwaltungsgericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Ein solcher Antrag hat Erfolg, wenn die vorzunehmende Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes vorerst verschont zu bleiben, einerseits und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung andererseits zugunsten des Antragstellers ausfällt. Ein solches überwiegendes Interesse kann dann angenommen werden, wenn der Rechtsbehelf des Antragstellers offensichtlich oder doch zumindest mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird oder wenn sonstige Umstände gegeben sind, die es rechtfertigen, ausnahmsweise - in Abweichung von der gesetzlich getroffenen Wertung - dem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung zukommen zu lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.10.2003 - 1 BvR 2025/03 -, juris Rn. 21 f.; BVerwG, Beschl. v. 14.4.2005 - 4 VR 1005/04 -, juris Rn. 10 f.).

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Unter Zugrundelegung dieses Entscheidungsmaßstabes überwiegt bei der im gerichtlichen Aussetzungsverfahren vorzunehmenden Interessenabwägung das Interesse der Antragstellerin, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes vorerst verschont zu bleiben. Denn die in der Hauptsache erhobene Klage hat mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg. Der Bescheid des Antragsgegners vom 14. November 2012, mit dem die Antragstellerin aufgefordert worden ist, sich unverzüglich, spätestens bis zum 25. November 2012, zur Landesaufnahmebehörde Niedersachsen in Braunschweig zu begeben, ist voraussichtlich rechtswidrig.

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Nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann die Ausländerbehörde einen unerlaubt eingereisten Ausländer, der weder um Asyl nachsucht noch unmittelbar nach der Feststellung der unerlaubten Einreise in Abschiebungshaft genommen und aus der Haft abgeschoben oder zurückgeschoben werden kann, verpflichten, sich zu der Behörde zu begeben, die die Verteilung nach § 15a Abs. 1 AufenthG veranlasst. Diese die Verteilung veranlassende Behörde ist in Niedersachsen die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI) mit Hauptsitz in Braunschweig und Standorten in Bramsche, Braunschweig, Friedland und Oldenburg sowie Außenstellen in Langenhagen und Lüneburg (vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport, Zentrale Aufnahme- und Ausländerbehörden (ZAAB) des Landes Niedersachsen, Erlass v. 14.12.2004, Nds. MBl. 2005 S. 7, dort Nr. 2.1; Niedersächsische Landesregierung, Auflösung der Zentralen Aufnahme- und Ausländerbehörden (ZAAB) Braunschweig und Oldenburg und Neubildung einer Zentralen Aufnahme- und Ausländerbehörde Niedersachsen (ZAAB NI), Beschluss v. 21.10.2008, Nds. MBl. S. 1242; dort Nrn. 2 und 3; Niedersächsische Landesregierung, Verwaltungsmodernisierung 2010 - Organisations- und Standortentscheidungen im Geschäftsbereich des MI, Beschluss v. 9.11.2010, Nds. MBl. S. 1130, dort Nrn. 1, 2 und 4).

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Hier ist die Antragstellerin zwar ohne den nach §§ 14 Abs. 1 Nr. 1, 3 AufenthG erforderlichen Pass und auch ohne das nach §§ 14 Abs. 1 Nr. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 6 Abs. 3 AufenthG erforderliche Visum und damit unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist. Sie hat auch weder um Asyl nachgesucht noch ist sie unmittelbar nach der Feststellung der unerlaubten Einreise in Abschiebungshaft genommen worden. Obschon damit die in § 15a Abs. 2 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG genannten Voraussetzungen vorliegen, ist hier voraussichtlich gleichwohl eine Verpflichtung der Antragstellerin nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, sich zu der die Verteilung nach § 15a Abs. 1 AufenthG veranlassenden Behörde zu begeben, ausgeschlossen.

18

Denn nach § 15a Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist der Ausländerbehörde eine solche Verpflichtung des unerlaubt eingereisten Ausländers versagt, wenn einem Vorbringen nach § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG Rechnung zu tragen ist (vgl. Hessischer VGH, Beschl. v. 30.3.2006 - 3 TG 556/06 -, juris Rn. 4; GK-AufenthG, Stand: November 2006, § 15a Rn. 12). In diesem Sinne Rechnung zu tragen ist nach § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG einer Haushaltsgemeinschaft zwischen Ehegatten oder Eltern und ihren minderjährigen Kindern oder sonstigen zwingenden Gründe, die der Verteilung an einen bestimmten Ort entgegenstehen, wenn der Ausländer sie vor Veranlassung der Verteilung nachweist.

19

Derartige Umstände liegen hier voraussichtlich vor. Es bestehen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine Haushaltsgemeinschaft zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern besteht, die der Verteilung der Antragstellerin an andere Orte als den der bestehenden Haushaltsgemeinschaft entgegenstehen. Die Antragstellerin lebt mit Herrn C. D., der nach ihrer unwidersprochenen Darstellung über eine Niederlassungserlaubnis verfügt, in einem gemeinsamen Haushalt in E., F., zusammen. In dieser Haushaltsgemeinschaft lebt darüber hinaus das zwischenzeitlich am 6. Januar 2013 geborene Kind der Antragstellerin. Diese hat zudem hinreichend glaubhaft gemacht, dass Vater dieses Kindes Herr C. D. ist. Der Antragsgegner selbst hat unter dem 21. November 2012 die Anerkennung der Vaterschaft durch Herrn D. zur Urkunden-Register-Nr. G. öffentlich beurkundet. Zutreffend weisen zwar das Verwaltungsgericht und der Antragsgegner darauf hin, dass die Anerkennung der Vaterschaft erst mit der formwirksamen Zustimmung der Kindesmutter wirksam wird (§§ 1595 Abs. 1, 1598 Abs. 1 BGB) und eine solche den Formerfordernissen des § 1597 Abs. 1 BGB genügende Zustimmung von der Antragstellerin bisher nicht erteilt worden ist. Die Antragstellerin hat aber ihre formwirksame Zustimmung avisiert und für den Senat glaubhaft einen Grund für die derzeit nicht mögliche formwirksame Erteilung der Zustimmung genannt. Sie verfügt weder über einen Pass noch ein Passersatzpapier, mittels dessen sich die Urkundsperson die nach § 10 Abs. 2 Satz 1 BeurkG erforderliche Gewissheit über die Person der Antragstellerin verschaffen kann. Bei einer derartigen Sachlage vermag der Senat derzeit keine Anhaltspunkte zu erkennen, die durchgreifende Zweifel am tatsächlichen Bestehen der Vaterschaft des Herrn D. und damit verbunden der Haushaltsgemeinschaft zwischen Eltern und ihrem minderjährigen Kind begründen könnten. Da Herr D. aufgrund der ihm erteilten Niederlassungserlaubnis in der Wahl seines Wohnortes im Bundesgebiet frei ist, kann mithin eine Verteilung der Antragstellerin und des gemeinsamen minderjährigen Kindes regelmäßig nur an den von ihm gewählten Wohnort erfolgen. Diese Umstände hat die Antragstellerin auch vor Veranlassung der Verteilung im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG geltend gemacht, so dass ihnen bei der Verteilung Rechnung zu tragen ist und sie gleichsam die Anordnung einer Verpflichtung nach § 15a Abs. 2 Satz 2 AufenthG ausschließen.

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Daher kann der Senat dahinstehen lassen, ob hier darüber hinaus noch sonstigen zwingenden Gründen im Sinne des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG bei einer Verteilungsentscheidung Rechnung zu tragen wäre, was angesichts der Situation der Antragstellerin kurz vor bzw. nach der Entbindung und der offensichtlichen Beistands- und Unterstützungsleistungen durch Herrn D. indes nicht ohne Weiteres verneint werden könnte.

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Eine Entscheidung über den Hilfsantrag, den Antragsgegner zur Erteilung einer Duldung zu verpflichten, ist im Beschwerdeverfahren nicht zu treffen. Der Hilfsantrag ist erkennbar nur für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag gestellt worden, das hier nicht (mehr) gegeben ist.

 


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