Urteil vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 11 A 1665/17
Tenor
Das Berufungsverfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat.
Das angefochtene Urteil wird teilweise geändert.
Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids des Bundesverwaltungsamts vom 21. Mai 2015 und des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2015 verpflichtet, der Klägerin eine Bescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BVFG auszustellen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen, soweit das Verfahren noch anhängig ist. Die übrigen Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Die Klägerin wurde am 12. November 1961 in der ehemaligen Sowjetunion geboren. Die Mutter der Klägerin hatte im Februar 1995 einen Aufnahmebescheid erhalten, in dem die Schwester der Klägerin und deren Sohn einbezogen worden waren, und war im Januar 1996 ins Bundesgebiet eingereist.
3Die Mutter der Klägerin beantragte am 10. Mai 2011 und 22. Februar 2012 die nachträgliche Einbeziehung der Klägerin und von deren Ehemann Q. Q1. sowie des Sohns B. Q1. in ihren Aufnahmebescheid im Wege des Härtefalls. Zur Begründung führte sie aus: Sie leide an Depressionen mit entsprechenden psychischen und physischen Symptomen und benötige die Hilfe und Unterstützung der Klägerin. Die Mutter legte hierüber ärztliche Atteste und u. a. 2;ber die Deutschkenntnisse der Klägerin ein Goethe-Zertifikat A1 vom 8. Dezember 2010 vor. Mit Bescheiden vom 1. Oktober 2013 wurden die Klägerin und ihr Sohn in den Aufnahmebescheid ihrer Mutter bzw. Großmutter einbezogen und der Ehemann der Klägerin als weiterer Familienangehöriger i. S. d. § 8 Abs. 2 BVFG eingetragen. Die Klägerin reiste am 9. August 2014 mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn ins Bundesgebiet ein. Sie erhielt am 15. August 2014 einen deutschen Personalausweis und eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG vom 15. Oktober 2014.
4Die Klägerin hatte noch in der Russischen Föderation unter dem 2. November 2013, beim Bundesverwaltungsamt eingegangen am 1. April 2014, die Erteilung eines Aufnahmebescheids als Spätaussiedlerin beantragt. Laut Antragsangaben war sie in ihrem ersten Inlandspass mit russischer Nationalität eingetragen. Im Rahmen des Aufnahmeverfahrens legte sie nach ihrer Einreise ein ärztliches Attest vom 5. August 2014 vor, wonach ihre Mutter an einer chronischen idiopathischen Lungenfibrose leide. Ferner reichte sie im weiteren Verlauf des Aufnahmeverfahrens Goethe-Zertifikate B1 über die Module Sprechen, Lesen und Schreiben, ausgestellt am 22. Juli 2014 in St. Petersburg, sowie ein Goethe-Zertifikat B1 über das Modul Hören ein, ausgestellt in Moskau am 19. Januar 2015 aufgrund der Prüfung am 23. Dezember 2014.
5Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin durch Bescheid vom 21. Mai 2015 ab und führte zur Begründung aus: Da die Klägerin ihren Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet aufgegeben habe, komme nur die Erteilung eines Härtefallaufnahmebescheids gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG in Betracht. Die Klägerin habe aber das Vorliegen einer besonderen Härte nicht glaubhaft gemacht. Der Anerkennung als Spätaussiedlerin stehe das fehlende Bekenntnis zur deutschen Nationalität entgegen. Die Klägerin sei in ihrem ersten Inlandspass und in den Geburtsurkunden ihrer 1983 und 1987 geborenen Söhne mit russischer Nationalität eingetragen und habe vor ihrer Ausreise eine Änderung der Nationalitätsangaben, die möglich und zumutbar gewesen sei, nicht veranlasst.
6Der dagegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2015 zurückgewiesen. Hierin wurde u. a. ergänzend ausgeführt: Der von der Klägerin nach der Übersiedlung gestellte Antrag auf Anerkennung als Spätaussiedlerin und Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG werde abgelehnt. Die durch das B1-Zertifikat belegten guten deutschen Sprachkenntnisse der Klägerin seien nicht geeignet, das notwendige Bekenntnis glaubhaft zu machen.
7Die Klägerin hat am 11. November 2015 Klage erhoben und vorgetragen: Ein Härtefall habe aufgrund der Suizidalität bei ihrer Mutter bestanden. Sie habe ein Bekenntnis auf andere Weise durch Nachweis ihrer Deutschkenntnisse mit dem B1-Zertifikat vorgelegt. Ihre Bemühungen im Jahr 1987 anlässlich der Geburt ihres Sohns B. , ihre Nationalität in der Geburtsurkunde des Sohns eintragen zu lassen, seien fehlgeschlagen. Sie habe bei der ersten Prüfung des Sprachtests zu B1 das Modul Hören nicht bestanden. Sie habe dies in St. Petersburg nachgeholt. Das entsprechende Zertifikat sei in Moskau nach Überprüfung ausgestellt worden.
8Im Klageverfahren hat die Klägerin zudem eine Bescheinigung des Standesamts des Bezirks L. vom 26. Mai 2016 vorgelegt, ausweislich derer eine Änderung ihrer Nationalität im Heiratsregister abgelehnt worden sei.
9Die Klägerin hat beantragt,
10die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 21. Mai 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2015 zu verpflichten, ihr einen Härtefallaufnahmebescheid gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG zu erteilen sowie eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG auszustellen.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Sie hat ergänzend vorgetragen: Der Klägerin sei es möglich und zumutbar gewesen, vor ihrer Einreise eine Änderung der Nationalitäteneinträge in den Geburtsurkunden ihrer Kinder zu erreichen. Denn in den russischen Geburtsurkunden sei ein wenn auch freiwilliger Nationalitäteneintrag vorgesehen. Es sei ihr auch möglich gewesen, eine Änderung ihres Nationalitäteneintrags im Heiratsregister von Russisch auf Deutsch zu veranlassen. In der neu auszustellenden Heiratsurkunde hätte sie dann die deutsche Nationalität eintragen lassen können. Die Klägerin habe sich nicht durch Vorlage des Goethe-Zertifikats B1 zum deutschen Volkstum bekannt, da der Prüfungsteil Hören, der wesentlicher Bestandteil der Sprachprüfung B1 sei, erst am 23. Dezember 2014 und damit nach Übersiedlung der Klägerin am 9. August 2015 ins Bundesgebiet abgelegt worden sei. Voraussetzung für ein Bekenntnis nach § 6 BVFG sei aber, dass es noch vor Aussiedlung ins Bundesgebiet abgegeben worden sei.
14Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 21. Juni 2017 im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen: Es könne offenbleiben, ob die Klage, soweit sie sich auf die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Wege des Härtefalls richte, zulässig sei, denn die Klägerin erfülle die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufnahmebescheids nicht. Sie sei keine Spätaussiedlerin. Sie habe sich nicht bis zum Verlassen des Aussiedlungsgebiets zum deutschen Volkstum bekannt. Im ersten Inlandspass sei sie mit russischer Nationalität eingetragen gewesen. Dadurch liege ein die deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis vor. Die Klägerin habe auch nicht die ihr ab Mitte 1992 zustehende Möglichkeit genutzt, ihren Passeintrag ändern zu lassen. Ihre Bemühungen, eine Änderung im Heiratsregister herbeizuführen, seien erstmals nach Einreise ins Bundesgebiet erfolgt und deshalb irrelevant. Sie habe ein Bekenntnis auch nicht auf andere Weise abgelegt. Denn sie habe den Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1 nicht bis zum Verlassen des Aussiedlungsgebiets erbracht, da sie bis zu diesem Zeitpunkt nur einen Teil der Sprachprüfung für das Zertifikat B1, nämlich die Module Sprechen, Lesen und Schreiben, bestanden habe. Erst Monate nach ihrer Übersiedlung ins Bundesgebiet und Wohnsitznahme in C. habe sie das weitere Modul des Sprachtests bestanden. Die weitere Klage, gerichtet auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung, sei wegen fehlenden Vorverfahrens bereits unzulässig; im Übrigen sei die Klägerin - wie aufgeführt - keine Spätaussiedlerin.
15Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung trägt die Klägerin u. a. vor: Seit ihrer Kindheit bestehe eine Hörbehinderung. Aus der Tatsache, dass sie die Module Sprechen, Lesen und Schreiben des Goethe-Zertifikats bestanden habe, sei der Rückschluss zu ziehen, dass das Nichtbestehen des Moduls Hören dem Umstand ihrer Erkrankung geschuldet gewesen sei. Zudem sei das Modul Hören bei der Prüfung im Juli 2014 als letztes geprüft worden. An dem Test hätten ca. 50 Personen teilgenommen; die Tonqualität des Übertragungsgeräts sei schlecht gewesen.
16Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat die Klägerin die Berufung zurückgenommen, soweit sie die Erteilung eines Aufnahmebescheids begehrt hatte.
17Die Klägerin beantragt nunmehr,
18das angefochtene Urteil teilweise zu ändern und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids des Bundesverwaltungsamts vom 21. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2015 zu verpflichten, ihr eine Spätaussiedlerbescheinigung auszustellen.
19Die Beklagte beantragt,
20die Berufung zurückzuweisen.
ass="absatzRechts">21Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte - hier insbesondere auf den von der Klägerin überreichten ärztlichen Befundbrief des Dr. med. C1. C2. aus C. vom 13. November 2017 - und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
23A. Das Berufungsverfahren ist einzustellen, soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat (§§ 125 Abs. 1 Satz 1, 126 Abs. 3 Satz 2, 92 Abs. 3 Abs. 1 VwGO).
24B. Die fortgeführte Berufung hat Erfolg.
25I. Die Klage, gerichtet auf die Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung, ist nicht bereits mangels Durchführung eines gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderlichen Vorverfahrens unzulässig. Denn gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, Abs. 2 VwGO bedarf es eines Vorverfahrens nicht, wenn der Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts durch den Widerspruchsbescheid erstmalig abgelehnt worden ist. So liegt es hier. Durch Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2015 hat das Bundesverwaltungsamt ausdrücklich (auch) den von der Klägerin nach Einreise in die Bundesrepublik gestellten „Antrag auf Anerkennung als Spätaussiedlerin gem. § 4 Abs. 1 BVFG (‚Höherstufung‘) und Erteilung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG“ abgelehnt.
26II. Der ablehnende Bescheid vom 21. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2015 ist - soweit diese Bescheide noch streitbefangen sind - rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
27Die Klägerin hat einen Anspruch auf Ausstellung einer Spätaussiederbescheinigung. Sie ist Spätaussiedlerin. Nach § 15 Abs. 1 BVFG in der geltenden Fassung des Gesetzes vom 6. Mai 2019 (BGBl. I 646) stellt das Bundesverwaltungsamt Spätaussiedlern zum Nachweis ihrer Spätaussiedlereigenschaft eine Bescheinigung aus.
28Ob eine Person nach den §§ 4, 6 BVFG Spätaussiedler ist, richtet sich grundsätzlich nach der Rechtslage bei Aufnahme in das Bundesgebiet.
29Vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 25. Oktober 2017 - 1 C 21.16 -, juris, Rn. 31, vom 16. Juli 2015 - 1 C 29.14 -, BVerwGE 152, 283 (295, Rn. 38), und vom 16. Juli 2015 - 1 C 30.14 -, juris, Rn. 34.
30Die Klägerin ist am 9. August 2014 im Wege des Aufnahmeverfahrens ins Bundesgebiet eingereist. Sie war in den ihrer Mutter erteilten Aufnahmebescheid einbezogen worden. Zu dem Zeitpunkt ihrer Einreise in das Bundesgebiet galt das Bundesvertriebenengesetz in der seit dem 14. September 2013 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 6. September 2013 (BGBl. I S. 3554) - BVFG 2013 -. Auf diese Rechtslage ist für die Beurteilung der Spätaussiedlereigenschaft abzustellen,
31vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 25. Oktober 2017 - 1 C 21.16 -, NVwZ-RR 2018, 204 (206 f.) = juris, Rn. 31, vom 16. Juli 2015 - 1 C 29.14 -, BVerwGE 152, 283 (296, Rn. 39), und vom 16. Juli 2015 - 1 C 30.14 -, juris, Rn. 35, wobei die hier maßgeblichen Vorschriften der §§ 4 Abs. 1 und 6 Abs. 2 Sätze 1 bis 3 BVFG 2013 und der §§ 4 Abs. 1 und 6 Abs. 2 Sätze 1 bis 3 BVFG in der aktuellen Fassung wortgleich sind, weshalb im Folgenden die Vorschriften in der aktuellen Fassung wiedergegeben werden.
32Die Klägerin erfüllte die Voraussetzungen für die Spätaussiedlereigenschaft im Zeitpunkt ihrer Ü;bersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland.
33Spätaussiedler aus dem hier in Rede stehenden Aussiedlungsgebiet der ehemaligen Sowjetunion kann nach § 4 Abs. 1 BVFG nur sein, wer deutscher Volkszugehöriger ist, die Republiken der ehemaligen Sowjetunion nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen hat und zuvor zu bestimmten Zeiten seinen Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten hatte. Deutscher Volkszugehöriger ist nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG, wer von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat. Das Bekenntnis kann gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG auf andere Weise insbesondere durch den Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse entsprechend dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen oder durch den Nachweis familiär vermittelter Deutschkenntnisse erbracht werden. Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum muss nach § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG bestätigt werden durch den Nachweis der Fähigkeit, zum Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung über den Aufnahmeantrag zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen zu können.
34Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 BVFG liegen vor.
351. Die Klägerin stammt von einer deutschen Volkszugehörigen ab. Ihre Mutter ist Spätaussiedlerin.
362. Die Klägerin hat ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgelegt.
37a. Ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum durch Nationalitätenerklärung liegt allerdings nicht vor.
38aa. Die Klägerin war in ihrem ersten Inlandspass und in den Geburtsurkunden ihrer 1983 und 1987 geborenen Kinder mit russischer Nationalität eingetragen und hat bis zu ihrer Ausreise auch keine Änderung ihrer Personenstandsurkunden durch entsprechende Nationalitätenerklärung herbeigeführt.
39bb. In der damaligen Angabe der russischen Nationalität gegenüber amtlichen Stellen liegt kein die deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis (mehr). Denn die Klägerin hat sich - wie noch auszuführen sein wird - auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt.
40Um eine frühere Erklärung zu einer nichtdeutschen Nationalität rückgängig zu machen, reicht es nicht aus, wenn eine Lebensführung, die ohne das Gegenbekenntnis die Annahme der deutschen Volkszugehörigkeit aufgrund schlüssigen Gesamtverhaltens gerechtfertigt hätte, lediglich beibehalten wird. Es bedarf vielmehr eines darüber hinausgehenden positiven Verhaltens, aus dem sich eindeutig der Wille ergibt, nur dem deutschen Volk und keinem anderem Volkstum zuzugehören.
41Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. August 1995 ‑ 9 C 391.94 ‑;, BVerwGE 99, 133 (146 f.) = juris, Rn. 29.
42Ein positives Verhalten der Klägerin in diesem Sinne liegt vor. Dabei kann dahinstehen, ob es zutrifft, dass sie, so wie sie es geltend macht, versucht habe, bereits im Jahr 1987 anlässlich der Geburt ihres Sohns B. ihre deutsche Nationalität in die Geburtsurkunde des Sohns eintragen zu lassen. Die Klägerin hat sich nämlich durch das Bekenntnis auf andere Weise i. S. d. § 6 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. BVFG zur deutschen Nationalität bekannt und damit über die bisherige Lebensführung hinaus den eindeutigen Willen zum Ausdruck gebracht hat, dem deutschen Volkstum zuzugehören. Denn eine deutschstämmige Person kann sich nach Auffassung des Gesetzgebers auch durch das Erlernen der deutschen Sprache außerhalb der Familie - so wie die Klägerin u. a. im Goethe-Institut in Sankt Petersburg - mit ihrer Sprache und Kultur auseinandersetzen und zu ihrem Deutschtum bekennen.
43Vgl. hierzu Beschluss und Empfehlung des Innenausschusses zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes, BT-Drks. 17/13937, S. 10.
44b. Die Klägerin hat ein Bekenntnis auf andere Weise i. S. d. § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG abgelegt.
45aa. Sie hat den Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse entsprechend dem Niveau B1 erbracht, obwohl sie im Juli 2014, also vor ihrer Übersiedlung im August 2014, lediglich die Module Sprechen, Lesen und Schreiben des Goethe-Zertifikats B1 erworben und erst im Dezember 2014 das Modul Hören bestanden hat.
46Der Senat geht davon aus, dass mit Blick auf den Wortlaut des § 6 Abs. 2 Satz 1 1. Alternative BVFG, wonach das Bekenntnis durch Nationalitätenerklärung bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete abgegeben sein muss, und den Sinn und Zweck des Bundesvertriebenengesetzes auch das Bekenntnis auf andere Weise i. S. d. § 6 Abs. 2 Satz 2 1. Alternative BVFG grundsätzlich bereits im Aussiedlungsgebiet erbracht werden muss. Dabei ist das Bekenntnis durch den Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse entsprechend dem Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen jedenfalls dann erbracht, wenn ein Goethe-Zertifikat B1 für die vier Module Lesen, Hören, Schreiben und Sprechen vor Verlassen der Aussiedlungsgebiete erworben worden ist. Allerdings hat der Gesetzgeber den „Nachweis“ nicht zwingend an die Vorlage eines bestimmten Zertifikats - wie die des Goethe-Zertifikats B1 - geknüpft, sondern (nur) daran, dass der Aufnahmebewerber den „Nachweis“ erbringen muss, die Anforderungen „entsprechend dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen“ zu erfüllen. Dafür dass der Nachweis auch anders als (nur) durch Zertifikat erbracht werden kann, spricht im Übrigen auch § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG, der für den „Nachweis“, „ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen zu können“, ebenfalls nicht die Vorlage eines bestimmten Zertifikats fordert.
47Ausgehend hiervon dürfte zwar regelmäßig die Annahme gerechtfertigt sein, dass ein Antragsteller, der ein oder mehrere der vier Module des Goethe-Zertifikats B1 nicht bestanden hat, auch insgesamt nicht den Nachweis ausreichender Deutschkenntnisse geführt hat. (Nur) Im Einzelfall kann aber aus dem Verfehlen eines positiven Ergebnisses beim Ablegen einzelner Modul-Prüfungen im Rahmen des Zertifikats B1 dann nicht auf insgesamt nicht ausreichende Deutschkenntnisse geschlossen werden, wenn das Nichtbestehen nicht mangelnden Sprachkenntnissen, sondern gesundheitlichen Gründen geschuldet ist. So liegt der Fall hier.
48Denn die Klägerin hat zur Überzeugung des Senats nachgewiesen, dass sie das Modul Hören nicht wegen mangelhafter Deutschkenntnisse, sondern wegen einer krankhaften Veränderung ihrer Hörfähigkeit nicht bestanden hat. Ausweislich des ärztlichen Befundberichts des Facharztes für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Dr. C1. C3. vom 13. November 2017 ist die Hörfähigkeit der Klägerin seit vielen Jahren beidseitig beeinträchtigt. Insbesondere besteht rechts eine erhebliche Höreinschränkung in Form einer hochgradigen kombinierten Schwerhörigkeit mit deutlicher Einschränkung der Sprachverständlichkeit. Angesichts dieses Befunds sowie des von der Beklagten unwidersprochenen Vortrags der Klägerin, die Tonqualität des Übertragungsgeräts sei bei der Hörprüfung im Juli 2014 schlecht gewesen, leuchtet es unmittelbar ein, dass für das Nichtbestehen des Moduls Hören vor der Ausreise der Klägerin nicht eine mangelnde Sprachkompetenz ausschlaggebend gewesen ist, sondern allein der Umstand, dass sie bei diesem Prüfungsteil Hören nicht entsprechend ihrem spezifischen Bedarf (etwa mit Kopfhörer oder mit einer Wiedergabe in höherer Lautstärke),
49vgl. hierzu Die Prüfung des Goethe-Instituts, Ergänzungen zu den Durchführungsbestimmungen: Prüfungsteilnehmende mit spezifischem Bedarf (Personen mit Körperbehinderung), Stand: 1. September 2015,
50.
51geprüft und die Prüfung darüber hinaus in schlechter Tonqualität durchgeführt worden ist.
52Die Klägerin mag es insoweit versäumt haben, ihren spezifischen Bedarf anzumelden oder wenigstens auf die schlechte Tonqualität des Übertragungsgeräts hinzuweisen. Diese Versäumnisse rechtfertigen indessen nicht die allein entscheidende Annahme, sie habe seinerzeit nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt. Vielmehr macht der Umstand, dass sie diesen Prüfungsteil innerhalb eines Zeitraums von (nur) viereinhalb Monaten nach Verlassen der Aussiedlungsgebiete und damit zeitnah zu ihrer Übersiedlung erfolgreich abzulegen vermochte, zur Überzeugung des Senats hinreichend deutlich, dass sie die Fähigkeit für das Bestehen dieses Moduls mit Blick auf ihre Hörbehinderung nicht erst nach ihrer Übersiedlung erlernt haben kann, sondern über diesbezüglich ausreichende Fähigkeiten schon vor der Übersiedlung verfügt haben muss, zumal sie das Modul Sprechen bereits im Juli 2014 eindeutig bestanden hat.
53bb. Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen bedarf es keiner weiteren Prüfung, ob die Klägerin, soweit sie nach unwidersprochenen Angaben geltend macht, ihr sei die deutsche Sprache ab ihrem ersten bis zum fünften Lebensjahr von der Großmutter vermittelt worden, (auch) ein Bekenntnis durch den Nachweis familiär vermittelter Deutschkenntnisse erbracht hat.
543. Mit dem Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse entsprechend dem Niveau B1 hat die Klägerin ferner den Nachweis der Fähigkeit erbracht, ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen zu können.
55Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.
56Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.