Urteil vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 11 A 1075/19
Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesverwaltungsamts vom 27. Januar 2016 und des Widerspruchsbescheids vom 21. Juni 2016 verpflichtet, dem Kläger einen Aufnahmebescheid zu erteilen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Der am 20. August 1946 im Gebiet Omsk/Russische Föderation geborene Kläger beantragte am 28. September 2015 die Erteilung eines Aufnahmebescheids.
3Der vom Kläger im Antrag als sein Vater benannte F. L. wurde am 12. Februar 1914 geboren und verstarb am 27. Februar 1986. Die Mutter des Klägers B. Q. Q1. wurde ausweislich der Angaben im Aufnahmeantrag am 9. September 1913 geboren und verstarb am 5. Oktober 1978. Der Großvater väterlicherseits wurde am 3. September 1877 geboren und verstarb im Jahr 1930. Die Großmutter väterlicherseits wurde am 16. Juni 1889 geboren, der Großvater mütterlicherseits im Jahr 1873 und die Großmutter mütterlicherseits im Jahr 1882. Die Sterbedaten der drei letztgenannten Personen sind nicht bekannt. Der Kläger gab im Aufnahmeantrag an, sowohl seine Eltern als auch seine Großeltern hätten den Nationalitätseintrag „deutsch“ im Inlandspass besessen und über deutsche Sprachkenntnisse verfügt.
4Hinsichtlich der beruflichen Tätigkeiten seines Vaters gab der Kläger im Aufnahmeantrag u. a. an, dieser sei von 1947 bis 1954 „Direktor des Sowchoses“ gewesen.
5Dem Antrag waren u. a. folgende Dokumente beigefügt:
6- notariell beglaubigte Kopie einer am 12. März 2003 ausgestellten Geburtsurkunde des Klägers, in der als sein Vater Herr F. L1. L. (Nationalität: deutsch) benannt ist,
7- notariell beglaubigte Kopie einer vom Leiter der Zentralabteilung der Standesamtsverwaltung Gebiet Omsk am 4. März 2003 ausgestellten Bescheinigung Nr. 35 über die Eintragung der Korrekturen und Änderungen im Standesamtswesen,
8- notariell beglaubigte Kopie der am 22. März 1974 ausgestellten Heiratsurkunde der Eltern des Klägers über die am selben Tage erfolgte Eheschließung,
9- notariell beglaubigte Kopie einer (nicht datierten) Archivbescheinigung über die Mobilisierung des Vaters des Klägers zur Trudarmee im Jahr 1942.
10Mit Schreiben vom 4. November 2015 bat das Bundesverwaltungsamt den Kläger darum, genauere Angaben zu den beruflichen Tätigkeiten seines Vaters ab dem Jahr 1947 zu machen, zu erläutern, wieso dieser nicht unter Kommandanturbewachung gestanden habe und eine für ihn, den Kläger, im Geburtsjahr ausgestellte Geburtsurkunde vorzulegen.
11Der Kläger teilte hierzu schriftlich mit, sein Vater sei nach seinem Studienabschluss zur Arbeit in das Gebiet von Omsk „abkommandiert“ worden. Sein Vater habe von 1936 bis 1942 in Omsk gewohnt und dort als Leiter der Kommunalwirtschaft gearbeitet. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung über die Zwangsumsiedlung der Deutschen aus der Region Powolschje im Jahr 1941 habe sein Vater daher schon in Omsk gewohnt. Deshalb sei er nicht deportiert worden und habe auch nicht unter Kommandanturbewachung gestanden. In dem vom Kläger als Anlage übersandten Vordruck wurde die Tätigkeit seines Vaters von 1947 bis 1954 erneut als „Direktor des Sowchoses“ bezeichnet. Beigefügt war ferner eine handschriftlich ausgefüllte, notariell beglaubigte Kopie einer am 21. Oktober 1960 ausgestellten Geburtsurkunde des Klägers. In dieser wird der Vater des Klägers F. L. mit deutscher Nationalität geführt. Der Kläger teilte dazu mit, die im Geburtsjahr ausgestellte Geburtsurkunde sei noch in der Kindheit verloren worden.
12Mit Bescheid vom 27. Januar 2016 lehnte das Bundesverwaltungsamt den Antrag des Klägers auf Erteilung eines Aufnahmebescheids ab und führte zur Begründung aus, der Vater des Klägers sei nach dessen Angaben von 1947 bis 1954 Direktor einer Sowchose gewesen. Er habe damit eine berufliche Funktion bekleidet, die gemäß § 5 Nr. 2 b) BVFG für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Systems gewöhnlich bedeutsam gewesen sei. Da der Kläger mindestens drei Jahre mit seinem Vater in häuslicher Gemeinschaft gelebt habe, erfülle er den Ausschlusstatbestand des § 5 Nr. 2 c) BVFG.
13Hiergegen erhob der Kläger am 26. Februar 2016 Widerspruch und trug vor, sein Vater sei im Jahr 1942 zur „Arbeitsarmee C. Lager C1. L2. , Gebiet T. “ für verschiedene Arbeiten eingezogen worden. Im Jahr 1947 sei sein Vater nach der Rückkehr aus dem C. -Lager nicht der Kommandanturaufsicht unterfallen, da er nicht als „zwangsverschoben aus dem Europäischen Teil Russlands“ gegolten habe. Die einzige Einschränkung, die ihn - wie alle anderen Deutschstämmigen - betroffen habe, sei gewesen, dass er bis 1954 nicht in der Stadt Omsk habe leben dürfen. Dank seiner Arbeitserfahrung habe sein Vater einen Arbeitsplatz im Gebiets-Nebenbetrieb im Dorf K. , Bezirk L3. , Gebiet Omsk, erhalten. Dieser Nebenbetrieb sei zum Zwecke der Versorgung deutscher Sonderansiedler mit Nahrungsmitteln gegründet worden. Er, der Kläger, habe diesen Gebiets-Nebenbetrieb im Antrag aus Unkenntnis als Sowchose bezeichnet.
14Mit Bescheid vom 21. Juni 2016 wies das Bundesverwaltungsamt den Widerspruch zurück.
15Am 21. Juli 2016 hat der Kläger Klage erhoben. Zu deren Begründung hat er seinen Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und vertieft und ergänzend vorgetragen, die Abstammung von seinem leiblichen Vater F. L. , der deutscher Volkszugehöriger gewesen sei, ergebe sich aus den vorgelegten Urkunden. Seine erstausgestellte Geburtsurkunde sei verloren gegangen, deswegen sei sie am 21. Oktober 1960 neu ausgestellt worden. Die vorgelegte notarielle Kopie der Zweitausfertigung der Geburtsurkunde sei handschriftlich auf einem in damaliger Zeit gängigen Formular für die Ausstellung notarieller Kopien von Geburtsurkunden erstellt worden. Mangels Kopiertechnik habe man die Angaben handschriftlich übertragen müssen. Das Vorhandensein von Unterschriften sowie Stempelaufdrucken auf dem Originaldokument habe der Notar bestätigt. Aus der am 26. September 2017 ausgestellten Geburtsbescheinigung ergebe sich ebenfalls, dass Herr F. L. sein Vater sei. Laut Bescheinigung seiner alten Schule habe er ferner unter seinem jetzigen Namen vom 1. September 1953 bis zum 25. Juni 1964 die Klassen 1 bis 11 durchlaufen, wie sich auch aus den vorgelegten Klassenlisten der Klassen 8a (Schuljahr 1960/1961) bis 10a (Schuljahr 1962/1963) ergebe. Im Jahr 1946 sei das damals geltende Familiengesetzbuch in Kraft gewesen. Nach Art. 25 dieses Gesetzes habe kein Anlass bestanden, die Verwandtschaft anzuzweifeln, wenn die Eintragung von keiner Partei bestritten worden sei. Die Standesamtsverwaltung des Gebiets Omsk habe auf seine, des Klägers, Nachfrage mit Schreiben vom 21. Februar 2018 erklärt, dass keine Sondervermerke vorlägen, die auf Besonderheiten, die über das übliche Verfahren hinausgingen, hindeuteten. Ferner sei kein spezielles Verfahren für die Vaterschaftsbestimmung angewandt worden. Im standesamtlichen Eintrag Nr. 14 seien vielmehr seit der Registrierung am 4. September 1946 - bis auf Korrekturen im Jahr 2003 - keine weiteren Änderungen vorgenommen worden. Entgegen der von der Beklagten vertretenen Ansicht habe für seine Eltern auch eine Zeugungsmöglichkeit bestanden. Ausweislich der Verordnung Nr. 6 vom 21. Februar 1944 über die Stationierung der Lagerstruktureinheiten für 1944 sei sein Vater noch während der Zeit in der Arbeitsarmee im NKWD-C2. in die entsprechende Agrarabteilung in das Gebiet Omsk eingewiesen worden. Ferner ergebe sich aus einer Verordnung über die Prämierung von Mitarbeitern für die Erfüllung des Produktionsplans in 1945, dass sein Vater als Leiter des Produktionsteils der Agrarabteilung Nr. 2 (Gebiet Omsk) eine Sonderzahlung erhalten habe. Diese Verordnungen seien im „Gedenkbuch über deutsche Trudarmisten des C2. 1941-1946“ abgedruckt, in dem sein Vater namentlich erwähnt werde.
16Auch seine Mutter sei deutsche Volkszugehörige gewesen. Sie sei im Jahr 1942 aus Leningrad nach Omsk evakuiert worden und aufgrund ihrer deutschen Abstammung zu seinem Vater gezogen. Es lägen aber keine Dokumente vor, die die deutsche Abstammung seiner Mutter belegen könnten. Der Nachname seiner Mutter stamme aus ihrer ersten Ehe, die vor dem Krieg 1933 geschlossen worden sei. Ihr damaliger Ehemann Herr W. Q2. sei nach Kriegsausbruch zur Armee einberufen worden und sie hätten sich seitdem nie wieder gesehen.
17Ferner habe er die B1-Sprachprüfung bestanden.
18Der Kläger hat beantragt,
19den Bescheid vom 27. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Juni 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm einen vertriebenenrechtlichen Aufnahmebescheid zu erteilen.
20Die Beklagte hat beantragt,
21die Klage abzuweisen.
22Zur Begründung hat sie vorgetragen, es sei nicht zweifelsfrei erwiesen, dass der Kläger überhaupt biologisch von Herrn F. L. abstamme. Der Kläger habe lediglich zwei in den Jahren 1960 und 2003 ausgestellte Geburtsurkunden vorgelegt. Diese Urkunden besäßen jedoch keine Aussagekraft hinsichtlich der biologischen Abstammung, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich zwischen der Ausstellung der Erstausfertigung der Geburtsurkunde und der nachträglich ausgestellten Geburtsnachweise irgendwelche entscheidungsrelevanten Änderungen/Ergänzungen im Geburtsregister ergeben hätten. Im Übrigen handele es sich bei der aus dem Jahr 1960 vorgelegten Geburtsurkunde nicht um eine Originalurkunde, da sowohl Siegel als auch Unterschrift des zuständigen Standesamtsleiters fehlten. Wieso und auf welcher Rechtsgrundlage die Neuausstellung erfolgt sei, bleibe unklar, zumal erst ab dem Jahr 1968 bei unehelich geborenen Kindern Eintragungen zum Vater in der Geburtsurkunde vorgesehen gewesen seien. Die im gerichtlichen Verfahren nachgereichten Dokumente und Unterlagen belegten ebenfalls nicht die Abstammung des Klägers von Herrn F. L. , da diese Sachverhalte frühestens das Jahr 1953 beträfen. Ebenfalls klärungsbedürftig seien die Diskrepanzen bezüglich des Datums der Eheschließung der Eltern des Klägers. Der Kläger habe jedenfalls selbst vorgetragen, dass seine Mutter und Herr L. weder vor noch zum Zeitpunkt der Geburt in häuslicher Gemeinschaft gelebt hätten. Auch das Bestehen einer familiären Gemeinschaft in dem in Rede stehenden Zeitpunkt der Zeugung werde bezweifelt. Ausweislich der im Klageverfahren vorgelegten Archivbescheinigung sei Herr F. L. erst am 20. Mai 1946 - und damit drei Monate vor der Geburt des Klägers - aus der Arbeitsarmee entlassen worden. Zuvor habe er in der Stadt L2. gearbeitet. Seine, des Klägers, Mutter habe indes ab dem Jahr 1942 im Gebiet Omsk gelebt.
23Der Ausschlusstatbestand des § 5 BVFG werde in der Person des Vaters des Klägers nicht mehr als erfüllt angesehen.
24Mit Urteil vom 23. Januar 2019 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte zur Begründung aus, der Kläger habe nicht nachgewiesen, dass er von einem deutschen Staatsangehörigen bzw. Volkszugehörigen abstamme. Es sei nicht ersichtlich, dass die Mutter des Klägers deutsche Staatsangehörige bzw. Volkszugehörige gewesen sei. In seiner Geburtsurkunde aus dem Jahr 1960 sei die Mutter mit russischer Nationalität angegeben. Ferner stehe nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger biologisch von Herrn F. L. abstamme. Diese Zweifel beruhten in erster Linie darauf, dass der Kläger keine Dokumente aus seinem Geburtsjahr habe vorlegen können. Die Angaben des Klägers zum Abhandenkommen der ersten Geburtsurkunde seien ferner widersprüchlich. Auch den Schulzeugnissen lasse sich nicht entnehmen, mit welchem Namen der Kläger bis zu seinem 14. Lebensjahr geführt worden sei. Die Geburtsbescheinigung aus dem Jahr 2017 sei nicht geeignet, diese Zweifel auszuräumen, zumal in der Bescheinigung Angaben zur Nationalität seiner Eltern fehlten.
25Zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung führt der Kläger ergänzend aus, der Vortrag der Beklagten sei widersprüchlich. Diese habe sich zuerst darauf berufen, er erfülle wegen der beruflichen Tätigkeit seines Vaters F. L. den Ausschlusstatbestand des § 5 Nr. 2 c) BVFG, um dann die biologische Abstammung von diesem zu bestreiten. Das Verwaltungsgericht habe die Anforderungen an den Nachweis seiner deutschen Abstammung überspannt. Insbesondere die im Jahr 1960 ausgestellte Geburtsurkunde sei ein eindeutiger Beleg für die Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen. Seine Aussagen zum Abhandenkommen der im Geburtsjahr ausgestellten Geburtsurkunde seien nicht widersprüchlich. Er habe die Urkunde im Kindesalter dadurch verloren, dass er sie als Pfand für einen Trikotsatz abgegeben und nie zurückerhalten habe, weil sie verloren gegangen sei. Insofern habe er keine zwei unterschiedlichen Geschehensabläufe geschildert. Seine Abstammung von F. L. ergebe sich ferner aus der am 26. Februar 2019 ausgefertigten Geburtsbescheinigung Nr. 57, wonach dieser bereits nach seiner, des Klägers, Geburt als sein Vater eingetragen worden sei. Ein Auszug aus dem alphabetischen Schülerverzeichnis belege ferner, dass er am 1. September 1953 mit dem Nachnamen „L. “ in die erste Klasse eingeschult worden sei und im Jahre 1964 die Schule nach der 11. Klasse beendet habe. Er könne seine Verwandtschaft auch durch ein genetisches Gutachten nachweisen. Eine Untersuchung habe ergeben, die Wahrscheinlichkeit, dass er und Frau O. C3. , die Tochter der Schwester seines Vaters, Cousin und Cousine seien, liege bei 92,8 %.
26Der Kläger beantragt,
27das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 27. Januar 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Juni 2016 zu verpflichten, ihm einen Aufnahmebescheid zu erteilen.
28Die Beklagte beantragt,
29die Berufung zurückzuweisen.
30Zur Begründung bezieht sie sich auf die Gründe des abweisenden Urteils und ergänzt, das eingereichte DNA-Gutachten sei als Nachweis einer Abstammung von Herrn F. L. nicht geeignet. Es sei nicht nachgewiesen, dass es sich bei Frau O. C3. um die Nichte von Herrn F. L. handele und es sei keine gesicherte Probenentnahme erfolgt. Es sei ferner davon auszugehen, dass der vorgelegte Geburteneintrag nicht aus dem Jahr 1946 stamme. Denn vor 1968 habe es für die Mutter eines nichtehelich geborenen Kindes - wie des Klägers - keine Möglichkeit gegeben, Angaben zum leiblichen Vater zu machen. Ein nicht in einer registrierten Ehe geborenes Kind habe den Nachnamen seiner Mutter erhalten. Ausgehend hiervon dürften in dem Geburtenregisterauszug von 1946 keine Eintragungen zum vermeintlichen Vater vorgenommen worden sein. Im Übrigen wiesen die vom Kläger vorgelegten Urkunden zahlreiche Widersprüche auf.
31Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakte Heft 1) sowie die vom Kläger überreichten Dokumente (Beiakten Hefte 2 - 6) Bezug genommen.
32E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
33Die zulässige Berufung ist begründet.
34Der Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 27. Januar 2016 und der Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2016 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
35Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids gemäß den §§ 26 und 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG in der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats maßgeblichen Fassung der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328). Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG wird der Aufnahmebescheid auf Antrag Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Geltungsbereich des Bundesvertriebenengesetzes die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen. Spätaussiedler aus dem hier in Rede stehenden Aussiedlungsgebiet der ehemaligen Sowjetunion kann nach § 4 Abs. 1 BVFG nur sein, wer deutscher Volkszugehöriger ist, die Republiken der ehemaligen Sowjetunion nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen hat und zuvor zu bestimmten Zeiten, die hier nicht im Streit stehen, seinen Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten hatte. Deutscher Volkszugehöriger ist nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG, wer von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat. Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG kann das Bekenntnis auf andere Weise insbesondere durch den Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse entsprechend dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen oder durch den Nachweis familiär vermittelter Deutschkenntnisse erbracht werden. Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG muss das Bekenntnis zum deutschen Volkstum bestätigt werden durch den Nachweis der Fähigkeit, zum Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung über den Aufnahmeantrag zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen zu können.
36Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger.
37A. Der Kläger stammt von einem deutschen Volkszugehörigen ab.
38I. Er kann seine deutsche Abstammung von seinem Vater F. L. ableiten.
391. Es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass Herr F. L. der leibliche Vater des Klägers gewesen ist.
40a. Dies ergibt sich aus den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren vorgelegten Urkunden.
41aa. Der Kläger hat zwar keine Geburtsurkunde aus seinem Geburtsjahr vorlegen können. Allerdings hat der Kläger in den Jahren 1960 und 2003 neu ausgestellte Geburtsurkunden eingereicht, in denen jeweils der deutsche Volkszugehörige F. L. als sein Vater eingetragen ist. Der Senat hat keine Zweifel an der Authentizität der Geburtsurkunde vom 21. Oktober 1960. Die im Verwaltungsverfahren vorgelegte Urkunde ist lediglich eine notariell beglaubigte Abschrift der Originalurkunde vom 20. Mai 1961, da das Original - wie der Kläger nachvollziehbar erklärt hat - bei Erstellung seiner korrigierten Geburtsurkunde im Jahr 2003 (im Anschluss an den Beschluss Nr. 35 über die Eintragung der Korrekturen und Änderungen im Standesamtswesen vom 4. März 2003) eingezogen worden ist. Mangels Kopiertechnik sind die Daten handschriftlich auf ein Formular für die Ausstellung notarieller Urkunden übertragen worden. Die Notarin Putilowa hat am 20. Mai 1961 auf der Rückseite des Dokuments bestätigt, dass die Abschrift mit der Originalurkunde übereinstimmte, also auch hinsichtlich der erforderlichen Unterschriften und Stempelaufdrucke. Dies erklärt, warum auf der vorgelegten Abschrift weder das (Original-)Siegel noch die Unterschrift des zuständigen Standesamtsleiters vorhanden sind. Im Übrigen hat der Kläger im gerichtlichen Verfahren eine Kopie der Zweitausfertigung seiner Geburtsurkunde vom 21. Oktober 1960 nachgereicht, welche die von der Beklagten bemängelten amtlichen Siegel und Unterschriften enthält.
42Auch die Schreibweise des Namens seiner Mutter, die erst mit dem Beschluss Nr. 35 vom 4. März 2003 von „B1. “ auf „B2. “ geändert worden sein soll, spricht nicht gegen die Authentizität der Urkunde. Im kyrillischen Alphabet sehen sich die Buchstaben „k“ (к) und „n“ (н) ähnlich. Dazu kommt, dass die Eintragungen in der russischen Urkunde handschriftlich erfolgt sind, was zu einer „Verfälschung“ der Buchstaben führen kann. Vor diesem Hintergrund erscheint es dem Senat plausibel, dass in der vorgelegten Abschrift der Geburtsurkunde - entgegen der vom Kläger im Verwaltungsverfahren eingereichten beglaubigten Übersetzung (Beiakte Heft 1, Bl. 91) - B1. und nicht B3. steht. Auch das Schriftbild in der später vorgelegten Kopie der Geburtsurkunde lässt eher auf die Schreibweise „B1. “ schließen, zumal der Name der Mutter in der beglaubigten Übersetzung vom 25. November 2020 (Anlage zum Protokoll) ebenfalls so geschrieben wird.
43Der Kläger hat auch nachvollziehbar dargelegt, wie seine im Geburtsjahr ausgestellte Geburtsurkunde abhandengekommen ist und warum er sich im Jahr 1960 eine neue Geburtsurkunde hat ausstellen lassen müssen. Er hat zuerst sowohl im Verwaltungs- als auch im Klageverfahren lediglich ausgeführt, die Geburtsurkunde sei in seiner Kindheit verloren gegangen. In der mündlichen Verhandlung soll er gesagt haben - ohne dass dies durch die Vorinstanz protokolliert worden ist -, er habe seine Geburtsurkunde in seiner Kindheit eingetauscht, um einen Trikotsatz zu erhalten. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz schließen sich diese Angaben nicht zwingend aus. Der Kläger hat in seiner Berufungsbegründung überzeugend erläutert, er habe tatsächlich seine erste Geburtsurkunde gegen einen Trikotsatz getauscht, sie anschließend aber nie zurückerhalten, weil sie verloren gegangen sei. Deshalb habe er im Jahr 1960 - basierend auf seinem Geburtseintrag - eine neue Geburtsurkunde erhalten. Den Tausch gegen einen Trikotsatz habe er vorher nicht erwähnt, da er erstmals in der mündlichen Verhandlung nach Einzelheiten des Verlustes der Urkunde gefragt worden sei; zuvor habe er es nicht als notwendig empfunden, zu diesem Thema weiter vorzutragen. Insofern ist es dem Kläger gelungen, den vermeintlichen Widerspruch in seinem Vortrag zur Überzeugung des Senats aufzulösen.
44bb. Der Kläger hat ferner Geburtsbescheinigungen aus den Jahren 2017 und 2019 vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass im Archiv der Standesamtsverwaltung Gebiet Omsk - Kreis O1. der Eintrag Nr. 14 vom 4. September 1946 über die Geburt des Klägers verwahrt wird. Als Vater des Klägers ist jeweils F. L1. L. eingetragen. Dass - wie von der Vorinstanz bemängelt - in der am 26. September 2017 ausgestellten Geburtenbescheinigung die Angabe über die Nationalität seiner Eltern fehlt, stellt den Beweiswert der Urkunde nicht in Frage, zumal in der am 26. Februar 2019 ausgestellten Bescheinigung die Nationalität seiner Eltern angegeben ist. In der später ausgestellten Bescheinigung ist ferner ausdrücklich vermerkt, die Daten zum Kindsvater seien bereits im Geburteneintrag am Tag der Geburt des Kindes (gemeint ist wohl der Tag der Eintragung) am 4. September 1946 enthalten gewesen. Dies bestätigt die Standesamtsverwaltung auch noch einmal mit Schreiben vom 21. Februar 2018. Danach seien die einzigen Änderungen des Geburteneintrags am 12. März 2003 im Anschluss an den Beschluss Nr. 35 eingetragen worden, woraufhin dem Kläger auch eine neue Geburtsurkunde ausgestellt worden sei. Die Änderungen hätten aber lediglich darin bestanden, den Nachnamen des Klägers von „L4. “ in „L. “ und den Vornamen seiner Mutter zu ändern sowie Daten zu seinem Geburtsort einzutragen. In dem Schreiben bestätigt die Standesamtsverwaltung ferner, dass keine Daten darüber vorhanden seien, aus welchem Grund die Eintragung über den Kindsvater erfolgt seien. Insbesondere sei keine staatliche Registrierung einer (nachträglichen) Vaterschaftsfeststellung erfolgt. Dies alles spricht dafür, dass F. L. bereits zum Zeitpunkt der Geburt des Klägers als dessen Erzeuger und leiblicher Vater in das Geburtenregister eingetragen worden ist und es zwischen der Ausstellung der Erstausfertigung der (abhandengekommenen) Geburtsurkunde 1946 und der nachträglich ausgestellten Geburtsnachweise in den Jahren 1960 und 2003 keine entscheidungserheblichen Änderungen/Ergänzungen gegeben hat.
45cc. Dazu hat der Kläger im Berufungsverfahren ein im Jahr 1952 begonnenes „Alphabetisches Verzeichnis der Schüler der Schule Nr. 60“ vorgelegt, nach welchem der Kläger am 1. September 1953 unter dem Namen „L5. F1. L. “ eingeschult worden ist und im Jahr 1964 die Klasse 11 beendet hat. Dies bestätigt, dass der Kläger auch bereits vor der Ausstellung der Geburtsurkunde im Jahr 1960 von offiziellen Stellen mit dem Nachnamen „L. “ und dem Vatersnamen „F1. “ geführt worden ist. Mit Vorlage dieser Urkunde entkräftet der Kläger ferner den Einwand des Verwaltungsgerichts, es seien lediglich schulische Unterlagen für ihn und seinen Bruder ab dem Jahr 1960 vorgelegt worden, sodass nicht festgestellt werden könne, mit welchem Namen der Kläger vor seinem 14. Lebensjahr geführt worden sei. Dass der Kläger in dem Verzeichnis mit der Adresse „3 E. Nr: (42) 54“ eingetragen ist, spricht - anders als die Beklagte meint - nicht gegen den Beweiswert der Urkunde, auch wenn laut Unterlagen des Klägers unter dieser Adresse erst im Jahr 1954 ein Haus errichtet worden sein soll. Denn es steht nicht fest, wann die Eintragung zur Adresse des Klägers erfolgt ist. Der Eintrag könnte - ebenso wie der Eintrag über die Beendigung der Klasse 11 - erst nachträglich aufgenommen worden sein.
46b. Der Beweiswert der vor 1968 ausgestellten Urkunden ist - sofern dort F. L. als der Vater des Klägers eingetragen wordenist - auch nicht deshalb zweifelhaft, weil eine derartige Möglichkeit bei unehelich geborenen Kindern in der Sowjetunion nicht bestanden hat.
47Das Gesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über die Ehe, die Familie und die Vormundschaft vom 19. November 1926 wurde durch den Erlass (Ukas) des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „betr. Erhöhung der staatlichen Subvention für werdende Mütter, kinderreiche und alleinstehende Mütter, Verstärkung des Schutzes der Mutterschaft und Kindschaft, Einführung der Ehrenbezeichnung ,Mutter-Heldin' und Schaffung des Ordens ,Ruhm der Mutter', sowie einer Mutterschaftsmedaille", vom 8. Juli 1944,
48abgedruckt in: StAZ 1948/1949, 51 f.,
49maßgeblich geändert.
50Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 7. Juni 2011 - 12 A 1916/10 -, juris, Rn. 4.
51In Art. 21 des Erlasses wurde bestimmt, dass bei der standesamtlichen Registrierung der Geburt eines Kindes einer Mutter, die nicht in registrierter Ehe lebt, das Kind mit dem Familiennamen der Mutter unter Beifügung des Vatersnamens laut Angabe der Mutter einzutragen ist.
52Dies hatte zur Folge, dass das unehelich geborene Kind nur mit seiner Mutter verwandt war.
53Vgl. BayOLG, Beschluss vom 24. Mai 2000 - 1 Z BR 46/99 -, juris, Rn. 44; Bahro, Das Kindschaftsrecht in der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (Band 8), Stand 1. April 1966, S. 47.
54Erst das Gesetz zur Bestätigung der Grundlagen der Gesetzgebung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (SSR) und der Unionsrepubliken vom 27. Juni 1968 mit Wirkung zum 1. Oktober 1968 kehrte wieder zur Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern - bei festgestellter Vaterschaft - zurück. Es sah auch die Möglichkeit vor, durch eine Vaterschaftsanerkennung allen vor dem 1. Oktober 1968 geborenen nichtehelichen Kindern rückwirkend die gleiche Rechtsstellung zu verschaffen, wie solchen, die nach diesem Datum zur Welt kamen.
55Vgl. BayOLG, Beschluss vom 24. Mai 2000 - 1Z BR 46/99 -, juris, Rn. 46.
56Da die Eltern des Klägers (unstreitig) zum Zeitpunkt seiner Geburt im Jahr 1946 nicht miteinander verheiratet waren, hätte der Kläger nach dem damals geltenden Recht in der im Jahr 1960 ausgestellten Geburtsurkunde mit dem Nachnamen seiner Mutter eingetragen werden müssen.
57Allerdings bedeutet dies nicht, dass eine Eintragung des Vaters des unehelich geborenen Klägers ausgeschlossen gewesen ist. Dies zeigen insbesondere die Instruktion (UdSSR) vom 20. März 1945 und der Erlass vom 1. Juni 1951, wonach bei einer Geburt nach dem 8. Juli 1944 auch dann kein Vaterschaftsverhältnis mehr begründet werden konnte, wenn das Standesamt in Verkennung der Rechtslage den außerehelichen Erzeuger als Vater eingetragen hatte.
58Vgl. Bahro, Das Kindschaftsrecht in der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (Band 8), Stand 1. April 1966, S. 48 f.
59Insofern muss es offensichtlich Fälle gegeben haben, in denen - wie hier - bei außerehelich geborenen Kindern der Vater eingetragen worden ist und diese den Nachnamen ihres Vaters erhalten haben.
60Vor diesem Hintergrund spricht die damals geltende Rechtslage nicht gegen den Beweiswert der im Jahr 1960 ausgestellten Geburtsurkunde des Klägers mitsamt der Eintragung von Herrn F. L. als sein Vater. Andernfalls wäre auch nicht zu erklären, warum der Kläger in den Unterlagen der Schule Nr. 60 seit 1953 mit dem Namen „L. “ geführt wurde.
61c. Schließlich hat der Kläger auch zur Überzeugung des Senats die von der Beklagten aufgeworfenen Zweifel an einer Möglichkeit der Zeugung durch Herrn F. L. ausräumen können.
62Ausweislich einer vom Kläger vorgelegten Archivbescheinigung arbeitete der Vater des Klägers vom 17. April 1942 bis zum 20. Mai 1946 als Gelegenheitsarbeiter bei der Behörde „C2. -C1. “ in der Stadt L2. , danach wurde er „weitergeleitet zur Sonderansiedlung“ im C1. . Die Mutter des Klägers wurde jedoch nach dem Inhalt einer weiteren vom Kläger vorgelegten Bescheinigung bereits im Jahr 1942 aus der Stadt Leningrad evakuiert und gelangte nach Angaben des Klägers nach Omsk. Die Entfernung zwischen diesen beiden Städten beträgt mehr als 1.000 km.
63Vgl. Berechnung bei maps.google.com.
64Der Kläger hat dem im Laufe des gerichtlichen Verfahrens - unter Bezugnahme auf das als Beiakte Heft 6 geführte Gedenkbuch - allerdings entgegengehalten, sein Vater sei bereits vor 1945, als er in der Arbeitsarmee im NKWD-C2. gewesen sei, in eine der dortigen Agrarabteilungen, nämlich in die Abteilung Nr. 2 des Bezirks O2. im Gebiet Omsk, eingewiesen worden. Diese Abteilung werde in der für die Verwaltung des Baubereichs C4. und der NKWD-Straflager verabschiedeten Verordnung Nr. 6 vom 21. Februar 1944 „Über die Stationierung der Lagerstruktureinheiten für 1944" erwähnt. Im Paragraph 1 der Verordnung finde u. a. der „Trupp Nr. 15 (Agrarabteilung im Bezirk O2. )" Erwähnung. Die Verordnung sei auf Seite 258-259 des „Gedenkbuchs über deutsche Trudarmisten des C2. 1941-1946" aufgrund der im Kommunalen Archiv für sozialrechtliche Dokumente von O3. U. enthaltenen Angaben veröffentlicht. Diese Agrarabteilung sei für die Versorgung mit Agrarprodukten der bei der Errichtung des Aluminium-Werks C4. im C2. -C1. eingesetzten Häftlinge, Trudarmisten und Arbeiter aus L2. gebildet worden und habe sich als Außenstelle im Omsker Gebiet befunden.
65Ferner enthalte die auf Seite 286-289 des Gedenkbuchs veröffentlichte Verordnung Nr. 76a vom 23. Mai 1946, verabschiedet für die NKWD-Verwaltung des C2. , Angaben über die Prämierung der Mitarbeiter und Spezialisten von MWD-Selchos C2. für die Erfüllung des Produktionsplans in 1945. Unter den in der Verordnung aufgelisteten Abteilungen werde auch die Agrar-(Selchos-)Abteilung Nr. 2 (Gebiet Omsk) und dabei auch sein Vater F. L1. L. als Leiter des Produktionsteils erwähnt. Diese Verordnung belege, dass sein Vater bereits 1945 zur Agrarabteilung Nr. 2 des Bezirks O2. , Gebiet Omsk, gehört habe. Diese Einlassungen werden im Übrigen auch durch die Angabe in der Archivbescheinigung gestützt, der Vater des Klägers sei „an verschiedenen Stellen der Einrichtung“ beschäftigt gewesen.
66Insofern hat der Kläger nachvollziehbar dargelegt, dass sich sein Vater bereits 1945 im Rahmen seiner Tätigkeit in der Arbeitsarmee im NKWD-C2. in einem Außenposten im Gebiet Omsk aufgehalten hat, wo damals auch seine Mutter gelebt hat.
67Dem widerspricht auch nicht das Vorbringen des Klägers im ersten Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht. Dort hat der Kläger zwar ausdrücklich erklärt, sein Vater sei erst am 20. Mai 1946 umgesiedelt worden. Dieser Vortrag schließt es aber nicht aus, dass sein Vater bereits vor 1946 im Gebiet Omsk eingesetzt gewesen ist und eine (offizielle) Umsiedlung im Sinne einer Sondersiedlung als „Deutscher“ erst nach seiner Demobilisierung aus der Trudarmee am 20. Mai 1946 stattgefunden hat. Jedenfalls hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht ausdrücklich erklärt, sein Vater habe vor seiner Umsiedlung/Demobilisierung und insbesondere zum Zeitpunkt seiner Zeugung noch in der Stadt L2. gelebt. Dort ist offenbar lediglich die Zentralverwaltung seiner Arbeitseinheit angesiedelt gewesen.
68Auch die Tatsache, dass F. L. und seine Mutter nach Angaben des Klägers weder vor noch zum Zeitpunkt seiner Geburt in einer häuslichen Gemeinschaft gelebt haben, lässt eine biologische Abstammung nicht ausgeschlossen erscheinen.
69d. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob das vom Kläger eingereichte genetische Gutachten ein tauglicher Beweis für eine Abstammung von Herrn F. L. ist. Wie die Beklagte zu Recht anmerkt, dürfte bislang jedenfalls nicht feststehen, dass es sich bei der getesteten Cousine Frau O. C3. tatsächlich - wie behauptet - um die Nichte von Herrn F. L. handelt, so dass das Gutachten lediglich eine Verwandtschaft zu Frau C3. , nicht aber zu Herrn L. beweisen dürfte.
702. F. L. ist deutscher Volkszugehöriger gewesen.
71Die deutsche Volkszugehörigkeit der Person, von der die Abstammung hergeleitet wird, beurteilt sich im Rahmen sowohl des § 4 Abs. 1 Nr. 3 BVFG als auch des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG nach der Rechtslage zum Zeitpunkt der Geburt des Aufnahmebewerbers.
72Vgl. zum maßgeblichen Zeitpunkt BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2019 - 1 C 43.18 -, juris, Rn. 25.
73Da im Zeitpunkt der Geburt des Klägers (20. August 1946) kein Bundesvertriebenengesetz existierte, kann nur auf das Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge, das am 5. Juni 1953 in Kraft getreten ist (BVFG 1953), abgestellt werden.
74Vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 29. Juni 2020 ‑ 11 A 591/20 -, S. 29 (n. v.).
75Gemäß § 6 BVFG 1953 ist deutscher Volkszugehöriger, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. Das Bekenntnis muss im Zeitraum unmittelbar vor Beginn der gegen die deutsche Bevölkerungsgruppe gerichteten Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen abgelegt worden sein. Diese Maßnahmen begannen in der ehemaligen Sowjetunion nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941.
76Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 1995 ‑ 9 C 392.94 ‑, BVerwGE 98, 367 (368 f.) = juris, Rn. 21 f.
77Ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum im Sinne des § 6 Abs. 1 BVFG besteht in dem von einem entsprechenden Bewusstsein getragenen, nach außen hin verbindlich geäußerten Willen, selbst Angehöriger des deutschen Volkes als einer national geprägten Kulturgemeinschaft zu sein und keinem anderen Volkstum anzugehören, sich dieser Gemeinschaft also vor jeder anderen nationalen Kultur verbunden zu fühlen. Ein Bekenntnis in diesem Sinne kann sich zum einen unmittelbar aus Tatsachen ergeben, die ein ausdrückliches Bekenntnis oder ein Bekenntnis durch schlüssiges Gesamtverhalten dokumentieren. Zum anderen kann ein Bekenntnis mittelbar aus hinreichend vorhandenen Indizien, namentlich den in § 6 Abs. 1 BVFG genannten objektiven Bestätigungsmerkmalen, gefolgert werden.
78Vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1989 ‑ 9 C 18.89 ‑, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 62 = juris, Rn. 11, und vom 29. Juni 1993 ‑ 9 C 40.92 ‑, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 71 = juris, Rn. 11; zusammenfassend BVerwG, Urteil vom 13. Juni 1995 ‑ 9 C 392.94 ‑, BVerwGE 98, 367 (368 f.) = juris, Rn. 21 f.
79Der Kläger hat zwar keine Urkunde aus dem Zeitraum vor Juni 1941 vorgelegt, aus welcher hervorginge, dass sich sein Vater etwa durch Eintragung der deutschen Nationalität zum deutschen Volkstum bekannt hätte.
80Es liegen aber jedenfalls die Voraussetzungen für die mittelbare Feststellung eines Bekenntnissachverhalts vor. Der Vater des Klägers ist im Jahr 1942 zur Trud-/Arbeitsarmee eingezogen worden. Dies ergibt sich aus der vom Kläger im Verwaltungsverfahren vorgelegten Archivbescheinigung. Hierfür spricht ferner die Archivbescheinigung vom 26. Mai 2017, wonach es eine Personalkarte des zur Trud-/Arbeitsarmee mobilisierten Herrn F. L. gibt. Darüber hinaus wird der Vater des Klägers im „Gedenkbuch über deutsche Trudarmisten des C2. 1941-1946“ auf Seite 288 namentlich erwähnt, zusammen mit anderen, dem Namen nach offenbar deutschstämmigen Mitgliedern seiner Arbeitseinheit. Die Mobilisierung als Hilfsarbeiter für die Trudarmee stellt ein erhebliches Indiz dafür dar, dass der Vater des Klägers im Zeitpunkt unmittelbar vor Beginn der gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten allgemeinen Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen (21. Juni 1941) von den sowjetischen Behörden als deutscher Volkszugehöriger angesehen wurde und ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgegeben hat. Denn seit Kriegsbeginn sind „100.000 Deutsche“ an die Trudarmee überstellt worden.
81Vgl. Pinkus/Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion: Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert, 1. Auflage 1987, S. 331 f.
82Daneben sind lediglich andere nationale Minderheiten wie Finnen, Italiener oder Krimtataren rekrutiert worden, zu denen der Vater des Klägers ersichtlich nicht zuzuordnen gewesen ist.
83Gegen diese Annahme spricht nicht, dass der Vater des Klägers laut der im Verwaltungsverfahren eingereichten (undatierten) Archivbescheinigung nicht unter Kommandanturbewachung gestanden hat. Der Kläger hat nachvollziehbar dargelegt, dass sein Vater bereits nach seinem Studienabschluss am Saratower Institut für Planung und Wirtschaftswissenschaften im Jahr 1936 zur Arbeit in das Gebiet von Omsk gezogen sei und dort als Leiter der Kommunalwirtschaft gearbeitet habe. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung über die Zwangsumsiedlung der Deutschen aus der Region Q3. im Jahr 1941 habe sein Vater daher schon in Omsk gelebt. Deshalb habe er nicht deportiert werden müssen und anschließend nicht unter förmlicher Kommandanturbewachung gestanden, da er nicht als „zwangsverschoben aus dem Europäischen Teil Russlands“ gegolten habe.
84II. Von seiner Mutter kann der Kläger seine deutsche Abstammung dagegen nicht ableiten. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass seine Mutter - die in seinen in den Jahren 1960 und 2003 ausgestellten Geburtsurkunden mit russischer Nationalität eingetragen ist - im maßgeblichen Zeitpunkt deutsche Volkszugehörige gewesen ist.
85Dagegen spricht auch, dass der Kläger eine Bescheinigung vorgelegt hat, wonach seine Mutter aus Leningrad evakuiert worden ist. Wenn die Mutter des Klägers zum Zeitpunkt vor Beginn der gegen die deutsche Bevölkerungsgruppe gerichteten Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgegeben hätte, wäre zu erwarten gewesen, dass man sie vertrieben und nicht evakuiert hätte. Die Deutschen wurden damals ab dem 17. März 1942 in plombierten Güterzügen aus dem Raum Leningrad nach Sibirien abtransportiert.
86Vgl. Pinkus/Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion: Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert, 1. Auflage 1987, S. 311.
87Im Übrigen hat der Kläger selbst eingeräumt, dass keine Dokumente vorlägen, die „die deutsche Abstammung“ seiner Mutter belegen könnten.
88III. Der Kläger kann die deutsche Abstammung auch nicht von seinem Großvater oder seiner Großmutter väterlicherseits ableiten.
89Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts scheiden Verwandte als Bezugspersonen aus, wenn sie vor dem 8. Mai 1945 verstorben sind.
90Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2019 ‑ 1 C 43.18 -, juris, Rn. 27.
91Der Großvater väterlicherseits des Klägers ist nach dessen Angaben bereits im Jahr 1930 verstorben.
92Angaben zum Todeszeitpunkt der Großmutter väterlicherseits liegen nicht vor. Der Kläger behauptet, seine Großmutter väterlicherseits sei - gemeinsam mit deren Tochter - nach Sibirien deportiert worden. Für die danach „mitdeportierte“ Schwester des Vaters des Klägers ist eine (nicht beglaubigte) Kopie eines Zeugnisses über die Rehabilitation der Opfer politischer Repressalien zur Akte gereicht worden. Dies reicht aber nicht aus, um zur Überzeugung zu gelangen, dass die Großmutter väterlicherseits im maßgeblichen Zeitpunkt (ebenfalls) ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgegeben hat. Dokumente bezüglich der Großmutter väterlicherseits sind nicht vorgelegt worden. Im Übrigen lässt sich weder dem Vortrag des Klägers noch den vorgelegten Dokumenten entnehmen, ob die Großmutter väterlicherseits zum Stichtag 8. Mai 1945 noch gelebt hat.
93IV. Hinsichtlich der Großeltern mütterlicherseits bestehen - ungeachtet der Frage der Todeszeitpunkte – ebenfalls keine (belegbaren) Anhaltspunkte dafür, dass diese im maßgeblichen Zeitpunkt ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgelegt haben. Die im Klageverfahren vorgelegten Tauf-/Heiratsurkunden betreffend die Großeltern und einen Bruder der Mutter sind insofern nicht ergiebig, da sie sich auf Zeitpunkte weit vor oder nach dem 22. Juni 1941 beziehen.
94B. Der Kläger hat auch ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgegeben. Er ist in seinem im Jahr 1997 ausgestellten Inlandspass mit der Nationalität „Deutsch“ eingetragen. Da der Kläger ein B1-Zertifikat (Modulprüfungen abgelegt in den Jahren 2017 und 2018) vorgelegt hat, liegen zudem die Voraussetzungen für ein Bekenntnis i. S. d. § 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG vor. Durch die Vorlage des B1-Zertifikats hat der Kläger ferner nachgewiesen, dass er die Voraussetzungen von § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG erfüllt.
95C. Der Kläger erfüllt nicht den Ausschlusstatbestand gemäß § 5 Nr. 2 c) BVFG. Danach erwirbt die Rechtsstellung nach § 4 Abs. 1, 2 oder Abs. 3 Satz 2 BVFG nicht, wer für mindestens drei Jahre mit dem Inhaber einer Funktion im Sinne von § 5 Nr. 2 b) BVFG in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat. § 5 Nr. 2 b) BVFG umfasst Personen, die in den Aussiedlungsgebieten eine Funktion ausgeübt haben, die für die Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems gewöhnlich als bedeutsam galt oder auf Grund der Umstände des Einzelfalles war. Der Vater des Klägers hatte eine Position in diesem Sinne nicht inne. Das ergibt sich aus den Angaben des Klägers zur Tätigkeit seines Vaters in den Jahren 1947 bis 1954, wonach er (nur) Direktor einer „Hilfswirtschaft HOZO“ gewesen sei und nicht - wie er im Antragsformular irrtümlich angegeben habe - Direktor einer Sowchose. Die Beklagte hat im gerichtlichen Verfahren im Übrigen unstreitig gestellt, dass der Vater des Klägers nicht die Voraussetzungen von § 5 Nr. 2 b) BVFG erfüllt und somit für den Kläger der Ausschlussgrund des § 5 Nr. 2 c) BVFG nicht greift.
96Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
97Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.
98Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
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Referenzen
- ZPO § 709 Vorläufige Vollstreckbarkeit gegen Sicherheitsleistung 1x
- BVFG § 6 Volkszugehörigkeit 5x
- VwGO § 132 1x
- BVFG § 27 Anspruch 2x
- 1 Z BR 46/99 1x (nicht zugeordnet)
- BVFG § 4 Spätaussiedler 2x
- ZPO § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung 1x
- ZPO § 167 Rückwirkung der Zustellung 1x
- BVFG § 5 Ausschluss 1x
- VwGO § 154 1x
- ZPO § 711 Abwendungsbefugnis 1x
- VwGO § 113 1x
- BVFG § 26 Aufnahmebescheid 1x
- 11 A 591/20 1x (nicht zugeordnet)
- 12 A 1916/10 1x (nicht zugeordnet)