Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 13 C 5/21
Tenor
Die im Rubrum aufgeführten Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Auf die Beschwerden der Antragsteller werden die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 11. März 2021 geändert.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet,
1. innerhalb von 5 Werktagen nach Zustellung dieses Beschlusses ein Losverfahren durchzuführen und unter den Antragstellern dieses Verfahrens eine Rangfolge zu ermitteln,
2. die Antragsteller vorläufig zum Studium der Humanmedizin nach den Rechtsverhältnissen des WS 2020/2021 zuzulassen, sofern bei dieser Verlosung auf sie/ihn der Rangplatz 1 bis 4 entfällt und der oder die zuzulassende Antragsteller/-in innerhalb von 10 Werktagen nach Bekanntgabe der Zulassung durch Zustellung mit Postzustellungsurkunde bzw. durch Zustellung gegen Empfangsbekenntnis des bevollmächtigten Rechtsanwalts die Immatrikulation bei der Antragsgegnerin beantragt; nehmen die auf Rangplatz 1 bis 4 ausgelosten Antragsteller den Studienplatz nicht an oder stehen einer Immatrikulation Hindernisse entgegen, rückt ein anderer Antragsteller entsprechend seinem Rang nach.
Im Übrigen werden die Anträge abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu 11/15 und die Antragsgegnerin zu 4/15.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird für die Zeit bis zur Verbindung für jedes der verbundenen Verfahren auf 5.000 Euro und für die Zeit ab der Verbindung auf insgesamt 75.000 Euro festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Der Senat entscheidet über die auf dasselbe Ziel gerichteten Begehren der Antrag-steller gemäß § 93 Satz 1 VwGO in gemeinsamer Entscheidung.
3Die Beschwerden sind in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zulässig und begründet. Die zur Begründung der Beschwerden fristgemäß dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach Maßgabe von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen es, die angefochtenen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts zu ändern. Insoweit haben die Antragsteller mit ihrem Beschwerdevorbringen sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
41. Die im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmende Prüfung ergibt, dass über die tatsächlich vergebenen und in der durch Anlage 1 der „Verordnung über die Festsetzung von Zulassungszahlen und die Vergabe von Studienplätzen im ersten Fachsemester für das Wintersemester 2020/2021“ vom 30. Juni 2020 (GV. NRW. S. 678) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 15. November 2020 (GV. NRW. S. 1072) festgesetzten 340 Studienplätze hinaus vier weitere nicht besetzte Studienplätze vorhanden sind.
5Die Antragsteller beanstanden zu Recht, dass die Antragsgegnerin für die Stelle eines Akademischen Direktors (A 15), besetzt mit Prof. Dr. G. , ein Lehrdeputat von 5 DS nach § 3 Abs. 1 Nr. 11 der Verordnung über die Lehrverpflichtung an Universitäten und Fachhochschulen (Lehrverpflichtungsverordnung - LVV NRW) vom 24. Juni 2009 (GV. NRW. S. 409), zuletzt geändert durch Verordnung vom 1. Juli 2016 (GV. NRW. S. 526), zugrunde gelegt hat. Hierfür anzusetzen ist ein Deputat von 9 DS nach § 3 Abs. 1 Nr. 10 LVV NRW.
6Nach § 3 Abs. 1 Nr. 11 LVV NRW haben akademische Räte, Oberräte und Direktoren, denen mindestens zu drei Vierteln der regelmäßigen Arbeitszeit Dienstaufgaben ohne Lehrverpflichtungen obliegen, eine reduzierte Lehrverpflichtung von 5 DS. Für teilzeitbeschäftigte Lehrende gilt gemäß § 3 Abs. 5 LVV NRW eine entsprechend geringere Lehrverpflichtung. Es liegt im Organisationsermessen der Universität, ob und in welchem Umfang sie den Inhabern der in § 3 Abs. 1 Nr. 10 und 11 LVV NRW genannten Stellen Dienstaufgaben ohne Lehrverpflichtung zuweist. Der Kapazitätserschöpfungsgrundsatz gebietet es der Universität dabei nicht, stets die kapazitätsgünstigere Alternative zu wählen. Jedoch sind in die Abwägung neben organisatorischen, planerischen, haushaltsspezifischen und wissenschaftsbezogenen Aspekten auch die Belange der Studienbewerber einzubeziehen. Die Abwägungsentscheidung ist gerichtlich nur eingeschränkt darauf überprüfbar, ob es an einem sachlichen Grund für die Deputatsreduzierung fehlt.
7Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. August 2018 ‑ 13 C 67/18 -, juris, Rn. 9; Sächsisches OVG, Beschluss vom 27. April 2016 - 2 B 59/16.NC -, juris, Rn. 9; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23. November 2005 - NC 9 S 140/05 -, juris, Rn. 42, jeweils m.w.N.
8Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 LVV NRW hat die Dekanin oder der Dekan studienjährlich zu überprüfen, ob und aus welchen Gründen von der höheren Lehrverpflichtung des Lehrenden abgewichen wird. Dies ist nach Satz 2 der Vorschrift aktenkundig zu machen.
9Diesen Anforderungen genügt die Antragsgegnerin nicht. Sie hat nicht schlüssig dargelegt, aus welchen in der Person der Inhaber der Stelle liegenden Gründen von einer höheren Lehrverpflichtung abgewichen wird. Auszugehen ist nach den von der Antragsgegnerin vorgelegten Unterlagen dabei davon, dass Prof. Dr. G. gemäß § 64 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 LBG NRW nur mit der Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit beschäftigt ist, sodass auf ihn gemäß § 3 Abs. 5 LVV NRW kein volles Lehrdeputat entfällt, sondern dies anteilig zu kürzen ist. Wie die Stelle, auf der er geführt wird, im Übrigen besetzt ist und welche konkreten Dienstaufgaben ohne Lehrverpflichtung von den Stelleninhabern wahrgenommen werden, hat die Antragsgegnerin nicht dargetan. Dies war ersichtlich auch nicht Gegenstand einer Überprüfung nach § 3 Abs. 3 Satz 1 LVV NRW. Vorgelegt hat die Antragsgegnerin lediglich eine Stellenbeschreibung, die sich in unzutreffender Weise auf eine Vollzeitbeschäftigung des Prof. Dr. G. bezieht. Nur so lässt sich das Schreiben des Dekans Prof. Dr. H. vom 23. Dezember 2020 erklären, wonach sich den Tätigkeitsbeschreibungen der überprüften Personen (u.a. Prof. Dr. G. ) entnehmen lässt, „dass auch weiterhin eine Verringerung der Lehrverpflichtung auf 5 SWS bei allen gegeben ist.“ (Anlage 1 der Beschwerdeerwiderung der Antragsgegnerin vom 20. April 2021). Ob und in welchem konkreten Umfang Prof. Dr. G. im Rahmen seiner Teilzeitbeschäftigung Dienstaufgaben ohne Lehrverpflichtung wahrnimmt, ergibt sich aus den Angaben der Antragsgegnerin nicht.
10Soweit die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerdeerwiderung vom 7. Mai 2021 geltend machen will, die Teilzeitbeschäftigung des Prof. Dr. G. wirke sich wegen des abstrakten Stellenprinzips im Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 Nr. 11 LVV NRW nicht aus, ist dies unzutreffend. Das der Kapazitätsberechnung zu Grunde liegende (abstrakte) Stellenprinzip verwehrt es den Hochschulen in die Bemessung der Lehrleistung Besonderheiten einzustellen, die sich aus der Besetzung einer konkreten Stelle mit einer bestimmten Lehrperson im Hinblick auf ihre individuelle Lehrverpflichtung oder Qualifikation ergeben. Auszugehen für die Berechnung des Lehrangebots ist nach dem Stellenprinzip des § 8 Abs. 1 Kapazitätsverordnung (KapVO) von der Anzahl der Stellen des Lehrpersonals und der sonstigen Lehrpersonen sowie von dem Gebot, die den Stellen zuzuordnende Lehrverpflichtung auszuschöpfen. § 9 Abs. 1 KapVO gibt insoweit vor, dass das Lehrdeputat die im Rahmen des Dienstrechts festgesetzte Regellehrverpflichtung einer Lehrperson einer Stellengruppe gemessen in Deputatstunden ist.
11Vgl. zum abstrakten Stellenprinzip OVG NRW, Beschluss11. Juli 2016 - 13 C 30/16 -, juris, Rn. 7; Bahro/Berlin, Das Hochschulzulassungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 2003, Rn. 13 zu § 8 KapVO, S. 375.
12Bei der Reduzierung der Regellehrverpflichtung von Lehrpersonen aufgrund der Wahrnehmung besonderer Dienstaufgaben nach § 3 Abs. 1 Nr. 11 LVV NRW wird dieses Prinzip jedoch durchbrochen, denn die Ermäßigung des auf eine volle Stelle bezogenen Lehrdeputats von neun auf fünf DS ist nur gerechtfertigt, wenn eine einzelfallbezogene Betrachtung der den in § 3 Abs. 1 Nr. 11 LVV NRW benannten Personen zugewiesenen Aufgaben eine solche rechtfertigt. Ist dies nicht der Fall, bleibt es bei dem Grundsatz, dass sich das auf die Stelle entfallende Lehrdeputat - abstrakt - nach § 3 Abs. 1 Nr. 10 LVV NRW bestimmt und mit 9 DS anzusetzen ist.
132. Erfolglos beanstanden die Antragsteller hingegen die Berücksichtigung der von Prof. Dr. I. und von Dr. T. erbrachten Titellehre.
14a) Die Antragsgegnerin hat die von Prof. Dr. I. und Dr. T. erbrachte Titellehre nicht kapazitätserhöhend berücksichtigt. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, wonach freiwillig und unentgeltlich übernommene Lehrtätigkeiten im Rahmen der Titellehre (auch) nicht als Lehrauftragsstunden im Sinne von § 10 Satz 1 KapVO anzurechnen sind.
15Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Oktober 2018 ‑ 13 C 67/18 -, juris, Rn. 20, vom 19. Oktober 2016 ‑ 13 C 41/16 -, juris, Rn. 33, vom 11. August 2015 ‑ 13 C 16/15 -, juris, Rn. 14, vom 27. Januar 2014 ‑ 13 A 1421/13 -, juris, Rn. 10 ff., und vom 25. Mai 2007 - 13 C 115/07 -, juris, Rn. 3 ff.
16Das Vorbringen der Antragsteller, das sich darauf beschränkt, unter Verweis auf nicht näher dargelegte Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg auszuführen, dass sie diese Rechtsprechung für unrichtig halten, sich aber nicht weiter mit der Senatsrechtsprechung und das vom Verwaltungsgericht angeführte Urteil der Kammer vom 2. Mai 2013 - 4 K 3699/11, 3733/11 u.a. -, juris, (Beschlussabdruck Bl. 9) auseinandersetzt, gibt keinen Anlass für eine abweichende Beurteilung.
17b) Anders als die Antragsteller meinen, ist die Höhe des in die Kapazitätsberechnung eingestellten Dienstleistungsexports nicht zu beanstanden, soweit er von Prof. Dr. I. und Dr. T. erbracht wird. Nach § 11 Abs. 1 KapVO sind Dienstleistungen einer Lehreinheit Lehrveranstaltungsstunden, die die Lehreinheit für nicht zugeordnete Studiengänge zu erbringen hat. Mit der Formulierung „zu erbringen hat“ stellt der Verordnungsgeber auf Dienstleistungspflichten ab. Hierbei handelt es sich regelmäßig um Lehrveranstaltungen, die nach der jeweiligen Studien- oder Prüfungsordnung des nicht zugeordneten Studiengangs für dessen erfolgreichen Abschluss erforderlich und die von der exportierenden Lehreinheit zu erbringen sind. Auf die Frage, welche konkreten Lehrpersonen die zu exportierenden Lehrleistungen erbringen, kommt es nicht an. Keinen Einfluss auf die Kapazitätsberechnung hat es deshalb, wenn Dienstleistungen von Lehrpersonen erbracht werden, deren Lehre als Titellehre nicht kapazitätserhöhend berücksichtigt wird.
18Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. September 2020 - 13 C 3/20 u.a -, juris, Rn. 15.
19Der Kapazitätsverordnung ist auch nicht zu entnehmen, dass es in einem Fall, in dem Dienstleistungen von Titellehrenden erbracht werden, aus Gründen der Bilanzierungssymmetrie geboten wäre, dem Lehrangebot die auf die Titellehre entfallenden DS zuzurechnen.
20Die von den Antragstellern aufgeworfene Frage, wieviel Titellehre auf Dienstleistungen entfällt, ist daher nicht entscheidungserheblich.
213. Ausgehend von 4 DS, die aus den Gründen zu 1. auf der Lehrangebotsseite zusätzlich zu berücksichtigen sind, berechnen sich ausgehend von den von den Antragstellern im Übrigen nicht in Frage gestellten Ausführungen des Verwaltungsgerichts bei einem Curriculareigenanteil von 1,84 (Beschlussabdruck Bl. 26) und einem Schwundfaktor von 1/0,97 (Beschlussabdruck Bl. 27) 344 Studienplätze, von denen die Antragsgegnerin nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts 340 vergeben hat (Beschlussabdruck Bl. 2).
22Diese vier Studienplätze sind aus Gründen effektiven Rechtschutzes unter den Antragstellern des vorliegenden Verfahrens zu verlosen. An der Anordnung einer Verlosung nur unter den Antragstellern dieses Verfahrens sieht der Senat sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht durch § 23 Abs. 6 Satz 4 StudienplatzVVO NRW (vgl. auch § 33 Satz 4 VergabeVO NRW n.F.) gehindert.
23Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. Mai 2020 - 13 C 66/19 -, juris, Rn. 27.
24Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
25Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2, 39 Abs. 1 GKG.
26Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Referenzen
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- ZPO § 294 Glaubhaftmachung 1x
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- § 8 KapVO 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 93 1x
- VwGO § 146 1x
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- § 3 Abs. 1 Nr. 10 und 11 LVV 1x (nicht zugeordnet)
- § 3 Abs. 3 Satz 1 LVV 1x (nicht zugeordnet)
- LBG § 64 1x
- § 3 Abs. 3 Satz 1 LVV 1x (nicht zugeordnet)
- § 9 Abs. 1 KapVO 1x (nicht zugeordnet)
- § 10 Satz 1 KapVO 1x (nicht zugeordnet)
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- § 23 Abs. 6 Satz 4 StudienplatzVVO 1x (nicht zugeordnet)
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