Urteil vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 14 A 3389/20.A
Tenor
Das angegriffene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Der am 00. T. 1990 geborene Kläger zu 1. und die am 0. K. 1994 geborene Klägerin zu 2. sind syrische Staatsangehörige, Kurden, Sunniten und miteinander verheiratet. Der Kläger zu 3. ist der am 00. P. 2015 in Deutschland geborene Sohn der Kläger zu 1. und 2.
3Der Kläger zu 1. verließ Syrien das erste Mal im Sommer 2012 in Richtung Türkei, kehrte dann nach Syrien zurück und reiste endgültig Ende 2013 oder Anfang 2014 in die Türkei aus. Dort lernte er die Klägerin zu 2. kennen und heiratete sie am 28. September 2014 in Istanbul. Sodann reisten sie über Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich am 1. August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 7. September 2016 einen Asylantrag.
4Mit Bescheid vom 1. Dezember 2016 wurden die Anträge der Kläger als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Bulgarien angeordnet. Mit Beschluss vom 7. März 2017 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage 21 K 11628/16.A gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Tenors des Bescheides des Bundesamtes vom 1. Dezember 2016 an. Mit Schreiben vom 6. März 2018 teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit, den Bescheid vom 1. Dezember 2016 aufzuheben.
5In seiner Anhörung durch das Bundesamt am 28. März 2018 erklärte der Kläger zu 1. auf die Frage nach seiner letzten offiziellen Anschrift im Heimatland: Damaskus, Stadtteil Ruknaldin. Er habe als Schneider gearbeitet und sein Geschäft ca. zehn Monate vor der Ausreise geschlossen. Wegen seiner Augen habe er sich vom Wehrdienst freigekauft. Mitglied der Armee oder einer nichtstaatlichen, bewaffneten Gruppierung sei nicht gewesen.
6Auf die Frage, aus welchen Gründen er Ende 2013 bzw. Anfang 2014 sein Heimatland verlassen habe, antwortete der Kläger zu 1., der Hauptgrund sei die Sache mit seinem Bruder gewesen. Seine Familie könnte von der Armee wegen der Fahnenflucht seines Bruders verfolgt werden. Als die Vorfälle in Syrien angefangen hätten, sei sein Bruder zum Wehrdienst einberufen worden und habe diesen im Raum Homs abgeleistet. Nach Ende seiner Wehrdienstzeit sei er nicht entlassen worden, sondern habeweiter als Reservist dienen müssen. Irgendwann sei er geflohen. Sein Vater habe dann gemeint, dass auch er - der Kläger zu 1. - ausreisen solle, damit er nicht eingezogen werde. Er sei dann in die Türkei gegangen und habe dort für ca. 1,5 Jahre mit seinen Cousins zusammengearbeitet. Nach einem kurzen Aufenthalt in Syrien sei er dann wieder in die Türkei gereist und habe sich dort eine gewisse Zeit aufgehalten und sich dann auf die Reise nach Deutschland gemacht. Er sei mehrfach zwischen der Türkei und Syrien hin- und hergereist.
7Auf die Frage nach seinem Hauptgrund für den Asylantrag gab der Kläger zu 1. an, sein Hauptgrund sei die Arbeit gewesen. Aufgrund der Lebensbedingungen, der allgemeinen Umstände und der fehlenden Arbeit habe er sich zur Ausreise entschlossen. Die Preise seien stark angestiegen. Zu 80 % sei die Ausreise wegen der Arbeit passiert, da er dort seine Tätigkeit nicht weiter habe ausüben können. Seine Familie habe dann Druck auf ihn ausgeübt. Er habe sich nicht in die dortigen Probleme verstricken und sich heraushalten wollen. Er habe sich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen wollen. Sein Bruder sei desertiert und habe Fahnenflucht begangen. In so einem Fall verfolgten die Sicherheitsbehörden dann die ganze Familie und er befürchtete, deswegen selbst zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Sein Bruder sei im Jahr 2012 desertiert, genauer könne er das aber nicht mehr sagen. Es seien aber keine konkreten Schritte unternommen worden, ihn zum Wehrdienst einzuberufen. Ihm persönlich sei vor der Ausreise aus Syrien nichts passiert.
8Auf die Frage, was er bei der Rückkehr nach Syrien befürchte, erklärte der Kläger zu 1.: Dort müsse er von null anfangen. Er habe dort nichts mehr. Dann wäre da auch noch die Sache mit den Wehrdienst, von dem er bedroht sei. Die Lage dort sei nicht ruhig, es gäbe z.B. die Freie Syrische Armee (FSA) oder andere Gruppierungen, was sich auch negativ auf seine Arbeit und das Leben auswirke.
9Auf die Bitte, seine Aussage zur erklären, Syrien zu 80 % aufgrund der Arbeitssituation verlassen zu haben, gab der Kläger zu 1. an: Der Umsatz sei stark eingebrochen. Früher habe man ungefähr 2500 syrische Lira täglich bekommen und später diese Summe nicht einmal pro Woche.
10Die Frage, ob er ansonsten Probleme mit Behörden oder der Polizei gehabt habe, verneinte der Kläger zu 1.
11In der Anhörung legte der Kläger zu 1. sein Militärbuch vor, in dem vermerkt ist, dass er am 21.06.2009 vom Wehrdienst befreit worden ist.
12Auf die Frage, welche persönlichen Umstände konkret zu ihrer Ausreise aus Syrien geführt hätten, antwortete die Klägerin zu 2.: Sie hätten Angst vor dem Krieg und vor den Raketen in Syrien gehabt. Die Lage in Syrien sei sehr schlecht gewesen, sie hätten dort in Armut gelebt. Zu dieser Zeit habe es in Syrien Demonstrationen gegeben, es sei geschossen worden und es habe Explosion gegeben. Dies seien die Hauptgründe für ihre Ausreise gewesen.
13Auf die Frage, was ihr persönlich vor der Ausreise aus Syrien passiert sei, gab die Klägerin zu 2. an, ihr persönlich sei Gott sei Dank nichts passiert, aber den Nachbarn sei etwas widerfahren, manche seien verletzt worden. Sie hätten Angst um ihre Sicherheit gehabt. Sie hätten befürchtet, dass die Situation noch schlechter werde, deswegen seien sie ausgereist. Der Hauptgrund für ihre Ausreise sei gewesen, dass die Lage dort sehr gefährlich gewesen sei und es dort auch keine Sicherheit gegeben habe. Als sie in die Türkei eingereist seien, dachte sie, dass es nur eine vorübergehende Situation sei, bis sich die Lage in Syrien beruhigt habe. Die Lage in Syrien sei allerdings immer heikler und brisanter geworden. Sie seien dann in der Türkei geblieben und irgendwann hätten sie sich entschieden, weiter nach Deutschland zu reisen. Sie hätten die Türkei verlassen, da dort die Situation schlecht gewesen sei.
14Die Frage, ob sie Probleme mit Behörden oder Polizei gehabt habe, verneinte die Klägerin zu 2.
15Mit Bescheid vom 25. Mai 2018 erkannte das Bundesamt den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte aber unter Nr. 2 des Bescheides die Asylanträge im Übrigen ab.
16Die Kläger haben am 30. Mai 2018 Klage erhoben und zur Begründung auf das Vorbringen im Asylverfahren verwiesen.
17Die Kläger haben schriftsätzlich beantragt,
18Die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides vom 25. Mai 2018 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
19Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 18. November 2020, der Beklagten zugestellt am 20. November 2020, die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheids vom 25. Mai 2018 verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, den Klägern drohe aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung, des Aufenthalts im westlichen Ausland, wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit und unter dem Aspekt der Sippenhaft sowie hinsichtlich des Klägers zu 1. wegen der Entziehung vom Wehrdienst und hinsichtlich der Klägerin zu 2. wegen der Herkunft aus Harasta/Ost-Ghouta im Falle der Rückkehr eine politische Verfolgung.
22Die Beklagte hat am 27. November 2020 beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen. Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 8. November 2021 zugelassen. Die Beklagte hat die Berufung am 11. November 2021 begründet.
23Die Beklagte trägt vor, zurückkehrenden syrischen Asylbewerbern drohe nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil sie sich im Ausland aufgehalten und dort einen Asylantrag gestellt hätten. Männer, die sich durch Ausreise ins Ausland dem Militärdienst entzogen hätten, würden im Falle der unterstellten Rückkehr nicht durch den syrischen Staat politisch verfolgt. Auch der Umstand der Herkunft aus einem früher von Rebellen beherrschten Gebiet (hier Harasta/Ost-Ghouta) begründe keine flüchtlingsrelevante Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Des Weiteren würden Kurden als solche wegen ihrer Volkszugehörigkeit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit vom syrischen Staat politisch verfolgt. Auch fände eine Sippenverfolgung aufgrund Wehrdienstentziehung durch nahe Verwandte nicht statt.
24Die Beklagte beantragt,
25die Klage unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts abzuweisen.
26Die Kläger beantragen,
27die Berufung zurückzuweisen.
28Der Kläger zu 1. ist in der mündlichen Verhandlung vom 23. August 2022 ergänzend befragt worden. Wegen des Ergebnisses wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
29Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamts Bezug genommen.
30E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
31Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die zulässige Klage ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Bescheid des Bundesamts vom 25. Mai 2018 ist rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
32Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründen) außerhalb des Landes (Herkunftslands) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
33Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG kann als eine solche Verfolgung insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten. Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind u.a. gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.
34Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt.
35Vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 13, und vom 19. Januar 2009 ‑ 10 C 52.07 ‑, BVerwGE 133, 55 (60 f.), Rdnr. 22, 24.
36Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
37Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.
38Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337/9) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
39Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.
40Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, nicht durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften.
41Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (164), Rdnr. 16.
42Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
43Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 (163), Rdnr. 15.
44Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Furcht der Kläger vor politischer Verfolgung unbegründet.
45Der Kläger zu 1. hat nicht vorverfolgt das Land verlassen. Auch in der Annahme, dass der Bruder des Klägers zu 1. in Syrien vom Militärdienst desertiert ist, ist der Kläger zu 1. vor seiner Ausreise weder deswegen politisch verfolgt worden noch stand eine solche Verfolgung unmittelbar bevor. Er hat bei seiner Anhörung durch das Bundesamt angegeben, ihm sei vor der Ausreise aus Syrien nichts passiert, seine Familie könnte - lediglich hypothetisch - von der Armee wegen der Fahnenflucht des Bruders verfolgt werden. Konkrete (drohende) Verfolgungshandlungen vor seiner Ausreise hat der Kläger zu 1. indes nicht - auch nicht in der mündlichen Verhandlung - geschildert. Ausdrücklich hat er dort erklärt, dass ihm in Syrien vor seiner Ausreise nichts passiert sei.
46Dem Kläger zu 1. drohte in Syrien auch keine Einziehung zum Militärdienst in der syrischen Armee. Er hat in seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgetragen, sich erfolgreich wegen eines Augenleidens (Kurzsichtigkeit) vom Wehrdienst freigekauft zu haben. Dies ist so auch in seinem Militärbuch vermerkt. Der Kläger zu 1. sagt selbst aus, dass konkrete Schritte, ihn zum Wehrdienst einzuberufen, in Syrien nicht unternommen worden seien. Dies entspricht auch der Erkenntnislage. Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel aus medizinischen Gründen Untaugliche, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Es bestehen danach keine Anhaltspunkte, dass eine Ausnahme von der Wehrdienstpflicht - wie hier beim Kläger zu 1. - von der syrischen Armee bei der Einberufungspraxis generell nicht beachtet wird.
47Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien aus dem COI-CMS, Version 5 vom 24.01.2022, S. 67.
48Dass sich der Kläger zu 1. nach seinen Angaben gleichwohl „freikaufen“ musste, steht in keinem Widerspruch hierzu. Gerade auch bei medizinischer Untauglichkeit kann es zur Zahlung von Bestechungsgeldern kommen.
49Vgl. The Danish Immigration Service (DIS), Syria Military Service, Mai 2020, S. 21.
50Abgesehen davon wäre die Heranziehung zum Militärdienst in der syrischen Armee keine für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevante Verfolgung gewesen. Die Heranziehung zum Militärdienst ist für sich genommen flüchtlingsrechtlich nicht relevant, sondern nur dann, wenn sie auf ein flüchtlingsrechtsrelevantes Merkmal zielt, also auf die Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Dies war und ist bei der Rekrutierung durch die syrische Armee nicht der Fall. Vielmehr rekrutierte und rekrutiert die syrische Armee unter allen ethnischen und religiösen Gruppen.
51Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 53 f. m.w.N.
52Die Heranziehung zum Militärdienst zielte und zielt auch nicht auf eine (unterstellte) politische Überzeugung der Rekruten ab, etwa um (vermutete) Oppositionelle zu disziplinieren, sondern diente und dient allein der Auffüllung der durch Todesfälle, Desertion und Überläufer, zuletzt auch durch die notwendige Entlassung älterer Jahrgänge stark dezimierten syrischen Armee.
53Vgl. hierzu OVG NRW, Urteile vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 44 f., und vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris, Rdnr. 50 f. und 60 f., jeweils m.w.N.
54Die Klägerin zu 2. schilderte bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt ebenfalls keine asylrechtlich erhebliche Vorverfolgung in Syrien. Ihre Familie - damals war sie mit dem Kläger zu 1. noch nicht zusammen - hatte sich vielmehr wegen des Bürgerkriegs und der schlechten wirtschaftlichen Lage zur Ausreise entschlossen; ihr persönlich ist vor der Ausreise nichts passiert.
55Den Klägern drohte keine Verfolgung durch den syrischen Staat aufgrund ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit. Kurden werden vom syrischen Staat nicht wegen ihrer Volkszugehörigkeit verfolgt.
56Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2018 - 14 A 618/18.A -, juris, Rdnr. 30 f. m.w.N.
57Den Klägern droht auch bei einer (unterstellten) Rückkehr nach Syrien zum jetzigen Zeitpunkt keine Verfolgung durch den syrischen Staat. Insbesondere droht dem Kläger zu 1. eine Verfolgung durch den syrischen Staat nicht deswegen, weil er sich durch seine Flucht ins Ausland einem (drohenden) Militärdienst in der syrischen Armee entzogen hätte. Der Kläger zu 1. ist ausweislich seines Militärbuchs bereits vor seiner Ausreise offiziell vom Militärdienst befreit gewesen, so dass ihm eine Wehrdienstentziehung nicht zur Last gelegt werden wird. Dass diese Befreiung in der Vergangenheit auch beachtet wurde, wird durch den Umstand belegt, dass er im Besitz seines Reisepasses gewesen ist und legal 2012/2013 in die Türkei aus- und auch wieder nach Syrien einreisen konnte. Hingegen dürfen ungediente Wehrpflichtige das Land nicht verlassen und ihnen wird regelmäßig der Reisepass abgenommen.
58Vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 15.
59Der Kläger zu 1. hat bei einer (unterstellten) Rückkehr nach Syrien ferner nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch das syrische Regime wegen der Desertion seines Bruders zu befürchten. Auch nach einer Desertion des Bruders ist der Kläger zu 1. nach seinen eigenen Angaben durch syrische Sicherheitskräfte vor seiner Ausreise weder befragt noch drangsaliert worden. Erst nach seiner Ausreise sollen vor vier Jahren syrische Sicherheitskräfte den Vater des Klägers zu 1. aufgesucht und sich nach dem Aufenthaltsort des Bruders erkundigt haben. Weitere Konsequenzen für die Familie des Klägers zu 1. hatte dies nicht. Warum hingegen bei einer (unterstellten) Rückkehr der Kläger zu 1. wegen der Desertion seines Bruders vom syrischen Regime jetzt verfolgt werden sollte, ist mit dieser Vorgeschichte nicht nachvollziehbar und deckt sich im Übrigen auch nicht mit der Auskunftslage zur Situation von Familienangehörigen von Deserteuren.
60Zahlreiche Quellen gehen schon davon aus, dass Familienmitgliedern von Deserteuren oder Überläufern hieraus keine Konsequenzen drohen. Die Einstellung des syrischen Regimes gegenüber Familienangehörigen hat sich offensichtlich - schon aus Kapazitätsgründen der syrischen Regierung bei der Verfolgung der großen Anzahl der davon eventuell Betroffenen - während des Bürgerkriegs gewandelt. (Nur) zu Beginn des Konflikts hatten Familienangehörige wohl regelmäßig mit Konsequenzen zu rechnen.
61Vgl. EASO, Syria Military service, Country of Origin Information Report, April 2021, S. 38; DIS, Syria Military Service, Mai 2020, S. 37.
62Anderen Erkenntnismitteln ist zwar auch zu entnehmen, dass die syrische Armee die Familie eines Deserteurs über den Betroffenen befragen kann. Familienangehörige können danach Repressalien wie Hausdurchsuchungen, Befragungen, Bedrohungen, Erpressungen erfahren, um den Aufenthaltsort des Betroffenen herauszubekommen oder diesen so unter Druck zu setzen, dass er sich stellt.
63Vgl. DIS, Syria Military Service, Mai 2020, S. 37; AA, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2021), S. 15; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. Fassung März 2021, S. 137.
64Allein mit der Zielrichtung, den Deserteur ausfindig zu machen und letztendlich festnehmen zu können, stellt sich eine möglicherweise gewaltsame Fahndung nach Deserteuren und Überläufern als eine Verfolgungshandlung dar, der bei Familienangehörigen die notwendige Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei eben diesen fehlt.
65Es kann zwar in diesem Zusammenhang auch zu Inhaftierungen von Familienangehörigen kommen. Allerdings wird hiervon nur im Zusammenhang mit hochrangigen Deserteuren berichtet, die z.B. Armeemitglieder getötet oder an Operationen gegen die Armee teilgenommen haben.
66Vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien aus dem COI-CMS, Version 5 vom 24.01.2022, S. 74.
67Gefahrerhöhend können sich daneben auch die Herkunft der Familie aus einem von der Opposition kontrollierten Gebiet oder der politische und religiöse Hintergrund der Familie auswirken.
68Vgl. DIS, Syria Military Service, Mai 2020, S. 38.
69Solche gefahrerhöhenden Umstände hat der Kläger zu 1. aber weder vorgetragen noch sind solche sonst ersichtlich.
70Es kann dann zwar sein, dass die Gefahr besteht, dass Familienangehörige des Deserteurs zur Armee rekrutiert werden, um diesen an der Front zu ersetzen. Eine Einziehung als „Ersatzmann“ zum Militärdienst stellt indes keine politische Verfolgung dar, weil sie nicht an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal beim Betroffenen anknüpft. Der Umstand, dass Familienangehörige eines Deserteurs zum Militärdienst eingezogen werden, zeigt vielmehr, dass das syrische Regime ihnen keine oppositionelle Grundeinstellung generell unterstellt.
71Den Klägern droht ferner bei einer Rückkehr nach Syrien nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat, weil sie Syrien illegal verlassen haben, in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben und sich seit 2015 hier aufhalten. Der Senat hat die tatsächliche Situation in Syrien dahin bewertet, dass aus dem Ausland rückkehrenden Asylbewerbern, auch wenn sie Syrien illegal verlassen haben, keine politische Verfolgung droht wegen einer ihnen zugeschriebenen regimefeindlichen Gesinnung.
72Vgl. zu den Gründen im Einzelnen OVG NRW, Urteile vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris, Rdnr. 41 ff., vom 13. März 2020 - 14 A 2778/17.A -, juris, Rdnr. 33 ff., vom 18. April 2019 - 14 A 2608/18.A -, juris, Rdnr. 41 ff., vom 7. Februar 2018 - 14 A 2390/16.A -, juris, Rdnr. 34 ff., vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -, juris, Rdnr. 30 ff., und vom 21. Februar 2017 - 14 A 2316/16.A -, juris, Rdnr. 28 ff.
73Daran hält der Senat fest.
74Politische Verfolgung aus diesen Gründen ebenso verneinend OVG S.-A., Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 -, juris, Rdnr. 57; OVG Berlin-Bbg., Urteile vom 28. Mai 2021 - OVG 3 B 42.18 -, juris, Rdnr. 34 ff., vom 12. Februar 2019 - OVG 3 B 27.17 -, juris, Rdnr. 17 ff., und vom 22. November 2017 - 3 B 12.17 -, juris, Rdnr. 27 ff.; OVG M.-V., Urteil vom 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 -, juris, Rdnr. 40 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 -, juris, Rdnr. 42 ff.; Bay. VGH, Urteile vom 21. September 2020 - 21 B 19.32725 -, juris, Rdnr. 23 ff., und vom 9. Mai 2019 - 20 B 19.30534 -, juris, Rdnr. 31 ff.; Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2020 - 8 A 780/17.A -, juris, Rdnr. 24 f., und Urteil vom 25. September 2019 - 8 A 638/17.A -, juris, Rdnr. 60 ff.; Schl.-H. OVG, Urteile vom 19. Juni 2019 - 5 LB 24/19 -, juris, Rdnr. 32 f., und vom 4. Mai 2018 - 2 LB 17/18 -, juris, Rdnr. 35 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 20. Februar 2019 - 2 LB 152/18 -, juris, Rdnr. 29 ff.; Sächs. OVG, Urteile vom 6. Februar 2019 - 5 A 1066/17.A -, juris, Rdnr. 24 ff., und vom 7. Februar 2018 - 5 A 1245/17.A -, juris, Rdnr. 21 ff.; OVG Saarl., Urteile vom 14. November 2018 - 1 A 609/17 -, juris, Rdnr. 36 ff., und vom 2. Februar 2017 - 2 A 515/16 -, juris, Rdnr. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rdnr. 18 ff.; OVG Rh.-Pf., Urteile vom 20. September 2018 - 1 A 10215/17.OVG -, juris, S. 11 f., und vom 16. Dezember 2016 - 1 A 10922/16 -, juris, Rdnr. 55 ff.; Thür. OVG, Urteil vom 15. Juni 2018 - 3 KO 155/18 -, juris, Rdnr. 60 ff.; Hamb. OVG, Urteil vom 11. Januar 2018 - 1 Bf 81/17.A -, juris, Rdnr. 62 ff.
75Das angefochtene Urteil und das klägerische Vorbringen geben keine Veranlassung zu einer veränderten Bewertung. Neuere Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass die Situation von Rückkehrern aus Europa anders zu beurteilen wäre, liegen nicht vor.
76Den Klägern - insbesondere der Klägerin zu 2. - drohen auch nicht deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat, weil sie aus Ost-Ghouta und damit einem ehemals von der Opposition beherrschten Gebiet stammen. Diese Eigenschaft teilt die Klägerin zu 2. mit einer unüberschaubaren Zahl anderer Bürgerkriegsopfer aus den - früher - großen, von Rebellen beherrschten Gebieten. Erkenntnisse für eine politische Verfolgung - ggf. im Wege der Sippenverfolgung - dieser Gruppe ohne individuelle verfolgungsbegründende Umstände liegen nicht vor.
77Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. März 2022 - 14 A 942/21.A -.
78Solche individuellen Umstände haben die Kläger nicht vorgetragen.
79Mangels drohender politischer Verfolgung der Kläger zu 1. und 2. fehlt es somit auch an einem Anknüpfungspunkt für eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung des Klägers zu 3. im Wege der Sippenverfolgung.
80Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.
81Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
82Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
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- VwGO § 113 1x
- VwGO § 167 1x
- 5 LB 24/19 1x (nicht zugeordnet)
- 14 A 2608/18 1x (nicht zugeordnet)
- 2 LB 147/18 1x (nicht zugeordnet)
- § 83b AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 14 A 2316/16 1x (nicht zugeordnet)
- Urteil vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (1. Senat) - 1 A 10922/16 1x
- 14 A 2390/16 1x (nicht zugeordnet)
- 3 KO 155/18 1x (nicht zugeordnet)
- 14 A 2023/16 3x (nicht zugeordnet)
- 1 A 10215/17 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung 1x
- 8 A 780/17 1x (nicht zugeordnet)
- 5 A 1066/17 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 711 Abwendungsbefugnis 1x
- 5 A 1245/17 1x (nicht zugeordnet)
- § 3 Abs. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 3 L 154/18 1x (nicht zugeordnet)
- § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- 2 LB 152/18 1x (nicht zugeordnet)
- 8 A 638/17 1x (nicht zugeordnet)
- 1 A 609/17 1x (nicht zugeordnet)
- 14 A 2778/17 1x (nicht zugeordnet)