Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 4 B 654/22
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Minden vom 12.5.2022 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Die Beschwerde der Antragstellerin ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den sinngemäßen Antrag,
2dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, keine Strafanzeige gegen die Antragstellerin wegen unerlaubter Veranstaltung eines Glücksspiels i. S. d. § 284 StGB zu erstatten,
3im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, der für den Erlass der begehrten Sicherungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht. Ein öffentlich-rechtlicher Anspruch der Antragstellerin gegen den Antragsgegner, durch die Bezirksregierung keine Strafanzeige gegen sie wegen – behaupteter – unerlaubter Veranstaltung eines Glücksspiels zu erstatten, könne in Ermangelung anderer hier einschlägiger spezialgesetzlicher Rechtsgrundlagen nur aus dem allgemeinen, gewohnheitsrechtlich anerkannten öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch herrühren. Der Unterlassungsanspruch leite sich insoweit aus der Grundrechtsposition des Betroffenen ab und schütze vor rechtswidrigen Beeinträchtigungen jeder Art, auch vor solchen durch schlichtes Verwaltungshandeln. Eine rechtswidrige Beeinträchtigung von Grundrechten der Antragstellerin sei allein durch das mögliche Stellen einer Strafanzeige seitens der Bezirksregierung jedoch ohne Hinzutreten weiterer Umstände so nicht denkbar. Bedingt durch den Grundsatz der Rechtsbindung der Verwaltung gälten die Erfordernisse der Objektivität und Wahrheit im Fall einer Anzeigeerstattung durch die öffentliche Verwaltung für diese in besonderem Maße. Die Antragstellerin sei zudem durch die bereits aufgeführte Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Objektivität sowie durch ihre Beteiligungsrechte im Ermittlungsverfahren in den §§ 161 ff. StPO, insbesondere in § 163a Abs. 1 Satz 1 StPO, in ausreichendem Maße geschützt. Allein wenn zu befürchten wäre, dass sich die Bezirksregierung bewusst über ihre soeben dargestellten Verpflichtungen hinwegsetzte und die Antragstellerin in bloßer Schädigungsabsicht mit einer Strafanzeige zu überziehen beabsichtigte, könnte möglicherweise anderes gelten. Hierfür sei jedoch nicht das Geringste ersichtlich. Im Gegenteil habe die Bezirksregierung im Rahmen ihrer Antragserwiderung vom 7.4.2022 hinreichend deutlich erklärt, dass sie nicht beabsichtige, eine Strafanzeige zu erstatten. Sie habe auch in der Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt etwas anderes zu erkennen gegeben. Im Übrigen gehe die Bezirksregierung davon aus, dass nicht sie, sondern die für die betreffende Wettvermittlungsstelle örtlich zuständige Ordnungsbehörde für aufsichtsrechtliche Maßnahmen zuständig sei. Dies verstehe die Kammer so, dass die Bezirksregierung hiervon auch die Weiterleitung etwaiger Sachverhalte an die Strafverfolgungsbehörden umfasst sehe. Hieraus folge zugleich, dass auch ein Anordnungsgrund nicht gegeben sei.
4Diese Würdigung wird durch das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, nicht erschüttert. Die Beschwerdebegründung stellt schon die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht in Frage, ein Anordnungsgrund sei bereits deshalb nicht gegeben, weil die Bezirksregierung hinreichend deutlich erklärt habe, dass sie nicht beabsichtige, eine Strafanzeige zu erstatten. Auf diese Argumentation wird in dem ausführlichen Beschwerdebegründungsschriftsatz nicht eingegangen.
5Ungeachtet dessen fehlt es an einem Anordnungsanspruch, weil die Erstattung einer Strafanzeige durch die Bezirksregierung, soweit sie sich künftig hierzu etwa durch die hartnäckige Fortführung des Betriebs des streitgegenständlichen Wettbüros ohne Erlaubnis veranlasst sehen sollte, unter den Voraussetzungen nicht zu beanstanden wäre, die der Senat in seinem ebenfalls gegenüber der Antragstellerin ergangenen Beschluss vom 30.6.2022,
6‒ 4 B 1864/21 ‒, juris,
7näher ausgeführt hat.
8Insbesondere hat der Senat in diesem Beschluss ausgeführt,
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unter welchen Voraussetzungen die Erstattung einer Strafanzeige verhältnismäßig wäre und in welchen Ausnahmekonstellationen eine aktive Duldung mit das Strafunrecht nach § 284 StGB ausschließender Wirkung in Betracht komme,
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dass die von der Antragstellerin in Frage gestellte Abstandsregelung des § 13 Abs. 13 Satz 2, Abs. 15 Satz 2 AG GlüStV NRW für Wettvermittlungsstellen insbesondere auch mit Blick auf die für Bestandsspielhallen geltende Übergangsreglung in § 18 Abs. 1 AG GlüStV NRW eine kohärente und mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbare Regelung darstelle,
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und dass sich weder aus der gegenüber der Luftlinienentfernung längeren Fußwegentfernung noch aus dem fehlenden Sichtkontakt zwischen Wettvermittlungsstelle und Schulgebäude, einem besonders großen Schulgrundstück oder aber aus dem baurechtlich erlaubten Bestand der Wettvermittlungsstelle Anhaltspunkte dafür ergeben würden, dass unter Berücksichtigung der örtlichen Lage der Wettvermittlungsstelle vom Mindestabstandserfordernis abgewichen werden müsse.
Auch die weitere Argumentation der Antragstellerin in diesem Verfahren einschließlich der aufgezeigten Umstände des Einzelfalls begründen keinen Anordnungsanspruch mit dem Inhalt, eine etwaige künftige Strafanzeige der Bezirksregierung abwehren zu können.
14Inwieweit die Qualität der Wettvermittlungsstelle, die vornehmlich für ihre Besucher von Bedeutung ist, eine zwingende Abweichung von dem zum Kinder- und Jugendschutz einzuhaltenden Mindestabstand zu benachbarten Einrichtungen gebieten sollte, legt die Antragstellerin selbst nicht dar.
15Die Antragstellerin dringt auch nicht damit durch, dass die Grundschule keine nach § 13 Abs. 13 Satz 2 AG GlüStV NRW zu berücksichtigende Schule sei.
16Die zentralörtlich in einem Luftlinienabstand von 90 m zur im Streit stehenden Wettvermittlungsstelle gelegene Grundschule am X. (T.----straße 00 in 00000 C. ) ist eine öffentliche Schule im Sinne des § 13 Abs. 13 Satz 2 AG GlüStV NRW. Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne dieser Vorschrift sind entsprechend dem Regelungszweck Einrichtungen, die regelmäßig von Kindern und Jugendlichen aufgesucht werden. Hierunter fallen insbesondere Schulen, die nicht ausschließlich der Erwachsenenbildung dienen, unabhängig von der jeweiligen Trägerschaft.
17Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.6.2022 – 4 B 1864/21 –, juris, Rn. 114 f., unter Hinweis auf das Urteil des Senats vom 10.3.2021 – 4 A 3178/19 –, juris, Rn. 110; siehe auch Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, Erlass vom 14.9.2021 – 13-38.07.03-2 –, S. 15.
18Es besteht kein Anlass, mit Blick auf Sinn und Zweck der Abstandsregelung zu öffentlichen Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe die Grundschule aufgrund ihrer besonderen Schülerstruktur vom Anwendungsbereich auszunehmen. Die Abstandsregelung bezweckt nicht ausschließlich, konkrete Gefährdungen durch den Konsum von Glücksspielen zu vermeiden. Sie soll auch helfen, einen Gewöhnungseffekt bei Kindern und Jugendlichen zu verhindern.
19Vgl. LT-Drs. 17/6611, S. 36.
20Ohne Erfolg macht die Antragstellerin insoweit mit Blick auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 24.10.2018,
21‒ 2 K 49/18.KO ‒, juris, Rn. 20,
22und den Abschlussbericht aus dem Jahr 2014 zur Studie „Konsum von Glücksspielen bei Kindern und Jugendlichen: Verbreitung und Prävention“ geltend, die zu schützende Einrichtung müsse sich dadurch auszeichnen, dass sich in ihr tatsächlich Mitglieder der durch das Glücksspiel besonders gefährdeten und deshalb durch den Glücksspielstaatsvertrag 2021 besonders geschützten Zielgruppe von Kindern und Jugendlichen aufhielten. Die damalige vom VG Koblenz angewandte Norm des Landesrechts in Rheinland-Pfalz (§ 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 LGlüG a. F.) hatte im Sinne einer Gefährdungsabwehr ausschließlich öffentliche oder private Einrichtungen, die überwiegend von Minderjähren besucht werden, in den Blick genommen. § 13 Abs. 13 AG GlüStV NRW bezieht hingegen öffentliche Schulen (in ihrer Gesamtheit) zur Vermeidung des Gewöhnungseffekts in den Schutzbereich ein. Die Gefahr eines derartigen Effekts wird von der seitens der Antragstellerin benannten Studie bestätigt. Dort wird im Zusammenhang mit der glücksspielbezogenen Werbung ausgeführt:
23„Zwar ist die reine Bekanntheit eines Produkts noch kein hinreichender Indikator für die reale Nutzung desselben, jedoch zeigen Studien zum sog. Mere Exposure Effect (also der häufigen und wiederholten Darbietung ein und desselben Objekts), dass allein die Vertrautheit, die sich durch häufige Konfrontation mit einem Objekt aufbaut, zu einer positiveren Bewertung desselben führt“ (S. 134 der Studie).
24In diesem Zusammenhang greifen auch die Einwände der Antragstellerin nicht durch, es seien keine Erkenntnisse über negative Auswirkungen auf Besucher der Grundschule vorhanden und in der Praxis erreichten die Schüler die Grundschule auch gar nicht selbständig. Abgesehen davon, inwieweit diese Darstellung die tatsächlichen Umstände, auch mit Blick auf den erwähnten Schutzzweck der Regelung, nach dem auch Gewöhnungseffekte vermieden werden sollen, zutreffend wiedergibt, gehört die Kenntnis der eigenen Lebenssituation auch im Umfeld von Wohnort und Schule jedenfalls zur Kompetenzerwartung am Ende des Besuchs der Grundschule.
25Vgl. Lehrpläne für die Primarstufe in Nordrhein-Westfalen, RdErl. d. Ministeriums für Schule und Bildung vom 1.7.2021, S. 190 (Räume nutzen und schützen), https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_PS/ps_lp_sammelband_2021_08_02.pdf.
26Ungeachtet dessen ändert selbst eine Begleitung von Schulkindern auf dem Weg zur Grundschule nichts an der Gefahr eines Gewöhnungseffekts durch eine in der Nähe der Schule befindliche Wettvermittlungsstelle.
27Schließlich lässt sich ein Anspruch auf eine Abweichung nicht mit dem Argument begründen, die Bezirksregierung habe die Antragstellerin ermessensfehlerhaft auf anderweitige Standorte für Wettvermittlungsstellen verwiesen. Selbst wenn anderweitige Standorte ‒ wovon schon nicht auszugehen ist ‒ nicht zur Verfügung stünden, änderte dies nichts an der glücksspielrechtlichen Unzulässigkeit der Wettvermittlung am jetzigen Standort. Auch die zentralörtliche Lage der Wettvermittlungsstelle und ihre bauplanungsrechtliche Zulässigkeit können nicht ansatzweise die Grundlage für einen Anspruch auf Abweichung vom Mindestabstandserfordernis bieten.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
29Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 und 52 Abs. 2 GKG und entspricht in ihrer Höhe der nicht beanstandeten Festsetzung des Verwaltungsgerichts für den ersten Rechtszug.
30Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Referenzen
- § 13 Abs. 13 Satz 2 AG 1x (nicht zugeordnet)
- 4 A 3178/19 1x (nicht zugeordnet)
- 4 B 1864/21 2x (nicht zugeordnet)
- § 18 Abs. 1 AG 1x (nicht zugeordnet)
- StPO § 163a Vernehmung des Beschuldigten 1x
- StGB § 284 Unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels 2x
- §§ 161 ff. StPO 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- VwGO § 123 1x
- VwGO § 146 1x
- § 13 Abs. 13 AG 1x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 LGlüG 1x (nicht zugeordnet)
- 2 K 49/18 1x (nicht zugeordnet)