Urteil vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (1. Senat) - 1 A 10531/10

Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 1. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen und des Vertreters des Öffentlichen Interesses, die diese jeweils selbst tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren vom Beklagten eine weitere bauaufsichtliche Verfügung, mit der die Beigeladenen zur (vollständigen) Beseitigung eines grenzständig errichteten Abstellraums verpflichtet werden.

2

Die Kläger sind Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks „In den O... .“ in ... W... (Gemarkung W..., Flur ., Flurstück-Nr. …). Hieran grenzt in westlicher Richtung das Grundstück der Beigeladenen (In den O... ., Flurstück-Nr. …). Dabei verläuft die gemeinsame Grundstücksgrenze von Norden nach Süden nicht in einer Linie, sondern nimmt im südlichen Bereich aus Sicht des Grundstücks der Kläger einen südwestlichen Verlauf. Auf dem Grundstück der Beigeladenen befindet sich ebenfalls ein Wohnhaus, an welches bis zur westlichen Grundstücksgrenze eine Garage und bis zur östlichen Grundstücksgrenze eine Doppelgarage angebaut ist. Dabei beträgt die Länge der westlichen Garage einschließlich der Dachüberstände 7,64 m, die der östlichen Doppelgarage 7,32 m. Beide Grundstücke liegen im räumlichen Geltungsbereich des Bebauungsplans „L... F…..“ vom 08.04.2005, der ein allgemeines Wohngebiet festsetzt.

3

Zur Veranschaulichung der örtlichen Verhältnisse mag der nachfolgende Katasterausschnitt dienen:

Abbildung

4

Im Rahmen einer Ortsbesichtigung im Jahr 2007 stellte der Beklagte fest, dass die Beigeladenen nördlich der Doppelgarage einen etwa 2 m x 4 m großen Abstellraum in Holzbauweise errichtet hatten, der bis zur gemeinsamen Grenze mit dem Grundstück der Kläger reichte. Nachdem der Beklagte die Beigeladenen darüber informiert hatte, dass auf Grund des Abstellraumes die höchstzulässige Gesamtlänge der Grenzbebauung nach § 8 Abs. 9 LBauO von 18 m überschritten sei, bauten die Beigeladenen den Abstellraum schließlich auf 1,30 m zurück. Dabei blieb die grenzständige Außenwand des Abstellraums zunächst vollständig vorhanden. Nach Aufforderung des Beklagten reduzierten die Beigeladenen die Höhe der verbliebenen Holzwand.

5

Den mit Schreiben vom 19. und 26.06.2008 gestellten Antrag der Kläger auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen den gesamten Holzschuppen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 16.07.2008 ab. Hiergegen erhoben die Kläger mit Schreiben vom 25.07.2008 Widerspruch, mit dem sie geltend machten, der vom Beigeladenen vorgenommene Rückbau sei nicht ausreichend. Auf Grund des Zuschnitts des Nachbargrundstücks überschritten die maßgeblichen Längsmaße der grenzständig errichteten Gebäude die gesetzlich erlaubten Ausmaße. In die Berechnung sei nämlich die Länge der Stirnseite der Doppelgarage mit 3 m einzubeziehen. Der grenzständig errichtete Holzschuppen müsse daher vollständig entfernt werden.

6

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2009 wies der Kreisrechtsausschuss des Beklagten den Widerspruch des Klägers zurück. Die höchstzulässige Länge aller abstandsflächenrechtlich privilegierten Gebäude an allen Grundstücksgrenzen von 18 m im Sinne des § 8 Abs. 9 LBauO werde eingehalten. Die Länge der Stirnseite der Doppelgarage sei entgegen der Ansicht der Kläger bei der abstandflächenrechtlichen Berechnung nach § 8 Abs. 9 LBauO nur mit 1,70 m zu berücksichtigten. Nur auf dieser Länge unterschreite die Doppelgarage eine Abstandsfläche von 3 m zur gemeinsamen Grenze mit dem Grundstück der Kläger. Dies ergebe sich daraus, dass entgegen der Auffassung der Kläger die Abstandsflächen gemäß § 8 Abs. 4 Satz 1, 2. HS LBauO senkrecht zur Wand und nicht zur Grundstücksgrenze zu messen seien.

7

Am 22.07.2009 haben die Kläger Klage erhoben, auf die das Verwaltungsgericht nach Durchführung eines Ortstermins den Beklagten mit Urteil vom 01.12.2009 verpflichtet hat, unter Abänderung der angegriffenen Bescheide gegenüber den Beigeladenen eine Verfügung des Inhalts zu erlassen, dass die nach Rückbau grenzständig zum Grundstück der Kläger verbliebene Holzwand in der Höhe um 9 cm zu reduzieren ist und hat im Übrigen die Klage abgewiesen.

8

Der Senat hat auf Antrag der Kläger die Berufung mit Beschluss vom 12.04.2010 gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugelassen.

9

Die Kläger tragen zur Begründung ihrer Berufung vor:

10

Streitentscheidend sei zunächst die Rechtsfrage, ob das Abstandsflächenrecht dem Nachbarn einen grundsätzlichen Anspruch auf Freihaltung eines 3 m breiten Streifens entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze zugestehe. Diesbezüglich bleibe es bei der im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren geäußerten Rechtsauffassung. Der Wille des Gesetzgebers, dass dem Nachbarn vom Grundsatz her ein Anspruch auf Einhaltung der 3 m-Grenze zustehe, ergebe sich nicht nur aus § 8 Abs. 6 Satz 3 LBauO, sondern sei ebenfalls in der Ausnahmevorschrift des § 8 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 LBauO verankert. Das Abstandsflächenrecht vermittle den Nachbarn grundsätzlich einen Anspruch auf Freihaltung eines 3 m breiten Streifens, gemessen von der Grundstücksgrenze. Die Regelberechnung, wie von der Landesbauordnung vorgegeben, gehe demgegenüber von größeren Höhen aus, bei denen eine konkrete Abstandsflächenberechnung von der Wand des Gebäudes möglich und notwendig sei. Dies sei im vorliegenden Fall aber gerade nicht veranlasst.

11

Hiernach sei die Stirnseite der Garage nicht lediglich mit einer Länge von 1,70 m zu berücksichtigen, sondern vielmehr mit einer Länge von 3 m. Die Garage liege in vollem Umfang innerhalb des abstandsflächenrelevanten 3 m-Korridors. Im Ergebnis werde daher bei Addition aller Gebäudeteile auf dem Grundstück der Beigeladenen, die einen Abstand von 3 m unterschreiten, das höchstzulässige Längenmaß von 18 m mit 19,26 m (7,64 + 7,32 + 1,30 + 3,00) um 1,26 m überschritten. Folglich stehe dem Kläger gegenüber dem Beklagten ein Anspruch auf Erlass einer entsprechenden bauordnungsrechtlichen Verfügung im Hinblick auf die Grenzbebauung der Beigeladenen zu.

12

Die Überschreitung der sogenannten 18 m-Regelung in § 8 Abs. 9 Satz 1 b LBauO löse auch dann Abwehransprüche des Nachbarn aus, wenn die 12 m-Längenbeschränkung an seiner Grundstücksgrenze eingehalten ist. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz habe die drittschützende Wirkung dieser Vorschrift in ständiger Rechtsprechung bejaht (Urteil vom 02.08.2007, 1 A 10230/07; Beschluss vom 26.07.2004, NVwZ-RR 2005, 19).

13

Die von dem Vertreter des öffentlichen Interesses geäußerte Auffassung, dass eine alleinige Verletzung der 18 m-Regel die durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Nachbarn nicht konkret beeinträchtige, könne nicht überzeugen. Im Baunachbarrecht sei zwischen generell und partiell drittschützenden Normen zu differenzieren. Während die partiell drittschützenden Normen nur bei einer tatsächlich spürbaren Betroffenheit des Nachbarn und damit nur in Verbindung mit dem Rücksichtnahmegebot Drittschutz vermitteln, gewährten die generell drittschützenden Normen stets Nachbarschutz. Auch das Abstandsflächenrecht sei vom Gesetzgeber als Austauschregelung ausgestaltet worden. Die Abstandsflächenvorschriften begrenzten die Anordnungen der Gebäude auf dem Grundstück im Hinblick auf Grundstücksgrenzen. Sie beträfen im besonderen Maße schutzwürdige Belange nach einer ausreichenden Sicherung des sozialen Wohnfriedens, nach einer ausreichenden Belichtung, Besonnung und Belüftung, sowie nach ausreichendem Brandschutz. Das Abstandsflächenrecht regele damit nachbarliche Interessenkonflikte und bringe sie in abstrakt genereller Weise zum Ausgleich. Auch zeige gerade der Umstand, dass im Gegensatz zur früheren Rechtslage nicht mehr von Nachbargrenzen, sondern von Grundstücksgrenzen die Rede sei, dass es auf die Nutzung des angrenzenden Grundstücks nicht ankomme. Die maßgeblichen Vorschriften dienten damit in ihrer Gesamtheit dem Nachbarschutz.

14

Die Kläger beantragen,

15

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 1.12.2009 wird der Beklagte unter Aufhebung seines Bescheides vom 16.07.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2009 verpflichtet, die Beigeladenen im Wege des Erlasses einer bauaufsichtsrechtlichen Anordnung zu verpflichten, den im Anschluss an die rückwärtige Außenwand der in der östlichen Abstandsfläche des Wohnhauses stehenden Garage befindlichen Abstellraum vollständig zu beseitigen,

16

hilfsweise,

17

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 1.12.2009 den Beklagten zu verpflichten, die Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

18

Der Beklagte beantragt,

19

die Berufung zurückzuweisen.

20

Er verweist zunächst auf die Darstellung des Vertreters des Öffentlichen Interesses vom 31.08.2010. Der Fall könnte Gelegenheit sein, die bisherige Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts zur Frage, ob die Überschreitung der 18 m-Regelung des § 8 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3b LBauO auch dann Abwehransprüche des Nachbarn auslöse, wenn die 12 m-Regelung an dessen Grundstücksgrenze eingehalten ist, zu modifizieren. Vor dem Urteil des 1. Senats des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 2.08.2007 (1 A 10230/07) sei es zudem geübte Verwaltungspraxis des Beklagten gewesen, in solchen Fällen unter den Voraussetzungen des § 69 LBauO eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zuzulassen. Eine entsprechende Verwaltungspraxis der Stadt Worms sei durch Urteil des Verwaltungsgerichts Mainz vom 23.01.2007 (3 K 200/06.MZ) sogar ausdrücklich bestätigt worden. Der Beklagte sei vor diesem Hintergrund nach wie vor der Auffassung, dass eine Beeinträchtigung nachbarlicher Belange nur dann anzunehmen sei, wenn Garagen und sonstige Nebengebäude an der Grundstücksgrenze zu den betroffenen Nachbarn hin eine Länge von 12 m überschreiten.

21

Die Beigeladenen haben sich nicht geäußert.

22

Der Vertreter des Öffentlichen Interesses ist dem Verfahren beigetreten und hat mit Schriftsatz vom 31.08.2010 wie folgt vorgetragen:

23

Vorrangig sei zunächst die Frage zu beantworten, ob im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des 1. und des 8. Senats des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz eine Überschreitung der in Bezug auf alle Grundstücksgrenzen geltenden 18 m-Regelung des § 8 Abs. 9 Satz 1b LBauO auch dann Abwehransprüche des Nachbarn auslöse, wenn die 12 m Beschränkung an seiner Grundstücksgrenze eingehalten ist und ob er sich in diesem Fall auf die weitere Bebauung an anderen als seinen Grundstückgrenzen berufen könne.

24

Die unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 10/1344, S. 77) geäußerte Auffassung des Senats (Urteil vom 2.08.2007, 1 A 10239/07), wonach Nachbarn in ihrer Gesamtheit Schutzobjekte der Vorschrift seien, sei kritisch zu hinterfragen. Die Vorschrift sei insbesondere an ihrem Schutzzweck, dem Nachbarn Belichtung, Belüftung und Brandschutz zu gewährleisten, zu orientieren. Die Auffassung einer nachbarschützenden Wirkung der 18 m-Regelung des § 8 Abs. 9 Satz 1b LBauO führe teilweise zu Wertungswidersprüchen in der praktischen Anwendung, so dass angeregt werde, die bisherigen Rechtsprechung zu modifizieren.

25

Eine Norm des öffentlichen Rechts habe danach nur dann drittschützenden Charakter, wenn sie nicht durch öffentliche Interessen, sondern - zumindest auch - Individualinteressen derart zu dienen bestimmt sei, dass die Träger der Individualinteressen die Einhaltung des Rechtssatzes sollen verlangen können (BVerwG, Urteil vom 17.06.1993, 3 C 3/89). Dem zu § 8 Abs. 9 LBauO hierzu gewählten Ansatzpunkt des Senats könne entgegengehalten werden, dass diese Vorschrift nach der Begründung zur Neufassung der LBauO 1998 (LT-Drucks. 13/3040, S. 51) keine Ausnahmevorschrift zum allgemeinen Abstandsflächenerfordernis, sondern eine Zulässigkeitsvorschrift sei. Der Gesetzgeber habe in der Festlegung einer zulässigen Länge von 12 m an einer Grundstücksgrenze die Interessenlage im zweiseitigen Nachbarverhältnis abschließend geregelt. Zum einen werde dem Nachbarn auferlegt, die durch eine bis zu 12 m lange Grenzbebauung verursachten Beeinträchtigungen hinzunehmen. Gleichzeitig werde in entsprechendem Umfang die Baufreiheit beider Nachbarn erweitert. Wenn aber die Zulässigkeit der Grenzbebauung über 12 m als zulässige Inhaltsbeschränkung des Eigentums und mithin als zumutbar für den Nachbarn angesehen werde, seien in jedem Fall auch durch eine kürzere Grenzbebauung die nachbarlichen Interessen gewahrt.

26

Folge man dieser Rechtsauffassung nicht, käme es auf die eingangs aufgeworfene Frage an, ob in die Längenbeschränkung des § 8 Abs. 9 Satz 1b LBauO auch Gebäudeteile einzubeziehen seien, welche zwar die Abstandsfläche einhielten, deren andere Teile jedoch weniger als 3 m von der Grundstücksgrenze entfernt seien. Hierzu werde die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts Koblenz geteilt, wonach nur Wandteile einzurechnen seien, die keine eigene Abstandsfläche haben. Dies ergebe sich auch aus der in der Gesetzesbegründung zur LBauO 1998 (LT-Drucks. 13/3040, S. 51) dargestellten Gesetzeshistorie.

27

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten und zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze sowie auf die vorgelegten Verwaltungs- und Widerspruchsakten (2 Hefte) und einen Ordner Satzungsunterlagen Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

28

Die von dem Senat zugelassene Berufung der Kläger hat in der Sache keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid zu Recht nach Maßgabe des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur teilweise aufgehoben, da eine Verletzung drittschützender Rechte darüber hinaus nicht festzustellen ist.

29

Die angegriffenen Entscheidungen des Beklagten beruhen insbesondere nicht auf einer fehlerhaften Auslegung des § 8 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 LBauO. Hiernach dürfen bestimmte Gebäude gegenüber Grundstücksgrenzen ohne Abstandsflächen oder mit einer geringeren Tiefe der Abstandsflächen errichtet werden, wenn sie an den Grundstücksgrenzen oder in einem Abstand von bis zu 3 m von den Grundstücksgrenzen eine mittlere Wandhöhe von 3,20 m über der Geländeoberfläche sowie eine Länge von 12 m an einer Grundstücksgrenze und von insgesamt 18 m an allen Grundstücksgrenzen nicht überschreiten.

30

Der Senat geht dabei auf der Grundlage der baufachlichen Feststellungen des Beklagten und der Ausführungen des Verwaltungsgerichts für die Nebengebäude des Anwesens der Beigeladenen davon aus, dass die auf der östlichen seitlichen Grundstücksgrenze zum Grundstück der Kläger hin bestehende Garage eine Gesamtlänge von 6,98 m zuzüglich eines Dachüberstandes von 0,34 m hat und der Abstellraum mit einer verbliebenen Länge von 1,3 m einzurechnen ist, woraus sich auf der Ostseite eine Gesamtlänge von 8,62 m ergibt. Auf der westlichen Abstandsfläche des Wohnhauses steht eine Garage, die unstreitig seitens des Beklagten einschließlich der Überstände mit 7,64 m bemessen worden ist.

31

Die zwischen den Beteiligten streitige – und von dem Senat bisher noch nicht ausdrücklich entschiedene – Frage, ob bei der Abstandsflächenberechnung auch die Gebäudeteile einzubeziehen sind, die sich in einem Abstand von mindestens 3 m von der Grundstückgrenze aus befinden, so dass damit vorliegend nicht nur die Stirnseite der östlichen Garage mit einem Anteil von 1,70 m (17,96 m = 8,62 + 7,64 + 1,70 m) einzurechnen wäre, ist im Sinne des Beklagten und des Verwaltungsgerichts zu beantworten.

32

Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts darauf verwiesen dass es sich bei der Regelung nach § 8 Abs. 9 LBauO um eine Ausnahmevorschrift zu § 8 Abs. 1 Satz 1 LBauO handele, wobei die in der erstgenannten Vorschrift aufgeführten baulichen Anlagen unter den dort genannten Voraussetzungen abstandsflächenrechtlich privilegiert werden. Vor diesem Hintergrund habe die Regelung erkennbar den Sinn, das Ausmaß der Privilegierung festzulegen und damit Höchstmaße für solche Wandteile festzuschreiben, die die grundsätzlich geforderten Abstandsflächen unterschreiten. An einer Längenbegrenzung solcher Wandteile, die nicht im abstandsflächenrechtlich relevanten Bereich liegen, habe der Nachbar hingegen kein schutzwürdiges Interesse. Denn insoweit werde er in seinen durch die Abstandsflächenvorschriften rechtlich geschützten Interessen, wie etwa an einer ausreichenden Belichtung und Belüftung nicht betroffen.

33

Diesen Überlegungen des Verwaltungsgerichts schließt sich der Senat an. Bei der Auslegung des § 8 Abs. 9 S. 1 LBauO ist zunächst zu berücksichtigen, dass dem Bauherrn mit der Wortfolge „…dürfen ohne Abstandsflächen oder mit einer geringeren Tiefe der Abstandsflächen …errichtet werden, wenn…“ bei Vorliegen der Voraussetzungen ausnahmsweise etwas erlaubt wird, was nach ihm nach § 8 Abs. 1 S. 1 LBauO an sich untersagt ist, nämlich ein Bauen ohne Einhaltung einer (ausreichenden) Abstandsfläche. Aus dem zitierten Wortlaut der Vorschrift und dem dargestellten systematischen Zusammenhang mit dem Abs. 1 folgt zunächst, dass § 8 Abs. 9 S. 1 LBauO sich mit Fällen befasst in denen die Abstandsflächen nicht eingehalten werden; die Norm trifft dagegen keinerlei Regelungen zur Errichtung von Gebäuden oder Gebäudeteilen, die die Abstandsflächen beachten. Soweit daher die Doppelgarage der Beigeladenen die die nach § 8 Abs. 1 S. 1 LBauO gebotenen Abstandsfläche beachtet, bedarf es keiner Ausnahme, § 8 Abs. 9 S. 1 LBauO geht insoweit ins Leere. Dass eine Gebäudewand nicht stets als Ganzes betrachtet werden muss, sondern der Blick auch auf Wandteile fallen kann folgt im Übrigen ohne weiteres schon aus § 8 Abs. 9 S. 2 LBauO.

34

Darüber hinaus ergeben sich auch aufgrund einer teleologischen und einer historischen Auslegung Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen des § 8 Abs. 9 S. 1 LBauO nur die Länge eines Gebäudes oder Gebäudeteiles von Bedeutung ist, welche die Abstandsflächen nicht bzw. nicht ausreichend beachtet, nicht dagegen in jedem Fall die gesamte Länge einer Seite eines Gebäudes. Wie sich etwa aus der in der Gesetzesbegründung zur LBauO 1998 (LT-Drucks. 13/3040, S. 51) dargestellten Gesetzeshistorie ergibt, ist die Zulässigkeit von zunächst grenzständigen Gebäuden sukzessive erweitert worden. Die privilegierten Gebäude waren nach der LBauO 1986 nur unmittelbar an der Grundstücksgrenze zulässig, nach der Bauordnungsnovelle 1995 auch im Abstand von 1 m. Mit der LBauO 1998 sollten diese Gebäude insgesamt als abstandsflächenrechtlich irrelevant eingestuft werden. Demgemäß kann nur in dem abstandsflächenrelevanten Bereich (nicht jedoch darüber hinaus) rechtlich die Möglichkeit bestehen, die Schutzgüter des Abstandsflächenrechts durch eine Überschreitung dieser Vorgaben zu beeinträchtigen. Käme man zu dem gegenteiligen Ergebnis, so würde sich die Problematik ergeben, dass bei einem nur geringfügigen „Hineinragen“ einer Teillänge eines Gebäudes in die Abstandsfläche eine völlig überproportionale und damit unverhältnismäßige Zurechnung erfolgen würde. Dies widerspräche auch der Intention des Gesetzgebers (vgl. LT-Drucks. 13/3040, a.a.O.), dass die Bauherren den Standort ihrer Nebengebäude auf dem Grundstück im Rahmen der gesetzlichen Voraussetzungen grundsätzlich selbst frei wählen dürfen. Die von den Klägern favorisierte extensive Auslegung des § 8 Abs. 9 LBauO würde dieser Zielsetzung zuwiderlaufen. Zudem spricht auch die Formulierung in der Gesetzesbegründung, wonach … „erst außerhalb dieses Bereichs die Gebäude wieder Abstandsflächen auslösen“ (LT-Drucks. 13/3040, S. 51 2. Abs. a.E.) deutlich für diese Auslegung.

35

Sind demnach bei der Ermittlung der Längenmaße nach § 8 Abs. 9 S.1 LBauO Außenwände nur in dem Umfang einzubeziehen, in dem sie die Abstandsflächen nicht einhalten, bedarf noch die Frage einer Klärung, wie die Länge des die Abstandsflächen nicht beachtenden Teils der Doppelgarage zu bestimmen ist. Geht man nämlich davon aus, dass ein 3 m-Abstandsstreifen bei einer senkrechten Messung zur Gebäudewand (§ 8 Abs. 4 Satz 1 LBauO) zugrunde zu legen ist, kann die Stirnwand der östlichen Grenzgarage nur mit einer Länge von 1,70 m eingerechnet werden. Dies würde -wie oben ausgeführt- dazu führen, dass die Gesamtlänge der Außenwände ohne Abstandfläche den nach § 8 Abs. 9 S.1 LBauO zulässigen Höchstwert von 18 m um 4 cm unterschreiten würde. Diese Teillänge der Stirnseite der östlichen Grenzgarage überschneidet aber, projiziert auf die in einem Winkel von ca. 45° verlaufende Grundstücksgrenze, dort als (Schein-)„Äquivalent“ eine größere Strecke. Allein auf Grundlage der entsprechend dem Kartenmaterial und den Katasterauszügen möglichen Messung ist indessen offensichtlich, dass bei einer Berechnungsmethode, die auf einer Messung der durch Projektion auf die Grenze dort entstehenden Strecke beruht, insgesamt von einer abstandsrelevanten Strecke von mehr als 18 m auszugehen wäre . Die erstgenannte Methode - Messung des Teils der Garagenwand, der keine (ausreichende) Abstandfläche einhält - ist jedoch die nach den Bestimmungen der LBauO allein zutreffende. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

36

Nach dem bisher noch nicht zitierten zweiten Teil des § 8 Abs. 9 S.1 LBauO dürfen Garagen errichtet werden, „…wenn sie an den Grundstücksgrenzen oder in einem Anstand von bis zu 3 m von den Grundstücksgrenzen…eine Länge von 18m an allen Grundstücksgrenzen nicht überschreiten…“ (Hervorhebung durch das Gericht) . Das hier verwendete Pronomen „sie“ bezieht sich auf die unter den Ziffern 1-3 des § 8 Abs. 9 S.1 LBauO genannten Gebäude, hier die Garage, sodass die Vorschrift schon nach ihrem Wortlaut nicht etwa die Abstandsfläche oder die Grundstücksgrenze, sondern die Länge der Garagenwände zum Gegenstand hat. Die Erwähnung der Grundstücksgrenzen könnte zwar möglicherweise - auf den ersten Blick- dazu verleiten, entlang der Grundstücksgrenze zu messen, die Wortfolgen „…Gegenüber Grundstücksgrenzen…“ , „…an den Grundstücksgrenzen oder in einem Abstand von bis zu 3 m von den Grundstücksgrenzen...“ und „eine Länge von…an einer Grundstücksgrenze und von… an… allen Grundstücksgrenzen…“ belegen aber, dass die Grundstücksgrenze jeweils nur als Bezugsgröße zur Bezeichnung bestimmte Wände von Garagen etc. erwähnt wird, nicht aber selbst einer Regelung unterworfen wird. Dass § 8 Abs. 9 S.1 LBauO Höchstlängen von Gebäuden bzw. Gebäudeteilen regelt, folgt schließlich auch aus dem Satz 2 der Vorschrift. Wenn es dort heißt, „… Die …Längen nach Satz 1 gelten nur für Wände und Wandteile, die…“ muss geschlossen werden, dass das Gesetz in Satz 1 die Höchstlänge von Wänden regelt. Wie allgemein im Abstandsrecht üblich, sind nach alledem die in § 8 Abs. 9 S.1 LBauO geregelten Höchstlängen von 12 m bzw. 18 m an den den Grundstücksgrenzen gegenüberliegenden Außenwänden zu messen (vgl. Dohm in: Simon/Busse BayBauO Art. 6, Rn. 562). Eine andere Auslegung ist auch vom Nachbarschutz nicht gefordert, da die störenden Auswirkungen eben von der Größe des Gebäudes maßgeblich geprägt werden und der konkrete Grenzverlauf mitunter von Zufälligkeiten bestimmt und dabei zweitrangig ist.

37

Soll nach diesen Grundsätzen festgestellt werden, ob und mit welchem Betrag die südliche Stirnseite der Doppelgarage in die Addition der Gesamtlänge von Wänden ohne Abstandsflächen eingeht, ist wie folgt zu verfahren: Vor der fraglichen Wand muss entsprechend der Bestimmung des § 8 Abs. 6 Satz 2 LBauO) - wie aus der nachfolgenden Skizze ersichtlich - fiktiv eine Abstandsfläche senkrecht zur Wand mit dem Mindestabstand von 3 m (§ 8 Abs. 4 Satz 1 LBauO angelegt werden. Durch eine Gegenüberstellung der fiktiven Abstandsfläche und der Grundstücksgrenze lässt sich derjenige Teil der Hauswand bestimmen, der die gesetzliche Abstandsfläche nicht einhält (vgl. in der nachfolgenden Skizze den Bereich zwischen den beiden Pfeilen).

Abbildung
Abbildung in Originalgröße in neuem Fenster öffnen

38

Hiernach ist die Stirnseite der Doppelgarage nur mit einer Länge von 1,70 m in die Berechnung des 18 m-Maßes nach § 8 Abs. 9 LBauO einzustellen, da nur auf dieser Länge der grundsätzlich erforderliche Abstand nach § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 6 LBauO von 3 m zur abknickenden Grundstücksgrenze unterschritten wird. Bei Addition aller Gebäudeteile auf dem Grundstück der Beigeladenen, die einen Abstand von 3 m unterschreiten, wird das höchst zulässige Längenmaß von 18 m mit 17,96 m (= 7,64 m + 7,32 m + 1,30 m + 1,70 m) auf der Basis der Feststellungen des Beklagten nicht überschritten.

39

Ist dementsprechend eine Länge von 18 m an allen Grundstücksgrenzen nicht überschritten, so kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, ob der Senat an der bisherigen Rechtsprechung zum umfassenden Nachbarschutz dieser Vorschrift (Urteil vom 02.08.2007, 1 A 10230/07, ESOVGRP) im Hinblick auf die von dem Vertreter des Öffentlichen Interesses geäußerte beachtliche Begründung künftig festhält. Für den Senat spricht indessen nach wie vor Überwiegendes dafür, an der ständigen Rechtsprechung festzuhalten und die Frage einer etwaigen künftigen Einschränkung des über den unmittelbaren Grenzbereich hinausgehenden umfassenden Drittschutzes dem Gesetzgeber zu überlassen. Denn die ständige Rechtsprechung des 8. Senats sowie auch die Hinweise des erkennenden Senats bereits seit in seinem Beschluss vom 25.04.1990 (1 B 10258/90.OVG) haben deutlich gemacht, dass die maßgebliche obergerichtliche Rechtsprechung einen umfassenden Drittschutz des § 8 Abs. 9 LBauO annimmt, was letztlich in der Entscheidung 1 A 10230/07.OVG seitens des Senats manifestiert wurde.

40

In Kenntnis dieser Rechtsprechung der beiden Bausenate hätte der Gesetzgeber demnach genügend Anlass gehabt, diese nachbarfreundliche Auslegung durch eine entsprechende Ergänzung des § 8 Abs. 9 LBauO für künftige Verfahren zu ändern, in dem etwa der Drittschutz ausdrücklich auf die 12 m-Länge beschränkt worden wäre. Da dies nicht geschehen ist, spricht indessen vieles dafür, dass sich die im Verfahren 1 A 10230/07.OVG näher begründete Auslegung nach wie vor mit der Intention des Gesetzgebers in Einklang befindet. Denn nur wenn die Nachbarn in ihrer Gesamtheit Schutzobjekt sind und es darüber hinaus auch einem Nachbarn möglich ist, dieses Recht geltend zu machen, entfaltet die Norm ihre volle Wirksamkeit, die bei einer rein objektiven Geltung nicht zu erreichen wäre.

41

Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und §§ 162 Abs. 3 i.V.m. 154 Abs. 3 VwGO.

42

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

43

Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO bezeichneten Art nicht vorliegen.

44

Beschluss

45

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.500,00 € festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 3 GKG.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen