Urteil vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (1. Senat) - 1 A 10031/15


Diese Entscheidung zitiert ausblendenDiese Entscheidung zitiert


Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % der festzusetzenden Kosten abzuwenden, sofern nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger ist Eigentümer der Grundstücke Gemarkung Norken, Flur ..., Parzellen Nrn. .. und .., die 677 m² bzw. 625 m² groß sind. Die beiden Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans „A…“ der beigeladenen Ortsgemeinde Norken. Dieser am 10. Juni 1980 bekannt gemachte Bebauungsplan wurde zunächst im den Jahren 1987 und 1992 zu hier nicht relevanten Punkten geändert. Am 24. Oktober 1996 beschloss der Ortsgemeinderat der Beigeladenen eine 3. Änderung des Bebauungsplanes „A…“, wonach u.a. die höchstzulässige Zahl der Wohnungen im Baugebiet beschränkt wurde; für Baugrundstücke bis 750 m² wurden maximal zwei Wohneinheiten je Gebäude und für Baugrundstücke über 750 m² maximal drei Wohneinheiten je Gebäude festgesetzt.

2

Am 26. Mai 1998 erteilte die Beklagte dem Kläger im vereinfachten Genehmigungsverfahren eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Wohnhauses mit drei Wohneinheiten auf den beiden Grundstücken Parzellen Nrn. .. und .. unter der Bedingung, dass vor Baubeginn ein Nachweis über die Flurstücksvereinigung nachzureichen sei. Im Juni 1998 wurde für die beiden Grundstücke eine Vereinigungsbaulast eingetragen.

3

Nachdem festgestellt worden war, dass das Wohnhaus des Klägers nach einem Umbau mehr als drei Wohneinheiten aufwies, beantragte dieser mit einem Schreiben vom 27. August 2013 die Erteilung einer Baugenehmigung zur Erhöhung der Anzahl der genehmigten Wohneinheiten von drei auf vier. Auf der Grundlage eines Beschlusses des Ortsgemeinderates vom 29. März 2012 erteilte die Beigeladene ihr Einvernehmen. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25. Februar 2013 die Erteilung der beantragten Baugenehmigung ab. Zur Begründung hieß es, eine Erhöhung der Zahl der Wohneinheiten widerspreche den Festsetzungen des Bebauungsplans „A…“. Eine Befreiung könne nicht erteilt werden, da das Vorhaben die Grundzüge der Planung berühre.

4

Nachdem der dagegen eingelegte Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 2014 zurückgewiesen worden war, hat der Kläger am 10. März 2014 Klage im Verwaltungsstreitverfahren erhoben.

5

Das Verwaltungsgericht Koblenz hat der Klage durch Urteil vom 21. August 2014 stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, dem Kläger die Baugenehmigung für die Erhöhung der Zahl der Wohneinheiten auf vier zu erteilen. In den Entscheidungsgründen wird im Wesentlichen ausgeführt, die 3. Änderung des Bebauungsplans „A…“ sei unwirksam, da sie an einem Ausfertigungsmangel leide.

6

Der Ortsgemeinderat der beigeladenen Gemeinde Norken beschloss am 11. September 2014 ein ergänzendes Verfahren zur Behebung des Ausfertigungsmangels durchzuführen und die 3. Änderung anschließend rückwirkend zum ursprünglichen Termin in Kraft zu setzen. Bei der erneut durchgeführten Abwägung ließ sich der Rat unter anderem von der Erwägung leiten, dass das der 3. Änderung des Bebauungsplans „A…“ zugrundeliegende planerische Konzept auch heute noch tragfähig sei. Die Bekanntmachung über die rückwirkende Inkraftsetzung im ergänzenden Verfahren gemäß § 214 Abs. 4 BauGB

7

erfolgte sodann durch Veröffentlichung im „W…“ Nr. 40 vom 3. Oktober 2014.

8

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte im Wesentlichen geltend, nach der erfolgten Behebung des Ausfertigungsmangels sei der Bebauungsplan rückwirkend zu dem Zeitpunkt in Kraft getreten, zu dem er ursprünglich hätte in Kraft treten sollen. Warum die rückwirkende Neubekanntmachung fehlerhaft sein solle, erschließe sich nicht. Die Beigeladene habe lediglich von ihrer Planungshoheit nach § 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB Gebrauch gemacht.

9

Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB. Zwar habe die Beigeladene mit Beschluss vom 29. März 2012 ihr Einvernehmen erteilt, die Erteilung des Einvernehmens der Gemeinde stelle aber lediglich eine Voraussetzung des § 31 Abs. 2 BauGB dar. Durch das Vorhaben des Klägers würden die Grundzüge der Planung im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB berührt. Die Festsetzung der maximal zulässigen Wohneinheiten sei mit dem Ziel erfolgt, eine Erhöhung des Verkehrsaufkommens sowie des Stellplatzbedarfs im Plangebiet zu vermeiden. Darüber hinaus habe der dörfliche Charakter des Plangebiets erhalten werden sollen. Diese konkreten planerischen Ziele würden durch eine Befreiung für das klägerische Bauvorhaben konterkariert. Auch die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 Nr. 3 BauGB seien nicht erfüllt, da das klägerische Grundstück und das darauf stehende Gebäude keine Besonderheiten aufwiesen, die das Vorliegen einer offenbar nicht beabsichtigten Härte rechtfertigen könnten.

10

Die Beklagte beantragt,

11

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 21. August 2014 – 1 K 224/14.KO – die Klage abzuweisen.

12

Der Kläger beantragt,

13

die Berufung zurückzuweisen.

14

Er trägt im Wesentlichen vor, die rückwirkende Inkraftsetzung des Bebauungsplans auf das Jahr 2000 sei rechtswidrig, insbesondere ermessensfehlerhaft. Bei der Heilung von Verfahrens- und Formfehlern nach § 214 Abs. 6 BauGB habe die Gemeinde ein Wahlrecht, ob der Bebauungsplan rückwirkend oder nur für die Zukunft in Kraft gesetzt werde. Hier sei die Entscheidung ermessensfehlerhaft und willkürlich erfolgt, weil die Rückwirkung dazu diene, einen gerichtlich festgestellten Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung nachträglich zunichte zu machen.

15

Er habe aber auch unter Geltung des nunmehr geänderten und bekannt gemachten Bebauungsplans einen Anspruch auf Befreiung von den darin enthaltenen Festsetzungen. Hier wären bei Auseinanderfallen der durch die Vereinigungsbaulast zusammengefassten Grundstücke und Errichtung von zwei Gebäuden auf zwei Grundstücken je zwei Wohneinheiten zulässig gewesen. Die Befreiung sei deshalb städtebaulich vertretbar.

16

Die Beigeladene stellt

17

keinen Antrag.

18

Sie schließt sich den Ausführungen der Beklagten an.

19

Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätzen der Beteiligten sowie aus dem Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten (2 Bände, 1 Hefter), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

20

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

21

Die Verpflichtungsklage des Klägers ist auch nach der rückwirkenden Neubekanntmachung des am 10. Juni 1980 bekannt gemachten Bebauungsplans „A…“ in der am 3. Oktober 2014 bekannt gemachten Fassung der 3. Änderung (künftig kurz: Bebauungsplan „Auf der Hirzenhub“) begründet. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte die beantragte Baugenehmigung für die Erhöhung der Zahl der Wohneinheiten von drei auf vier erteilt.

22

1. Die Behebung der dem Bebauungsplan „A…“ in der Fassung vom 24. Oktober 1996 anhaftenden Fehler und dessen rückwirkende erneute Bekanntmachung sind entgegen den Überlegungen des Klägers rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere ist das Vorgehen der Beigeladenen nicht deshalb willkürlich oder ermessensfehlerhaft, weil die frühere, verfahrensfehlerhafte Fassung des Bebauungsplans bereits vor 18 Jahren beschlossen worden war. Aus der Regelung des § 214 Abs. 4 BauGB ergibt sich im Gegenteil die der Beigeladenen hier bestrittenen Befugnis zur Fehlerbehebung, die ihr im Interesse der Rechtssicherheit (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Dezember 1986 – 4 C 31/85 –, BVerwGE 75, 262 f., juris, Rn. 31) und im Interesse der Sicherstellung einer sinnvollen städtebaulichen Ordnung eingeräumt ist. Schon unter der Geltung des § 215 Abs. 3 Satz 1 BauGB 1987 konnte die Gemeinde Verfahrens- und Formfehler beheben, indem sie das Verfahren an rangbereiter Stelle aufgreift, also an dem Punkt, an dem sich der Mangel gezeigt hatte, und bis zu einem ordnungsgemäßen Abschluss fortsetzen (so BVerwG, Beschluss vom 6. März 2000, – 4 BN 31.99 –, juris). Noch vor Inkrafttreten des BauROG 1998 hatte das BVerwG (Urteil vom 7. November 1997, – 4 NB 48.96 –, juris) entschieden, dass selbst materielle Fehler eines Bebauungsplans nicht in einem vollständig neuen Planverfahren behoben zu werden brauchten. Vielmehr ist eine auf einzelne Verfahrensabschnitte begrenzte Fehlerkorrektur möglich.

23

Die Beigeladene hat auch nicht etwa das ihr hinsichtlich des Zeitpunktes der erneuten Inkraftsetzung eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Ermessen der Gemeinde von der rechtlichen Möglichkeit, fehlerhafte Pläne nach Fehlerbeseitigung mit Rückwirkung in Kraft zu setzen, gemäß der Zielsetzung des Gesetzes häufig in dem Sinne reduziert sein wird, dass die Gemeinde im Interesse der Rechtssicherheit ihren Plan mit Rückwirkung in Kraft zu setzen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Dezember 1986 – 4 C 31/85 –, BVerwGE 75, 262 f., juris, Rn. 31). Darüber hinaus beruhen auch die dem Ratsbeschluss vom 11. September 2014 zugrundeliegenden Überlegungen, wonach seit der Beschlussfassung vom 24. Oktober 1996

24

„… keine grundlegenden Änderungen der Sach- und Rechtslage eingetreten sind, die das Ergebnis der ursprünglichen Abwägung … unhaltbar oder den Inhalt des Bebauungsplans funktionslos erscheinen …“

25

ließen und dass

26

„… das planerische Konzept auch heute noch tragfähig…“

27

sei nicht auf einem Ermessensfehler. Im Gegenteil ist es sachgerecht, wenn nicht im Sinne der erwähnten Ermessensreduzierung sogar geboten, die Fehlerbehebung rückwirkend vorzunehmen. Ohne diese Rückwirkung wären Genehmigungsanträge, die in den letzten 18 Jahren gestellt worden sind, nach § 34 BauGB zu beurteilen, sodass eine Begrenzung auf eine bestimmte Zahl von Wohneinheiten nicht zu beachten wäre. Ohne Rückwirkung liefe die Beigeladene daher Gefahr, dass ihre Vorstellungen von einer sinnvollen städtebaulichen Ordnung unterlaufen werden könnten.

28

2. Gemäß § 30 BauGB sind im Plangebiet vier Wohneinheiten zulässig, da dies den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans „A...“ entspricht. Soweit vorliegend von Interesse lauten, die textlichen Festsetzungen des wie folgt:

29

„…Die höchstzulässige Zahl der Wohnungen im Baugebiet wird wie folgt beschränkt:

30

Baugrundstücke bis 750 m²: max. zwei Wohneinheiten je Gebäude

31

Baugrundstücke über 750 m² max. drei Wohneinheiten je Gebäude…“

32

Da sich der Baugenehmigungsantrag des Klägers hier auf zwei Baugrundstücke (Gemarkung Norken, Flur …, Parzellen Nrn. ... und ...) bezieht, die 677 m² bzw. 625 m² groß sind, ergibt sich eine höchstzulässige Zahl der Wohnungen von insgesamt zweimal zwei, mithin vier Wohneinheiten.

33

Die davon abweichende Berechnung der Beklagten kann sich zwar darauf stützen, dass die beiden Baugrundstücke Gemarkung Norken, Flur .., Parzellen Nrn. .. und .., wie dies durch § 86 Abs. 1 und § 6 Abs. 3 LBauO ermöglicht wird, durch die Baulast vom 3. Juni 1998 rechtlich zusammengefasst worden sind (sog. Vereinigungsbaulast). Wäre von den zusammengefassten Grundstücken, mithin von einem 1302 m² großen Grundstück (Summe der beiden Einzelflächenmaße von 677 m² und 625 m²) auszugehen, müsste die Subsumtion konsequenterweise eine Höchstzahl von nur drei Wohneinheiten ergeben. Diese Überlegungen entsprechen aber nicht dem Inhalt des Bebauungsplanes, da die vereinigten Grundstücke nicht von dem Begriff „Baugrundstück“ i.S. des Bebauungsplanes umfasst werden.

34

Was unter dem in den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplanes „A...“ enthaltenen Begriff „Baugrundstücke“ zu verstehen ist, muss durch Auslegung ermittelt werden, wobei die allgemeinen Auslegungsgrundsätze für Rechtsnormen gelten. Danach ist zunächst von dem Wortsinn des fraglichen Textes auszugehen und nach der Bedeutung des Begriffs im allgemeinen Sprachgebrauch zu fragen. Unter einem Baugrundstück wird aber im allgemeinen Sprachgebrauch ein Grundstück verstanden, das mit einem Gebäude bebaut werden kann (vgl. Duden online) oder ein bebaubares, in einem Bebauungsplan ausgewiesenes Grundstück (vgl. Brockhaus Enzyklopädie). Dies spricht dafür, hier von dem Buchgrundstück auszugehen. Die Auslegung, die die Beklagte für richtig hält, würde dazu führen, dass zwei Baugrundstücke als eines gelten, was dem Wortlaut der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplanes fraglos widerspricht.

35

Darüber hinaus muss bei der Ermittlung des Bedeutungsgehaltes des Begriffs des Baugrundstücks berücksichtigt werden, dass dieser Begriff im bauplanungsrechtlichen Sprachgebrauch in einem bestimmten, lange eingeführten Sinne verstanden wird. Für den Vollzug der Festsetzungen des Bebauungsplans ist nämlich ein Rückgriff auf das Grundstück im grundbuchrechtlichen Sinne die Regel: Das Grundstück im bauplanungsrechtlichen Sinne wird grundsätzlich mit dem bürgerlich-rechtlichen (grundbuchrechtlichen) Grundstück gleichgesetzt (BVerwG, Urteil vom 26. Juni 1970 – 4 C 73.68 –; Urteil vom 14. Dezember 1973 – 4 C 48.72; Urteil vom 14. Februar 1991 – 4 C 51.87 –). Grundstück im grundbuchrechtlichen Sinn (Buchgrundstück) ist dabei jeder räumlich abgegrenzte (katastermäßig vermessene und bezeichnete) Teil der Erdoberfläche, der im Grundbuch eingetragen ist (geführt wird), entweder auf einem besonderen Grundstücksblatt oder unter einer besonderen Nummer eines gemeinschaftlichen Grundstücksblattes (§§ 3 und 4 der Grundbuchordnung). Dieser bundesrechtlich vorgegebene Begriff des Baugrundstücks kann durch das Landesrecht – hier durch die Zulassung einer Vereinigungsbaulast – nicht verändert werden, andernfalls würde das Bundesrecht je nach dem Landesrecht einen unterschiedlichen Inhalt haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Februar 1991 – 4 C 51/87 –, BVerwGE 88, 24ff).

36

Dieses Verständnis des Begriffs „Baugrundstücke“ wird auch bestätigt, wenn man den Regelungszusammenhang mit den zeichnerischen Darstellungen des Bebauungsplanes gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 3 BauGB zu den Maßen der Baugrundstücke berücksichtigt, die den heute bestehenden Grenzen der Buchgrundstücke entsprechen. Wenn die textlichen Festsetzungen von „Baugrundstücken“ sprechen, muss angenommen werden, dass damit die im Bebauungsplan ausgewiesenen Grundstücke, mithin die – durch das Umlegungsverfahren gebildeten – Buchgrundstücke gemeint sind.

37

Mit der danach maßgeblichen Auslegung des Grundstücksbegriffs im Sinne des grundbuchrechtlichen Grundstücksbegriffs werden auch nicht etwa Sinn und Zweck der Regelung verfehlt. Nach dem Inhalt der Begründung zum Bebauungsplan ging es dem Satzungsgeber im Wesentlichen darum,

38

„…nicht gewünschte Umstrukturierungen im städtebaulichen Ortsbild, die hier gerade in überwiegend dörflich geprägter Gegend durch den Bau von großen Mehrfamilienhäusern entstehen…“

39

und

40

„…Funktionsstörungen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der geplanten Erschließungsanlagen(fließender und ruhender Verkehr)…“

41

zu verhindern. Dieser Zweck erfordert es aber nicht, von dem bauplanungsrechtlich eingeführten Grundstücksbegriff abzuweichen und eine aus zwei oder mehreren Buchgrundstücken bestehende Baufläche eigener Art zu fingieren. Die bezweckte Vermeidung der anderswo beobachteten und hier unerwünschten Verdichtung ist auch bei dem hier zugrunde gelegten Begriffsverständnis ohne weiteres sichergestellt. Im Gegenteil würde die von der Beklagten für richtig gehaltene Auslegung dazu führen, dass die bauliche Nutzbarkeit der Grundstücke des Klägers durch die Begrenzung auf drei Wohneinheiten stärker eingeschränkt würde, als dies nach Sinn und Zweck der Regelung geboten wäre. Da der Bebauungsplan eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums beinhaltet, muss er für Einschränkungen der Baufreiheit hinreichend gewichtige Gemeinwohlbelange auf seiner Seite haben. Eine Auslegung der textlichen Festsetzungen des Planes, die dazu führen würde, dass eine nach den eigenen Vorstellungen der Gemeinde (kurz: „vier Wohneinheiten für die beiden Parzellen Nrn. ... und ...“) nicht notwendige Begrenzung der Zahl der Wohneinheiten eintritt, wäre daher mit Art. 14 GG nicht zu vereinbaren.

42

3. Selbst wenn der Bebauungsplan „A...“ in dem von der Beklagten gewünschten Sinne zu verstehen und somit rechtlich von einem Grundstück auszugehen wäre, hätte der Kläger aber jedenfalls nach § 31 Abs. 2 BauGB einen Anspruch auf Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans, da die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und die Abweichung städtebaulich vertretbar ist.

43

Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab (BVerwG, Beschluss vom 19. Mai 2004 – 4 B 35.04 –, BeckRS 2004, 22801; Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB § 31 Rn. 35). Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwider läuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessensgeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist. Die Befreiung kann nicht ein Instrument dafür sein, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Sie darf – jedenfalls von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind – nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 05. März 1999 – 4 B 5.99 –, juris). Mit diesem Erfordernis des Erhalts der Grundzüge der Planung sowie mit den Beschränkungen auf bestimmte Befreiungstatbestände in den Nrn. 1 bis 3 hat der Gesetzgeber festgelegt, dass im Wege der Befreiung grundsätzlich nur im Rahmen von bestimmten Korrekturen von den Festsetzungen des Bebauungsplans abgewichen werden kann, die nicht generell den Zielen und Zwecken des Bebauungsplans und seinen Festsetzungen widersprechen (Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB § 31 Rn. 29).

44

Hier besteht das planerische Grundkonzept der Beigeladenen, wie ausgeführt, darin, ein gewisses Maß der baulichen Verdichtung nicht zu überschreiten. Es soll verhindert werden, dass in Bauplangebieten, die überwiegend für Ein- und Zweifamilien-Wohnhäuser erschlossen wurden, ohne weiteres unter Ausnutzung des Baurechts durch eine stark verdichtete Bauweise großvolumige Mehrfamilienhäuser mit 10 bis 12 Wohnungen einem Gebäude auf einem Grundstück entstehen (vgl. dazu die oben zitierte Begründung zum Bebauungsplan „A...“). Hinsichtlich der Grundstücke des Klägers war dieses planerische Grundkonzept derart umgesetzt worden, dass für die Parzellen Nrn. .. und .. zusammen vier Wohneinheiten zulässig sein sollten. Gegen dieses planerische Grundkonzept wird aber durch die Verwirklichung des klägerischen Vorhabens nicht verstoßen; es wird vielmehr in jeder Hinsicht beachtet. Mit der rechtlichen Fiktion der Grundstückseinheit wird dieser planerische Grundgedanke sogar – wie ausgeführt – ohne sachliche Notwendigkeit verschärft.

45

Die Befreiung ist auch städtebaulich vertretbar im Sinne von § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB. „Städtebauliche Vertretbarkeit“ im Sinne dieser Norm bedeutet, dass die Befreiung mit einer geordneten städtebaulichen Entwicklung gemäß den Grund-sätzen des § 1 BauGB, insbesondere mit dem Abwägungsgebot (§ 1 Abs. 7 BauGB) vereinbar sein muss. Die Abweichung muss etwa zu dem nach § 1 BauGB zulässigen Inhalt des konkreten Bebauungsplans, von dem abgewichen wird, gemacht werden können, wobei wiederum die Grundzüge der Planung nicht berührt werden dürfen (st. Rspr.; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1998 – 4 C 16.97 –, NVwZ 1999, S. 981, 984; s.a. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB § 31 Rn. 47 m.w.N.). Auch diese Voraussetzungen sind hier erfüllt: Durch die Zulassung von vier Wohneinheiten wäre, wie ausgeführt, die nach dem Plan gewünschte städtebauliche Entwicklung in keiner Weise gefährdet.

46

Darüber hinaus wäre die Begrenzung der Zahl der Wohnungen auf drei mit einer offenbar nicht beabsichtigten Härte für den Kläger verbunden. Die Möglichkeit, dass ein Grundstückeigentümer durch die Eintragung einer Vereinigungsbaulast eine Verringerung der Zahl der Wohneinheiten von vier auf drei hinnehmen muss, obwohl er unter Zugrundelegung der Buchgrundstücke maximal vier Wohneinheiten hätte errichten können, hat der Satzungsgeber hier offensichtlich nicht berücksichtigt. Diese ungewollte Beschränkung war auch von seinem Schutzzweck her nicht erforderlich, da, wie oben ausgeführt, das Maß der mit dem Bebauungsplan beabsichtigten Verdichtung nicht überschritten wird. Die Voraussetzung für die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB liegen somit vor.

47

Der Kläger hat auch einen Anspruch darauf, dass ihm eine Genehmigung im Wege der Befreiung erteilt wird. Dazu hat der Senat mit Urteil vom 29. November 2012 – 1 A 10543/12.OVG – folgendes ausgeführt:

48

„…Zwar liegt die Entscheidung über die Erteilung einer Befreiung dem Wortlaut nach („kann“) im Ermessen der Baugenehmigungsbehörde, so dass das Vorliegen der Voraussetzungen allein für die Erteilung einer Befreiung noch keinen Anspruch auf die Befreiung vermittelt (BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 – 4 C 17.90 –; Urteil vom 19. September 2002 – 4 C 13.01 –; BGH, Urteil vom 25. November 1982 – III ZR 55.87 –, BauR 1983, 231). Sind bei einem Bauvorhaben, das den Festsetzungen eines Bebauungsplans einer Gemeinde widerspricht, die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Befreiung erfüllt und kommen für die Gemeinde Nachteile durch eine Zulassung des Vorhabens nicht in Betracht, so kann sich das von ihr auszuübende Ermessen u. U. dahingehend verdichten, dass sie zur Erteilung einer Befreiung verpflichtet ist. Dies berücksichtigt, dass wegen des Umfangs der Anwendungsvoraussetzungen für die Erteilung von Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB die Spielräume für zusätzliche Erwägungen bei Ausübung des Ermessens tendenziell gering sind, da die für die drei Befreiungstatbestände verlangten Voraussetzungen nahezu erschöpfend sind (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 02. April 2004 – 10 A 3502/02 –, juris)…“

49

Daran wird festgehalten. Die Ausübung des Ermessens auf Befreiung muss sich an Art. 14 Abs. 1 GG messen lassen; sie darf nicht dazu führen, dass die Nutzbarkeit einer vorhandenen und verwertbaren Gebäudesubstanz verhindert wird, wenn dem nicht berechtigte und mehr als geringfügige Belange entweder des Allgemeinwohls oder eines Nachbarn entgegenstehen (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 1993 – III. ZR 54/92 –, juris).

50

Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung ist das der Baugenehmigungsbehörde eingeräumte Ermessen „auf Null“ reduziert, weil hier gegen die Befreiung sprechende Interessen mit städtebaulichem Bezug oder solche der Beigeladenen nicht geltend gemacht worden, aber auch nicht ersichtlich sind. Da die hier hinter der fraglichen Regelung des Bebauungsplans stehende Vorstellung von einer Begrenzung der baulichen Verdichtung durch das Vorhaben des Klägers, wie ausgeführt, in vollem Umfang berücksichtigt wird, muss die Verweigerung der Befreiung vielmehr als willkürlich erachtet werden.

51

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Da die Beigeladene keine Anträge gestellt hat, erscheint es nicht als angemessen, der Beklagten auch deren außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.

52

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

53

Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO bezeichneten Art nicht vorliegen.

Beschluss

54

Der Wert des Streitgegenstandes für das Berufungsverfahren wird auf 10.000,00 € festgesetzt (vgl. § 52 Abs. 1 GKG).

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen