Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (7. Senat) - 7 A 11602/19.OVG
Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 3. September 2019 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Durchführung des Verfahrens auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Gründe
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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Die vom Kläger formulierten Fragen rechtfertigen die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) nicht.
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1. Diese Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn der Streitfall die Entscheidung einer klärungsbedürftigen und klärungsfähigen Rechts- oder Tatsachenfrage erfordert, die sich in einer Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. November 2008 – 1 BvR 2587/06 –, juris, Rn. 19; Beschluss des Senats vom 30. September 2019 – 7 A 11012/19.OVG –, ESOVGRP, Rn. 4). Ausreichend dargelegt ist die grundsätzliche Bedeutung nur, wenn eine konkrete Frage zur Rechtslage oder zur Tatsachenfeststellung formuliert und aufgezeigt wird, weshalb sie bislang höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärte Probleme aufwirft, die über den Einzelfall hinaus bedeutsam sind und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Fortentwicklung des Rechts in einem Berufungsverfahren geklärt werden müssen (vgl. Beschluss des Senats vom 17. Januar 2020 – 7 A 10921/18.OVG – juris, Rn. 3).
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2. Die erste Frage,
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ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Überstellung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen nach Italien, die dort bereits internationalen Schutz erhalten haben, gegen Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) bzw. Art. 3 EMRK verstößt,
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verleiht der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung.
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a) Die Frage ist nicht klärungsfähig.
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Diese Eigenschaft fehlt einer Rechts- oder Tatsachenfrage unter anderem dann, wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25/18 –, juris, Rn. 5). Dies trifft auf die gestellte Frage zu. Sie entzieht sich einer fallübergreifenden Klärung, da sie sich nur anhand der individuellen Umstände des Einzelfalls beantworten lässt (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. Juli 2020 – 19 A 1553/19.A –, Rn. 6).
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Die Frage betrifft nach Wortlaut und Begründung die allgemeinen Lebensumstände in Italien. Diese sind weder bei der Prüfung allein maßgeblich, ob ein Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wegen in einem anderen Mitgliedstaat der EU bereits erfolgter Schutzgewährung unzulässig ist, noch bei der Prüfung, ob ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt. Denn jeder Mitgliedstaat darf – vorbehaltlich außergewöhnlicher Umstände – davon ausgehen, dass die allgemeinen Lebensverhältnisse in den anderen Mitgliedstaaten dem Unionsrecht und den dort anerkannten Grundrechten entsprechen. Maßgeblich ist nicht die allgemeine Situation im Zielstaat, sondern es sind die Lebensumstände, die den Schutzberechtigten im Speziellen erwarten (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 34.19 –, juris, Rn. 16).
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Das entspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Systemische oder vergleichbare Schwachstellen bei der Versorgung anerkannter Schutzberechtigter verletzen danach nur dann Art. 3 EMRK – der Art. 4 GRC entspricht –, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht wird, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Dies ist der Fall, wenn eine völlig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in extremer materieller Not wiederfindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen und die ihre Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Die Situation muss einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der betroffenen Person gleichkommen (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim –, Rn. 89 f.; und – C-163/17, Jawo –, Rn. 91 f.; ebenso BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 34.19 –, Rn. 19; alle juris). Die Prüfung, ob eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegt, erschöpft sich nicht in der Bewertung der allgemeinen Verhältnisse im Mitgliedstaat und der Feststellung, ob Schwachstellen der oben genannten Art vorliegen. Es ist immer zu bewerten, ob gerade der Betroffene konventionswidrig der Gefahr extremer Not ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 34.19 –, juris, Rn. 21).
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Diese Bewertung kann nur für jeden einzelnen Fall individuell getroffen werden. Die Schwelle für die Annahme einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, also das „Mindestmaß an Schwere“ der Rechtsbeeinträchtigung, ist relativ und nach allen Umständen des jeweiligen Falls zu bestimmen (vgl. BayVGH, Beschluss vom 9. Januar 2020 – 20 ZB 18.32705 –, juris, Rn. 7). Denn es hängt von einer Vielzahl von Einzelumständen ab, wie sich die Situation bei einer Rückkehr in den anderen Mitgliedstaat darstellt. Dies gilt vor allem in Bezug auf die Erwerbsmöglichkeiten und den Umfang der Angewiesenheit auf staatliche Unterstützung. Dabei sind individuelle Faktoren wie die folgenden ausschlaggebend: Vorhandensein und Anzahl betreuungsbedürftiger Kinder, Unterstützungsmöglichkeiten durch Familie oder Freunde, Vermögen, Geschlecht, Ethnie, Alter, Ausbildung, Berufserfahrungen, Sprachkenntnisse, Gesundheitszustand (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. Juli 2020 – 19 A 1553/19.A –, Rn. 6; SaarlOVG, Beschluss vom 16. März 2020 – 2 A 324/19 –, Rn. 12; beide juris).
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Die Bewertung der individuellen Rückkehrsituation ist vorrangig gegenüber einer Prüfung der allgemeinen Lebenssituation. Art. 3 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten nicht, jeden Schutzberechtigten mit einer Wohnung zu versorgen oder finanziell zu unterstützen. Schlechte Lebensbedingungen führen nur dann zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK, wenn der Betroffene in einem völlig fremden Umfeld vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25/18 –, juris, Rn. 10 f.). Die allgemeine Situation im anderen Mitgliedstaat samt der Leistungsfähigkeit der staatlichen Unterstützungssysteme ist nicht entscheidungserheblich, sofern für den Schutzberechtigten ausreichende Möglichkeiten bestehen, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dieses Prüfprogramm folgt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Er nimmt einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK ebenfalls nur dann an, wenn die betroffene Person vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig ist (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim –, Rn. 90; und – C-163/17, Jawo –, Rn. 92; beide juris).
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b) Die Frage rechtfertigt aus weiteren Gründen nicht die Zulassung der Berufung.
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Mit dieser auf die allgemeine Situation in Italien abzielenden Frage wendet sich der Kläger der Sache nach gegen die gerichtliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Für die Beantwortung der Frage wäre nur Raum, wenn die vom Verwaltungsgericht genutzten Informationsmittel lücken- oder deren Auswertung fehlerhaft wäre.
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Somit kann in die Frage einerseits der Einwand mangelhafter Sachverhaltsaufklärung hineingelesen werden. Ein derartiger Mangel kann allenfalls ausnahmsweise den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzen und dann die Zulassung der Berufung rechtfertigen (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO). Voraussetzung ist ein besonders schwerwiegender Mangel, der anzunehmen ist, wenn sich eine weitere Aufklärung hätte aufdrängen müssen (vgl. Beschluss des Senats vom 3. April 2020 – 7 A 10303/20.OVG –, n.v.). Der Kläger hat im erstinstanzlichen Verfahren keine Gesichtspunkte benannt, denen das Verwaltungsgericht hätte nachgehen sollen. Solche sind auch außerhalb des klägerischen Vorbringens nicht erkennbar. Überdies findet sich kein Grund, weshalb die vom Verwaltungsgericht herangezogenen Unterlagen für die Entscheidung im Fall des Klägers unzureichend gewesen sein sollten.
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Andererseits macht der Kläger mit der Frage indirekt Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils geltend. Dies zeigt sich auch an seiner Wortwahl („anderer Ansicht“, „entgegen der Rechtsauffassung“). Das Verwaltungsgericht hat nach Auswertung der ihm zur Verfügung stehenden Auskünfte festgestellt, anerkannte Schutzberechtigte hätten in Italien Zugang zum Arbeitsmarkt (UA, S. 8), und es hat speziell für den Kläger daraus abgeleitet, er sei nicht vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig (UA, S. 13). Mit seiner Frage unterstellt der Kläger, dass das angegriffene Urteil auf einer fehlerhaften Auswertung der Unterlagen beruht. Wäre die Auswertung nämlich auch aus seiner Sicht zutreffend, bedürfte es einer erneuten Klärung der allgemeinen Situation in Italien nicht. Die Ergebnisrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung ist im asylgerichtlichen Verfahren allerdings kein Zulassungskriterium. Es findet sich unter den in § 78 Abs. 3 AsylG abschließend aufgezählten Zulassungsgründen nicht (vgl. SaarlOVG, Beschluss vom 16. März 2020 – 2 A 324/19 –, juris, Rn. 15).
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c) Die Begründung der ersten Frage führt zu keinem anderen Ergebnis.
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Aus der behaupteten sozialhilferechtlichen Ungleichbehandlung zwischen italienischen Staatsbürgern und Schutzberechtigten in Bezug auf das „Bürgergeld“ ergibt sich keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Aus einer solchen Ungleichbehandlung ergäbe sich nicht automatisch eine Verletzung von Art. 3 EMRK, die es rechtfertigen würde, den Betroffenen gerade nicht auf den bereits in Italien gewährten Schutz zu verweisen. Der Senat nimmt zur weiteren Begründung auf seinen Beschluss vom 20. Mai 2020 (– 7 A 10228/20.OVG –, juris, Rn. 15) Bezug. Dort ist folgendes ausgeführt:
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Nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs knüpft die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC, der Art. 3 EMRK nach Bedeutung und Tragweite entspricht (s. Art. 52 Abs. 3 GRC), an andere Voraussetzungen an als die Feststellung eines Verstoßes gegen die Regelungen in Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikation-RL), zu denen das Gebot sozialhilferechtlicher Gleichbehandlung in Art. 29 Abs. 1 Qualifikation-RL gehört. <…> Danach kann der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse im anderen Mitgliedstaat nicht den Bestimmungen von Kapitel VII Qualifikation-RL gerecht werden, angesichts der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens in das europäische Asylsystem nicht dazu führen, den weiteren Schutzantrag nicht als unzulässig ablehnen zu dürfen (vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 – C-540/17, Hamed –, juris, Rn. 36). <…>
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3. Die zweite Frage,
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ob bei einem leistungsfähigen und sich im arbeitsfähigen Alter befindenden männlichen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der in Italien internationalen Schutz erhalten hat, die Überstellung nach Italien einen Verstoß gegen Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) bzw. Art. 3 EMRK darstellt,
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ist ebenfalls nicht klärungsfähig. Insoweit wird auf die Ausführungen zur ersten Frage verwiesen. Auch die zweite Frage ist einer fallübergreifenden Klärung nicht zugänglich. Sie lässt sich trotz der Beschränkung auf leistungs- und arbeitsfähige Männer nicht ohne Berücksichtigung weiterer einzelfallbezogener Faktoren wie zum Beispiel der individuellen Sprachkenntnisse und Berufserfahrungen beantworten.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; gemäß § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar; damit wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
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Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren ist nach den vorstehenden Ausführungen mangels hinreichender Erfolgsaussichten abzulehnen (§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Referenzen
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- 2 A 324/19 2x (nicht zugeordnet)
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- VwGO § 152 1x
- 7 A 10228/20 1x (nicht zugeordnet)
- § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 1 B 25/18 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 166 1x
- VwGO § 154 1x
- 19 A 1553/19 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 138 1x
- 7 A 10921/18 1x (nicht zugeordnet)
- 7 A 11012/19 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 114 Voraussetzungen 1x
- 1 BvR 2587/06 1x (nicht zugeordnet)
- § 78 Abs. 3 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
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