Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 MB 52/21
Tenor
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 1 . Kammer - vom 30. August 2021 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
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Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 30. August 2021 hat keinen Erfolg. Jedenfalls stellen die zu ihrer Begründung dargelegten und an § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO zu messenden Gründe, die allein Gegenstand der Prüfung durch den Senat sind (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), das Ergebnis des angefochtenen Beschlusses nicht in Frage.
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1. Mit der Beschwerde begehren die Antragstellerinnen weiterhin, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage im Verfahren 1 A 95/21 gegen die erfolgte Ablehnung der von ihnen beantragten Aufenthaltserlaubnisse anzuordnen. Dieses Begehren hat schon deshalb keinen Erfolg, weil das Verwaltungsgericht den darauf gerichteten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mangels Beschwer als unzulässig abgelehnt hat und die Beschwerdebegründung sich damit entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht auseinandersetzt. Da die Antragstellerinnen die Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses insoweit ausdrücklich dahingestellt sein lassen, besteht auch für den Senat kein Anlass, hierauf weiter einzugehen.
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2. Die Antragstellerinnen meinen aber, dass ihr Hilfsantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO mit dem Ziel, der Antragsgegnerin aufzugeben, vorläufig keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen sie einzuleiten oder durchzuführen, zum Erfolg führe.
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a. Zumindest stehe der Antragstellerin zu 1 ein sicherungsfähiger Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG zu, da sie die Integrationsanforderungen erfülle. Sie halte sich bereits seit dem Jahre 2015 im Bundesgebiet auf und sei seit Oktober 2020 als Hauswirtschaftskraft erwerbstätig, so dass der Lebensunterhalt gesichert sei. Eine besondere Integrationsleistung liege darin, dass sie dies als alleinerziehende Mutter bewerkstellige. Eines Nachweises über hinreichende Deutschkenntnisse, wie sie das Verwaltungsgericht fordere, bedürfe es nicht. Diese seien in direkten Gesprächen mit der Antragsgegnerin und durch die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung glaubhaft gemacht worden.
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Daraus ergibt sich noch nicht, dass die Antragstellerin zu 1 die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG gegenwärtig bereits vollständig erfüllt mit der Folge, dass diese für die Dauer des Verfahrens aufrechtzuerhalten wären, um den anzunehmenden Integrationserfolg nicht zu gefährden.
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Im Rahmen des Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist der Anordnungsanspruch gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 und § 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft zu machen, wobei sich die geschuldete Glaubhaftmachung auf die einschlägigen Tatsachenfeststellungen bezieht. Ein Sachverhalt ist glaubhaft gemacht, wenn die Richtigkeit einer Tatsache überwiegend wahrscheinlich ist (OVG Schleswig, Beschl. v. 08.10.1992 - 4 M 89/92 -, juris Rn. 6) oder sich die Erfolgsaussichten der Hauptsache jedenfalls als offen darstellen (OVG Schleswig, Beschl. v. 22.12.2017 - 4 MB 63/17 -, juris Rn. 22; Beschl. v. 14.10.2021 - 4 MB 49/21 -, juris Rn. 29). Selbst letzteres ist hier nicht der Fall.
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Maßgeblicher Zeitpunkt für diese Beurteilung ist der der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis bzw. der der gerichtlichen Entscheidung (BVerwG, Urt. v. 18.12.2019 - 1 C 34.18 -, BVerwGE 167, 211 ff., juris Rn. 19).
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aa. Problematisch erscheint bereits der nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG regelmäßig zu fordernde achtjährige bzw. sechsjährige geduldete, gestattete oder erlaubte Voraufenthalt, der bis hin zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ununterbrochen fortgedauert haben muss (BVerwG a.a.O. Rn. 34). Entgegen der Behauptung der Beschwerde liegt die erforderliche Voraufenthaltszeit keineswegs unstreitig vor. Dies hat auch das Verwaltungsgericht nicht angenommen, die Frage selbst aber offengelassen. Für die Berechnung stellt der Antragsgegner für die Einreise der Antragstellerin zu 1 auf den 30. August 2015 ab und verneint deshalb im Bescheid vom 29. Juni 2021 einen auch nur sechsjährigen Voraufenthalt. Dem tritt die Beschwerde nicht entgegen. Hiervon ausgehend wäre ein sechsjähriger Voraufenthalt auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt zweifelhaft, da die Antragstellerin zu 1 gegenwärtig nicht geduldet ist. Nach dem erstinstanzlichen Vortrag des Antragsgegners ist die Duldung seit dem 20. Juli 2021 widerrufen. Dass der Antragsgegner ihr eine – ebenfalls als Duldung anzusehende (vgl. BVerwG a.a.O. Rn. 28 zur Duldung i.S.d. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG) – Verfahrensduldung ausgestellt hätte, ist nicht vorgetragen und auch nicht anzunehmen, da er nach erstinstanzlichem Bekunden weiterhin die Abschiebung der Antragstellerinnen betreibt. Zudem ist nach dem Vorbringen des Antragsgegners unklar, wo sich die Antragstellerinnen seit dem Abschiebungsversuch am 20. Juli 2021 bis heute aufhalten. Eine über das Bestreiten hinausgehende substantiierte Äußerung etwa zu der Frage, wie sie die ihnen zugewiesene Wohnung nutzen, nachdem das Schloss ausgetauscht und sie keinen Schlüssel mehr dazu haben, liegt nicht vor.
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bb. Nicht ausreichend glaubhaft gemacht sind des Weiteren die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG. Richtig ist zwar, dass die geforderten (nur) mündlichen Deutschkenntnisse auf dem Niveau der Stufe A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens nicht nur durch die Vorlage eines entsprechenden Sprachtestzeugnisses belegt werden können, sondern auch durch eine praktisch mögliche Verständigung mit der Ausländerbehörde über einfache Sachverhalte und ohne Dolmetscher. Ebenso kann sich das Bestehen der erforderlichen Sprachkenntnisse auch aus den Umständen ergeben, z.B. dann, wenn der oder die Betroffene an einer deutschsprachigen Hochschule oder Fachhochschule studiert oder eine deutschsprachige Berufsausbildung absolviert, die regelmäßig die Fähigkeit zur selbstständigen Sprachverwendung in Alltagsgesprächen und im Beruf voraussetzt (Kluth in BeckOK Ausländerrecht, 30. Ed. 01.07.2021, § 25b AufenthG Rn. 23; Röcker in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 25b AufenthG Rn. 25 f.). Dergleichen hat die Antragstellerin zu 1 allerdings nicht glaubhaft gemacht. Sie beschränkt sich vielmehr auf die Behauptung, dass sich die Ausländerbehörde mehrfach von ihren ausreichenden Sprachkenntnissen habe überzeugen können, ohne dies aber in irgendeiner Form zu plausibilisieren oder nachvollziehbar zu belegen. Auch findet sich in den Gerichtsakten keine entsprechende Bestätigung vonseiten des Antragsgegners. Allein die Dauer des Aufenthalts oder die Tatsache, dass die Antragstellerin seit Oktober 2020 als Hauswirtschaftskraft tätig ist (oder war), stellen ebenfalls keine Umstände dar, aus denen mit der gebotenen Sicherheit auf vorhandene mündliche Deutschkenntnisse geschlossen werden könnte. Es ist insbesondere weder ersichtlich noch dargelegt, dass die Fähigkeit zur Verständigung in Alltagsgesprächen hierfür vorausgesetzt wird.
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cc. Ungeklärt wäre im Übrigen, ob der Lebensunterhalt der Antragstellerin zu 1 auch noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt überwiegend durch Erwerbstätigkeit gesichert ist (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG). Ausweislich der im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Unterlagen war der Arbeitsvertrag vom 15. Oktober 2020 bis zum 14. Oktober 2021 befristet, ohne dass vorgetragen wird, dass er verlängert worden wäre. Aus den dem Gericht vorliegenden Gehaltsabrechnungen ergibt sich nichts Anderes; sie beziehen sich auf die Monate März bis Mai 2021. Völlig unbehandelt ist schließlich die Frage, ob sich die Antragstellerin zu 1 zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG).
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dd. Unter den gegebenen Umständen kann vorliegend nicht von einer nachhaltigen Integration ausgegangen werden. Zwar müssen die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur „regelmäßig“ gegeben sein, so dass das Fehlen einzelner Voraussetzungen im Einzelfall durch besondere Integrationsleistungen von vergleichbarem Gewicht kompensiert werden kann, indem diese "übererfüllt" werden (BVerwG a.a.O. Rn. 32), doch lässt sich dies dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen. Allein der Umstand, dass die Antragstellerin zu 1 als alleinerziehende Mutter seit Oktober 2020 als Hauswirtschaftskraft arbeitet, genügt für eine Kompensation der oben aufgeworfenen Mängel nicht, zumal sich ihre Arbeitszeit auf 15 Stunden / Woche beschränkt.
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ee. Nach alledem kommt es nicht mehr darauf an, ob die Antragstellerin zu 1 gegenwärtig überhaupt „geduldet“ ist i.S.d. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG oder ob ihr – was nach Vorgesagtem aber kaum in Frage kommt – aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) wenigstens ein Anspruch auf eine solche Verfahrensduldung zusteht und eine Abschiebung i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG deshalb aus rechtlichen Gründen unmöglich ist (vgl. zu alledem OVG Schleswig, Beschl. v. 01.10.2021 - 4 MB 42/21 -, Rn. 34 ff. m.w.N.).
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b. Schließlich ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen auch nicht, dass der im Jahre 2016 geborenen Antragstellerin zu 2 entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ein sicherungsfähiger Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG und ein Abschiebungsverbot wegen rechtlicher Unmöglichkeit nach § 60a Abs. 2 AufenthG zustehen könnte.
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Dass der geltend gemachte Schutz familiärer Bindungen – hier zum nichtehelichen und nicht sorgeberechtigten Vater der Antragstellerin zu 2 – aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht an bloße formal-rechtliche familiäre Bindungen anknüpft, sondern eine tatsächlich bestehende familiäre Lebens- und Erziehungsgemeinschaft verlangt, stellt die Beschwerde nicht in Abrede. Ebenfalls räumt sie ein, dass eine solche Gemeinschaft zwischen Vater und Tochter nicht besteht. Sie meint aber, dass der Antragstellerin zu 2 nach einer Abschiebung die Möglichkeit genommen werde, einen Kontakt mit ihrem Vater aufzubauen, obwohl sie dies eventuell künftig wünschen werde. Erschwerend komme hinzu, dass der Vater Aserbaidschaner sei und seinerseits keine Möglichkeit habe, sich zu seiner Tochter nach Armenien zu begeben. Das Verwaltungsgericht hat diesen Aspekt jedoch nicht außer Acht gelassen, die in den Raum gestellte Aussicht aber als zu vage eingestuft, als dass sich daraus gegenwärtig ein Abschiebungsverbot ergeben könnte. Damit setzt sich die Beschwerde nicht auseinander. Allein die Wiederholung erstinstanzlichen Vorbringens vermag die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Argumentation nicht in Frage zu stellen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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