Urteil vom Sozialgericht Karlsruhe - S 4 VG 404/08

Tenor

Der Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region Oberbayern vom 18. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Zentrums Bayern Familie und Soziales - Landesversorgungsamt - vom 10. Januar 2008 wird aufgehoben und der Beklagte im Wege des Zugunstenverfahrens verurteilt, den Ausführungsbescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung München I vom 19. Juli 1999 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 11. November 2002 abzuändern und der Klägerin Leistungen nach dem OEG auf der Grundlage eines rein medizinisch begründeten GdS von 80 v. H. in gesetzlichem Umfang für die Zeit ab dem 1. Juni 2009 (ambulante Untersuchung bei Prof. Dr. ... am 15. Juni 2009) zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin 1/4 der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

 
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ab wann und in welcher Höhe der Beklagte der Klägerin Versorgung nach den Bestimmungen des Opferentschädigungsgesetzes - OEG - und des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - zu gewähren hat.
Die am ... geborene Klägerin erlernte nach Realschulabschluss und anschließendem Besuch eines Wirtschaftsgymnasium den Beruf der Medizinisch-Technischen Assistentin. Die Ausbildung absolvierte sie in der Zeit von 1973 bis 1975. Anschließend war sie im erlernten Beruf tätig. 1978 bewarb sie sich beim Deutschen Entwicklungsdienst, bestand dort die Eingangsuntersuchung und erhielt die Zusage, die nächst freiwerdende Stelle zu erhalten. 1978 lernte sie dann auch ihren späteren Ehemann kennen. Diesen heiratete sie im März 1979, nachdem der Klägerin vom Deutschen Entwicklungsdienst bedeutet worden sei, falls sie und ihr Mann - ein Mechaniker und Dreher - am selben Einsatzort eingesetzt werden wollten, müssten sie verheiratet sein. Deshalb habe sie sich für die Ehe entschieden. Im April/ Mai 1979 ließ die Klägerin eine Schwangerschaftsunterbrechung in den Niederlanden durchführen. Ihre Ehe wurde sodann am 13. Dezember 1979 geschieden.
Von Januar bis März 1980 absolvierte die Klägerin einen Vorbereitungskurs für die Tätigkeit als Medizinisch-Technische Assistentin in Übersee mit Praktikum am Tropeninstitut Heidelberg und am Institut für Tropenkrankheiten Hamburg. Anschließend war die Klägerin von April 1980 bis März 1982 für den Deutschen Entwicklungsdienst in Afrika (Elfenbeinküste und Togo) im Einsatz. Am ... kam dort auch ihr Sohn per Kaiserschnitt zur Welt. Der Vater sei ein Deutschprofessor am örtlichen Gymnasium gewesen, mit dem sie befreundet gewesen sei. Ab April 1982 war die mit ihrem Sohn nach Deutschland zurückgekehrte Klägerin wieder berufstätig, zunächst in Teilzeit als MTA, später als ärztliche Schreibkraft.
Im Oktober/November 1991 unterzog sie sich einer Nasenseptumdeviation in der HNO-Klinik Karlsruhe. Im Operationsbericht hieß es, wahrscheinlich liege bei der Klägerin eine „alte Nasenseptumstückfraktur“ vor. Postoperativ litt die Klägerin sodann an einer abnormen Schläfrigkeit sowie einem Harnverhalt. Deshalb wurde sie in die Urologische Klinik des Städt. Klinikums überwiesen, wo eine passagere postoperative Miktionsstörung unklarer Ursache diagnostiziert wurde. Nach dreitägigem stationären Aufenthalt wurde die Klägerin entlassen. Im Februar 1992 wurde die Klägerin dann für 10 Tage wegen schwerer neurotischer Depression bei vielfältigen Lebensproblemen (alleinstehend und alleinerziehend, ablehnende Haltung der Eltern gegenüber dem 10jährigen Mischlingskind, Gefühl am Leben gescheitert zu sein) stationär in der Neurologischen Rehabilitationsklinik Karlsbad-Langensteinbach behandelt. Darauf folgte eine stationären psychiatrische Behandlung im Städt. Klinikum Karlsruhe in der Zeit vom 28. März bis zum 14. April 1992. Im Entlassbericht lauteten die Diagnosen: Zustand nach mehrfachen Suizidhandlungen bei paranoider Episode sowie Essstörung bei neurotischer Entwicklung.
Von der Psychiatrischen Klinik des Städt. Klinikums Karlsruhe wurde die Klägerin für die Zeit vom ... in die Psychosomatische Klinik Schömberg stationär überwiesen. Die Diagnosen hier lauteten: Schwere Persönlichkeitsstörung, Essstörung und Zustand nach psychotischer Episode. Im Entlassbericht der Klinik Schömberg hieß es, die Klägerin habe sich schon während ihrer Kindheit und Jugendzeit „nie geliebt gefühlt“. Sie sei von anderen Kindern und auch von ihren Eltern gedemütigt worden; mit 13 Jahren sei es zu einem ersten Selbstmordversuch gekommen. Sie habe sich autoaggressive Handlungen an verborgenen Stellen des Körpers zu, z. B. durch Schnitte zugefügt. Sie leide unter immer wieder auftretenden quälenden Angstausbrüchen.
In der Zeit von April bis Juni 1993 kam es zu einem weiteren zweimonatigen stationären Aufenthalt der Klägerin in der Psychosomatischen Klinik Schömberg. Dabei wurde einfach Persönlichkeitsstörung als Diagnosegrund mitgeteilt.
In der Zeit von Juni 1994 bis März 1995 suchte die Klägerin Hilfe und Behandlung in der Ambulanten Anlaufstelle für vergewaltigte Frauen der Universitätsfrauenklinik in Freiburg. Außerdem unterzog sich die Klägerin in der Zeit zwischen dem 30. Juni 1994 und dem 6. März 1995 einer ambulanten Behandlung bei der Diplom-Psychologin ..., die in ihrer sachverständigen Zeugenaussage vom 2. Januar 1998 im Verfahren S 3 VG 344/97 vor dem Sozialgericht Karlsruhe berichtete, die Klägerin in diesem Zeitraum mittels 26 Therapiegesprächen behandelt zu haben. Dabei habe die Klägerin bereits im Erstgespräch glaubhaft die typischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung nach einer Vergewaltigung durch ihren damaligen Ehemann und einem weiteren ihr unbekannten Mann geschildert. Zu dieser schweren Vergewaltigung sei es im Jahre 1979 gekommen.
Am 19. April 1996 beantragte die Klägerin beim Beklagten sodann formblattgemäß die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Zur Begründung trug sie vor, sie leide an schweren Persönlichkeitsstörungen. Ursache hierfür sei eine im Juni 1979 durch ihren damaligen Ehemann zusammen mit dessen Freund erfolgte brutale Vergewaltigung. Sowohl der Ehemann als auch dessen Freund seien alkoholisiert gewesen. Der Ehemann habe ihr anlässlich der Vergewaltigung zudem das Nasenbein gebrochen. Zu einer Anzeige und/oder zum Aufsuchen eines Arztes sei sie aufgrund des Schockzustands und auch aus Scham damals nicht in der Lage gewesen. Erst die im Jahre 1991 erfolgte Operation der Nasenbeinstückfraktur habe bei ihr zu einer psychischen Veränderung geführt. Bis dahin sei es ihr gelungen, das Erlebte zu verdrängen. Strafanzeige habe sie damals nicht erstattet.
Der vom Beklagten befragte Vater der Klägerin berichtete in seinem Schreiben vom 4. August 1996 über einen regelmäßigen und starken Alkoholkonsum des damaligen Ehemanns der Klägerin. Auch habe er bei einem Vorfall Ende März Anfang April 1979 rote, deutlich geschwollene Stellen im Gesicht der Klägerin, seiner Tochter, gesehen.
10 
Mit Bescheid vom 19. Juli 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Januar 1997 lehnte der Beklagte die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz ab. Zur Begründung führte er aus, aussagefähige Angaben oder Beweismittel zum behaupteten Vergewaltigungsvorgang seien nicht vorhanden. Insbesondere gäbe es keine polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Akten. In den beigezogenen ärztlichen Berichten werde zudem von Befunden ausgegangen, die in keinem Zusammenhang mit dem angeschuldigten Vergewaltigungsvorgang stünden.
11 
Die dagegen beim Sozialgericht Karlsruhe unter dem Aktenzeichen S 3 VG 344/97 erhobene Klage veranlasste das Sozialgericht, die Klägerin durch die Neurologen und Psychiater Dres. ... gutachtlich untersuchen zu lassen. Diese diagnostizierten bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung, die sie auf die wahrscheinlich im Juni 1979 stattgehabte Vergewaltigung der Klägerin durch ihren damaligen Ehemann und dessen Freund mit Wahrscheinlichkeit zurückführten. Dabei vermuteten die Sachverständigen, dass die Klägerin bereits ab 1979 an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten habe, sich aber zunächst „über Jahre ein einigermaßen stabiles Schutzsystem“ aufgebaut habe. Anlässlich der Nasenseptumoperation sei es dann zu einem „Flashback“ gekommen. Die Klägerin sei zwar nach der Vergewaltigung bereits ohne größere psychische Belastungen an den Mandeln operiert worden. Diese Operation sei aber in Lokalanästhesie durchgeführt worden. Anders bei der Nasenseptumoperation, bei der zum einen die Folgeschäden der im Rahmen der Vergewaltigung erlittenen Nasenbeinfraktur beseitigt worden seien, zum anderen, weil die Klägerin dieses Mal eine Vollnarkose erhalten und somit keine Kontrolle mehr über das gehabt habe, was mit ihr geschehen sei. Daraus werde verständlich, dass damit genau die damaligen Verhaltensweisen und Gefühlsqualitäten wieder auflebten, wie z. B. die Realisations-, die Personalisations- und Dissoziationsphänomene. Die Klägerin sei von dieser Nachhallerinnerung ohne jede Vorbereitung überrascht, ja überflutet und ihr schutzlos ausgeliefert worden. Ihre bis dahin einigermaßen funktionierenden Strategien, wie z. B. das Vermeiden bestimmter Situationen, seien jetzt wirkungslos gewesen. Das Sozialgericht machte sich damals die Einschätzung der Sachverständigen ... und ... zu eigen, hob die angefochtenen Bescheide des Beklagten auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin dem Grunde nach Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz im gesetzlichen Umfang für die Zeit ab dem 1. April 1996 zu gewähren. Das Urteil vom 23. April 1999 (S 3 VG 344/97) wurde rechtskräftig.
12 
In der Folge erließ das Amt für Versorgung und Familienförderung München I zur Ausführung des Urteils des Sozialgerichts Karlsruhe vom 23. April 1999 unter dem 19. Juli 1999 einen Ausführungsbescheid, mit dem es Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz im gesetzlichen Umfang ab dem 1. April 1996 zugunsten der Klägerin bewilligte. Mit weiterem Bescheid vom 23. August 1999 stellte das Amt für Versorgung und Familienförderung München I als Schädigungsfolge nach dem OEG eine posttraumatische Belastungsstörung fest und bestimmte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vom Hundert als Schädigungsfolge zur Berechnung der Versorgungsrente.
13 
Auf den gegen die Höhe der MdE (heute: GdS) erhobenen Widerspruch und das nachfolgende Klage- und Berufungsverfahren vor dem Sozialgericht Karlsruhe und Landessozialgericht Baden-Württemberg - S 4 VG 495/01 und L 11 VG 4364/02 - wurde die Bemessungsgrundlage für die Festlegung der Schädigungsfolge nach Einholung weiterer neurologisch-psychiatrischer Gutachten von Dr. ...(Gutachten vom 8. Februar 2002) und Prof. Dr. ... (Gutachten vom 14. Dezember 2005) sowie Gutachten von Prof. Dr. ... (Gutachten vom 1. März 2007) mit einer rein medizinisch begründeten MdE von 50 vom Hundert für die Zeit ab dem 1. April 1996 (Bescheid des Beklagten vom 11. November 2002) festgestellt und das Begehren der Klägerin im Übrigen abgewiesen.
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Bereits zuvor, am 15. August 2001, hatte die Klägerin beim Beklagten beantragt, die Opferentschädigung vor Antragstellung im April 1996 rückwirkend bis Juni 1979 (Tatnacht) zu gewähren. Zur Begründung trug sie vor, sie sei ohne Verschulden daran gehindert gewesen, den Opferentschädigungsantrag unmittelbar nach dem schädigenden Ereignis im Juni 1979 zu stellen. Dies wolle sie jetzt nachholen. Den Antrag lehnte das Amt für Versorgung und Familienförderung München I - Versorgungsamt - mit Bescheid vom 18. Oktober 2001 ab. Zur Begründung hieß es, das Begehren der Klägerin sei als Antrag auf Rücknahme des Ausführungsbescheides vom 19. Juli 1979 zu verstehen. Grundsätzlich sei es so, dass Leistungen der Opferentschädigung erst ab Antragsmonat zu gewähren seien. Dies sei im vorliegenden Fall geschehen, leiste der Beklagte doch seit April 1996 Opferentschädigung. Ausnahmen seien nur möglich, wenn der Berechtigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert gewesen sei. Daran fehle es bei der Klägerin. Eine rechtzeitige Antragstellung liege nämlich nicht vor, weil die Klägerin die Opferentschädigung nicht innerhalb eines Jahres nach Wahrnehmung und Kenntniserlangung von der Schädigung beantragt habe. Ein Verhinderungsgrund habe nämlich spätestens seit der Retraumatisierung der Klägerin im Jahre 1991 infolge der Nasenseptumoperation nicht mehr vorgelegen. Der Bescheid vom 19. Juli 1999 sei rechtmäßig. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme dieses Bescheides seien nicht gegeben.
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Den dagegen am 22. Oktober 2001 erhobenen Widerspruch wies das Zentrum Bayern Familie und Soziales - Landesversorgungsamt - mit Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 2008 als unbegründet zurück. Selbst unter Berücksichtigung des zeitweise schlechten Gesundheitszustands der Klägerin sei sie auch vor April 1996 in der Lage gewesen, einen Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu stellen. Die Tatsache, dass der Klägerin zunächst niemand die Gewalttat aus dem Jahre 1979 geglaubt habe und ihr die Tat aus 1979 erst Jahre später bewusst geworden sei, stellten keine Verhinderung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 Bundesversorgungsgesetz dar. Es seien insbesondere keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, wonach bei der Klägerin ein 16jähriger psychischer Ausnahmezustand vorgelegen habe, der als „höhere Gewalt“ zu werten gewesen sei.
16 
Am 28. Januar 2008 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben.
17 
Die Klägerin ist weiter der Auffassung, sie sei wegen höherer Gewalt daran gehindert gewesen, den Antrag auf Opferentschädigung vor 1996 zu stellen. Sie sei vor 1996 körperlich so stark traumatisiert gewesen, dass ihr eine vorherige Antragstellung nicht möglich gewesen sei. Dies sei durch psychiatrische Gutachten - möglichst durch eine Ärztin - zu beweisen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass sie in der Zeit zwischen 2002 und September 2007 in der Psychosomatischen Klinik in Heidelberg ambulant behandelt worden sei. Außerdem sei der GdS ab 1979 mit 100 v. H. festzustellen.
18 
Die Klägerin beantragt zuletzt,
19 
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Januar 2008 im Zugunstenverfahren zu verurteilen, den Ausführungsbescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung München I - Versorgungsamt - vom 19. Juli 1999 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 11. November 2002 mit Wirkung für die Vergangenheit abzuändern und ihr Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz auf der Grundlage eines Grades der Schädigung (GdS) in Höhe von 100 vom Hundert bereits ab Juni 1979 (stattgehabtes schädigendes Ereignis) zu gewähren,
20 
hilfsweise ihr ab August 2001 (Datum der Antragstellung) - Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz auf der Grundlage eines GdS in Höhe von 100 vom Hundert zu gewähren,
21 
höchst hilfsweise ihr ab dem 1. Juni 2009 (Untersuchung Prof. Dr. ...) Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz auf der Grundlage eines GdS in Höhe von 100 vom Hundert zu gewähren.
22 
Der Beklagte beantragt,
23 
die Klage abzuweisen.
24 
Er bezieht sich auf die den angefochtenen Bescheiden zugrunde liegenden Ausführungen.
25 
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens von Amts wegen. Das Gutachten hat die Neurologin und Psychiaterin Prof. Dr. ... unter dem 16. Juli 2009 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 15. und 21. Juni 2009 erstattet. Dabei hat Prof. Dr. ... folgende Gesundheitsstörungen auf ihrem Fachgebiet bei der Klägerin diagnostiziert: Schwere posttraumatische Belastungsstörung mit depressiven und ausgeprägten vegetativen Symptomen (Schlafstörungen, Schwitzen, Durchfälle, Juckreiz) sowie Verdacht auf eine dauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung. Die posttraumatische Belastungsstörung sei mit ausreichender Wahrscheinlichkeit durch die schädigenden Einwirkungen der von der Klägerin im Juni 1979 erlittenen Vergewaltigung verursacht worden. Die daneben bei der Klägerin chronisch bestehenden Nackenschmerzen seien wahrscheinlich hingegen unabhängig vom Schädigungsereignis zu sehen und Folge des fortschreitenden Alters der Klägerin.
26 
Die posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin habe zu schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten geführt. Es bestünden Funktionsstörungen in Bezug auf psychische Energie, Schlaf, globale mentale Funktionen, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Emotionen, Wahrnehmung, Denken, Verdauung und Stoffwechsel, sexuelle Funktionen, Hautfunktionen, Stress bei der Benutzung öffentlichen Verkehrsmittel und generell im Hinblick auf die Teilnahme am Leben der Gemeinschaft. Als wirtschaftliche Schädigungsfolge sei zu beachten, dass die Klägerin weder in ihrem erlernten Beruf als Medizinisch-Technische Assistentin noch als Schreibkraft nach 1981 habe mehr Fuß fassen können. Zudem habe sie erhöhte Aufwendungen, weil sie keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen könne, aber Fahrten nach Heidelberg zur Psychotherapeutin machen müsste. Außerdem schwitze sie nachts vermehrt. Behandlungsbedürftigkeit bestehe kontinuierlich seit dem Schädigungsereignis. Hätte rechtzeitig eine adäquate Behandlung stattgefunden, wäre jetzt möglicherweise keine Behandlungsnotwendigkeit mehr vorhanden. Der im Moment bestehende Grad der Schädigung werde mit 80 vom Hundert bewertet.
27 
Die Schädigungsfolgen in Form der posttraumatischen Belastungsstörung hätten letztendlich ab dem Trauma (Juni 1979) vorgelegen. Der Zustand der Klägerin habe sich zwar zwischen 1980 und 1991 insoweit stabilisiert, dass die Klägerin während dieser Zeit zwar glaubhaft (Vermeidungsverhalten, vegetative Symptome und anderes) beschreibe, aber gleichzeitig in der Lage gewesen sei, berufstätig zu sein und sich um ihren Sohn zu kümmern. Die Klägerin beschreibe glaubhaft und nachvollziehbar, dass sie zunächst versucht habe, das Trauma zu verdrängen. Außerdem sei zu beachten, dass sie eine lange Odyssee habe hinter sich bringen müssen, bis die richtige Diagnose gestellt worden sei. Dass die Klägerin dann, also 1994, noch nicht sofort Opferentschädigung beantragt habe, sei auf weitere psychische Gründe zurückzuführen. Es sei nachvollziehbar, dass sie zunächst darüber, was sicher auch mit einer Anzeige gegen den Täter verbunden gewesen sei, hätte nachdenken müssen und es ihr nicht leicht gefallen sei, diesen Entschluss zu fassen. Diese Feststellungen beruhten auf einer zweitägigen in ihrer Praxis durchgeführten Anamneseerhebung. Sie stimmten in bemerkenswerterweise mit dem Reha-Entlassbericht der Klägerin aus der Psychosomatischen Rehabilitations-Klinik Schömberg (Dr. ...) vom 29. Mai 2008 überein. Auch Dr. ... habe eine schwere posttraumatische Belastungsstörung mit andauernder Persönlichkeitsveränderung bei Extrembelastung diagnostiziert. Diese Diagnosen und die von der Klägerin beschriebenen Symptome unterstützen ihre gutachtliche Einschätzung.
28 
Der Beklagte hat sich mit versorgungsärztlicher Stellungnahme von Dr. ... vom 19. November 2009 zum Gutachten von Prof. Dr. ... geäußert. Nachdem Prof. Dr. ...selbst festgestellt habe, dass sich die Klägerin noch weitgehend selbst versorgen könne (eigene Haushaltsführung) sowie Gartenarbeiten erledige und auch selbst Autofahren könne, ergäben sich aus versorgungsmedizinischer Hinsicht keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine wesentliche Verschlimmerung der gesundheitlichen Situation der Klägerin. Soweit die Klägerin Leistungen für die Vergangenheit (vom Eintritt des schädigenden Ereignisses 1979 bis 1996) begehre, sei weiter nicht nachgewiesen, dass der Klägerin eine Antragstellung nach dem Opferentschädigungsgesetz nicht vor April 1996 möglich gewesen sei. Der von Prof. Dr. ... beschriebene Versuch der Klägerin, das Trauma zu verdrängen, oder ein Nachdenken über den Entschluss zur Antragstellung, begründe nicht, dass eine vorherige Antragstellung nach dem Opferentschädigungsgesetz von vornherein überhaupt nicht möglich gewesen sei.
29 
Zuletzt hat die Klägerin noch ein Privatgutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XII vorgelegt. Dieses Gutachten datiert auf den 1. Februar 2010 und sieht die Alltagskompetenz der Klägerin bereits erheblich eingeschränkt. Pflegebegründende Diagnosen seien: Schwere posttraumatische Belastungsstörung nach Gewalttrauma 1979 mit Persönlichkeitsveränderung, Antriebsminderung, Erschöpfungszuständen und Schlafstörungen mit Albträumen sowie chronischen Durchfällen. Ferner bestehe eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung infolge Arthrose und Halswirbelsäulensyndrom. Der grundpflegerische Zeitaufwand sei mit 32 Minuten täglich zu bewerten, derjenige für die Hauswirtschaft im Wochendurchschnitt mit 60 Minuten täglich. Eine Pflegestufe könne demzufolge noch nicht festgestellt werden.
30 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die dem Gericht vorliegende Behördenakte (4 Bände) sowie auf den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Prozessakten der Vorverfahren (Sozialgericht Karlsruhe S 3 VG 344/97, S 4 VG 495/01, S 4 VG 328/01 und S 4 VG 3359/99), den Inhalt der Verfahrensakten des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (L 11 VG 2026/99 und L 11 VG 4364/02) sowie den Inhalt der den vorliegenden Rechtsstreit betreffenden Prozessakte (S 4 VG 404/08) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
31 
Die fristgerecht und auch sonst zulässig erhobene Klage ist aus dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang in der Sache begründet.
32 
Der Bescheid des Beklagten vom 18. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Januar 2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten und ist deshalb aufzuheben. Darüber hinaus ist der Ausführungsbescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung München I - Versorgungsamt - vom 19. Juli 1999 in der Gestalt des Änderungsbescheids des Beklagten vom 11. November 2002 insoweit abzuändern, als der Klägerin für die Zeit ab dem 1. Juni 2009 (ambulante Untersuchung der Klägerin durch Prof. Dr. ... am 15. Juni 2009) Leistungen nach dem OEG auf der Grundlage eines rein medizinisch begründeten GdS von 80 vom Hundert in gesetzlichem Umfang zu gewähren sind. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
33 
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz - OEG - vom 7. Januar 1985 (Bundesgesetzblatt I, Seite 1) erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen eines im Geltungsbereich des Gesetzes erlittenen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -. Die Klägerin ist Opfer einer im Juni 1979 im Geltungsbereich des Opferentschädigungsgesetzes - in Sonthofen - erlittenen Gewalttat im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Sie ist Opfer einer Vergewaltigung durch ihren Ehemann und dessen Freund geworden.
34 
Damit hat die Klägerin Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Versorgung richtet sich nach der Schädigungsfolge. Bei der Klägerin ist als Schädigungsfolge eine posttraumatische Belastungsstörung vom Beklagten anerkannt. Aufgrund dessen erhält die Klägerin seit dem 1. April 1996 laufende Opferentschädigungsleistungen des Beklagten, bislang auf der Berechnungsgrundlage eines medizinischen Grades der Schädigung (GdS) von 50 vom Hundert.
35 
Der am 15. August 2001 gestellte Antrag der Klägerin ist - entgegen der Auffassung des Beklagten - nicht nur als Überprüfungsbegehren im Sinne von § 44 Abs. 1 SGB X, sondern zugleich auch als Neufeststellungsbegehren im Sinne von § 48 SGB X auszulegen. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Klägerin nunmehr einen neuen Sachverhalt, nämlich ohne Verschulden an einer Antragstellung nach dem Opferentschädigungsgesetz vor April 1996 gehindert gewesen zu sein, vorgetragen hat.
36 
Zwar sind die seit 1979 eingetretenen Änderungen der schädigungsbedingten Verhältnisse der Klägerin auch im Rahmen der Leistungserbringung nach § 44 SGB X zu berücksichtigen. Ein auf § 48 SGB X gestützter Antrag kann jedoch dann eine eigenständige Bedeutung haben, wenn er eine Gewährung weiterer Leistungen für die Zeit vor dem 1. April 1996 ermöglicht. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X soll der von einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse betroffene Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Danach wäre die Gewährung einer neuen, möglicherweise höheren Leistung vom Zeitpunkt der Entstehung der Schädigungsfolgen an möglich. Entgegen der Auffassung des Beklagten gibt es insoweit keine zeitliche Begrenzung im Sinne von § 44 Abs. 4 SGB X. Zwar ist diese Vorschrift nach § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X entsprechend anwendbar, diese Regelung wird jedoch gemäß § 37 Satz 1 SGB I durch § 60 Bundesversorgungsgesetz - BVG - verdrängt, wobei das Bundesversorgungsgesetz als besonderer Teil des Sozialgesetzbuchs gilt (vgl. § 68 Nr. 7 SGB I; vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 2. Oktober 2008, B 9 VH 1/07 R, JURIS, Rn. 61 m. w. N., zuvor bereits Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27. Januar 2005, L 13 VG 5 /03, JURIS Rn. 33; allerdings anders für den Fall, dass die Leistungen dem Beschädigten selbst nicht mehr zu gute kommen: Bundesozialgericht, Urteil vom 11. Dezember 2008, B9/9a VG 1/07 R, JURIS Rn. 38).
37 
1. Beginn der OEG-Entschädigung
38 
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung grundsätzlich mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Die Versorgung ist auch für Zeiträume vor Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird (§ 60 Abs. 1 Satz 2 BVG). War der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so verlängert sich diese Frist um den Zeitraum der Verhinderung (§ 60 Abs. 1 Satz 3 BVG). Ihrer Wirkung nach ermöglicht die (verlängerte) Jahresfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 30. September 2009, B 9 VG 3/08 R, JURIS Rn. 28). Die Verwaltungsvorschrift Nr. 3 zu § 60 führt dazu aus:
39 
„Ein Verschulden im Sinne des Abs. 1 Satz 3 liegt nicht vor, wenn der Beschädigte die ihm gebotene und nach den gesamten Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein subjektiver, auf die konkrete Person abgestellter Maßstab anzulegen.“
40 
Insbesondere sind der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit des Beschädigten oder Opfers zu berücksichtigen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 15. August 2000, SozR 3-3100 § 60 Nr. 3; Landessozialgericht Niedersachsen Bremen, Urteil vom 27. Januar 2005, L 13 VG 5/03, JURIS, Rn. 28); daneben sind auch die individuelle Schwere und die konkreten persönlichen Folgen des geltend gemachten Schädigungsereignisses in die Subsumtion unter den Verhinderungsbegriff einzubeziehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 11. Dezember 2008, B 9/9a VG 1/07 R, JURIS, Rn. 32). Verhindert im Sinn von § 60 Abs. 1 S. 3 BVG ist danach, wer, vom Standpunkt eines objektiven Betrachters, aus subjektiven in seiner Person liegenden Gründen für den Verhinderungszeitraum unverschuldet nicht in der Lage gewesen ist, Opferentschädigungsleistungen rechtzeitig, d. h. unverzüglich nach Schädigungseintritt, zu beantragen.
41 
Dabei ist § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG auch auf Fälle anwendbar, in denen eine Verschlimmerung der Schädigungsfolgen schon vor dem Inkrafttreten der Neufassung des § 60 BVG am 1. Januar 1979 aufgesetzt vom 10. August 1978 (Bundesgesetzblatt I Seite 1217) eingetreten ist (vgl. Bundessozialgericht, BSGE 59, 40, 41). Bei § 60 BVG handelt es sich um eine spezielle Regelung des Beginns von Beschädigtenversorgung, der ein von § 48 Abs. 4 i. V. m. § 44 Abs. 4 SGB X deutlich abweichendes Konzept zugrundelegt (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 2. Oktober 2008, a. a. O., Rn. 61). Während § 44 Abs. 4 SGB X eine nachträglichen Leistungserbringung - ohne weitere Voraussetzung - eine strikte zeitliche Grenze von vierjähriger Rückwirkung setzt, stellt § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG, ebenso wie § 60 Abs. 2 BVG, ähnlich den Vorschriften über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. § 27 SGB X, § 67 SGG), auf die individuellen Verhältnisse des betroffenen Geschädigten, Beschädigten oder Opfers ab.
42 
Auch die Gesetzesgeschichte deutet darauf hin, dass es der Gesetzgeber im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts bei einer gesonderten Regelung des Leistungsbeginns im Neufeststellungsverfahren hat belassen wollen. Mit dem Inkrafttreten des § 48 SGB X am 1. Januar 1981 (Gesetz vom 18. August 1980, BGBl. I, S. 1469) ist zwar der die Neufeststellung der Versorgungsbezüge betreffende § 62 BVG - durch Streichung seines bisherigen Abs. 1 - geändert worden, die Vorschrift des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG aber unangetastet geblieben. Da § 48 SGB X zunächst noch keine Bezugnahme auf § 44 Abs. 4 SGB X enthalten hat, ist - außerhalb des Bundesversorgungsgesetzes - hinsichtlich des Leistungsbeginns allein auf die Verjährungsvorschrift des § 45 SGB I zurückzugreifen (vgl. Bundessozialgericht, BSGE 61, 154 = SozR 1300 § 48 Nr. 32 sowie BSGE 62, 10 = SozR 2200 § 1254 a. a. O. Nr. 7). Hätte der Gesetzgeber mit der Einbeziehung des § 44 Abs. 4 SGB X in die im Rahmen des § 48 SGB X entsprechend geltenden Vorschriften (durch Gesetz vom 13. Juni 1994, BGBl. I S. 1229) auch die Rechtslage im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts ändern wollen, wäre eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, insbesondere eine Neufassung des § 60 Abs. 1 und Abs. 2 BVG erforderlich gewesen.
43 
Soweit verschiedentlich angenommen worden ist, § 44 Abs. 4 SGB X enthalte den allgemeinen Rechtsgedanken, dass Sozialleistungen nicht über vier Jahre hinaus rückwirkend zu gewähren sind (so etwa Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26. Juni 2007, L 13 VH 7/94 W 04-11, JURIS, Rn. 38; Bundessozialgericht, Urteil vom 27. März 2007, B 13 R 58/06 R, JURIS m. w. N.), ist dieser Gedanke jedenfalls nicht geeignet, eine geltende gesetzliche Bestimmung des § 60 Abs. 1 S. 3 BVG zu verdrängen. Dem Gesetzgeber ist es unbenommen, den einzelnen Sozialleistungsbereichen aus sachlichen Erwägungen unterschiedliche Regelungen über die nachträgliche Erbringung von Leistungen vorzusehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 2. Oktober 2008, B 9 VH 1/07 R, JURIS, Rn. 63).
44 
Einer nachträglichen Leistungsgewährung an die Klägerin im Zeitraum zwischen 1979 und April 1996 steht auch § 45 SGB I nicht von vornherein entgegen. Zwar verjähren danach Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Der Beklagte hat sich indes lang nicht auf die Verjährungseinrede berufen.
45 
Es stellt sich damit entscheidungserheblich die Frage, ob die Klägerin tatsächlich ohne Verschulden an einer Antragstellung nach dem Opferentschädigungsgesetz vor April 1996 verhindert gewesen ist und, ggfs. wie lange der Verhinderungszeitraum angedauert hat. Diese Frage beantwortet das Gericht wie folgt: Wenn überhaupt, so ist eine verschuldensunabhängige Verhinderung der Klägerin für eine Antragstellung nach § 1 OEG allenfalls bis zum 30. Juni 1994 anzunehmen, nicht aber darüber hinaus. Am 30. Juni 1994 hat die Klägerin das Vergewaltigungstrauma von 1979 erstmals gegenüber der Dipl.-Psych. ... zur Sprache gebracht (vgl. sachverständige Zeugenaussage Nyberg vom 2. Januar 1998 im Verfahren vor dem Sozialgericht Karlsruhe S 3 VG 344/97) und damit den bis dahin bestehenden Verdrängungs- und Vermeidungsprozess durchbrochen und aufgegeben. Seit dem 30. Juni 1994 wird die Klägerin auch wegen der ins Jahr 1979 zurückreichenden Schädigungsfolge - einer posttraumatischen Belastungsstörung - fortlaufend ambulant und stationär behandelt.
46 
Hierbei berücksichtigt das erkennende Gericht zunächst, dass die Klägerin an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leidet, die fachärztlich durch die Sachverständigen Dres. ... (1998), ... (2002), ... (2007) und nunmehr zuletzt auch durch die vom Gericht im vorliegenden Verfahren zur Sachverständigen bestellten Neurologin und Psychiaterin Prof. Dr. ... (Gutachten vom 16. Juli 2009) auf eine wahrscheinlich erlittene Vergewaltigungstat im Jahre 1979 zurückgeführt werden. Darüber besteht zwischen den Beteiligten jedenfalls dem Grunde nach auch kein Streit, gewährt doch der Beklagte der Klägerin seit April 1996 wegen der auf das Jahr 1979 datierten Schädigungsfolge Opferentschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz.
47 
Streitig ist zwischen den Beteiligten dagegen zunächst der Beginn der Leistungspflicht des Beklagten. Hier kommt es nach dem zuvor Festgestellten entscheidend darauf an, ob die Klägerin vor April 1996 ohne Verschulden an der Beantragung von Opferversorgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG verhindert gewesen ist. Insoweit macht sich das erkennende Gericht die schlüssigen und aus sich heraus nachvollziehbaren Befunderhebungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen Prof. Dr. ...im Gutachten vom 16. Juli 2009 zu eigen. Danach haben die Schädigungsfolgen in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung bereits ab Traumabeginn (Juni 1979) bei der Klägerin vorgelegen. Wie andere Traumaopfer auch, hat die Klägerin sodann zunächst über Jahre hinweg auch mit Erfolg versucht, das Trauma aus ihrem äußeren Erleben zu verdrängen. Sie hat eine vor der Tat geplante Tätigkeit beim Deutschen Entwicklungsdienst im Jahre 1980 angenommen und auch über zwei Jahre in Afrika durchgeführt. Anschließend ist sie im Bundesgebiet wieder versicherungspflichtig beschäftigt gewesen, zunächst im erlernten Beruf als MTA, dann als medizinische Schreibkraft. Dieses umfassende Verdrängungsverhalten der Klägerin, das ihr zunächst zwischen 1979 und 1991 einen zwar eingeschränkten, aber immerhin äußerlich tragfähigen Lebenszuschnitt ermöglich hat, ist erst nach der unter Vollnarkose durchgeführten Nasenscheidewandoperation im Jahre 1991 zum Einsturz gekommen.
48 
Auch wenn das Leben der Klägerin zwischen 1979 und 1991 - im Hinblick auf ihre berufliche Tätigkeit, aber auch im Hinblick darauf, dass sie 1991 einen Sohn geboren und anschließend alleinerziehend aufgezogen hat - für das Gericht Zweifel im Hinblick an einer schuldlosen Verhinderung der Antragstellung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG weckt, werden diese eher laienhaften Zweifel letztlich durch die schlüssigen sachverständigen neurologisch-psychiatrischen Feststellungen im Gutachten von Prof. Dr. ... ausgeräumt. Zum einen ist die außerordentliche Schwere des von der Klägerin erlittenen Vergewaltigungstraumas im Juni 1979 und der damit einhergehende ebenso starke Verdrängungsimpuls zu berücksichtigen. Dabei sieht sich das Gericht an die Glaubhaftigkeit der Schilderungen des schädigenden Ereignisses durch die von ihm nicht zu widerlegenden Feststellungen in den nervenfachärztlichen Gutachten der Dres. ... (1998), ... (2002), ...(2007) und ... (2009) letztlich faktisch „gebunden“. Dies gilt erst Recht im Hinblick darauf, dass auch der Beklagte die Schwere des Vergewaltigungstraumas während des vorliegenden Prozesses mit keinem Wort mehr infrage gestellt hat. Die Schwere des Vergewaltigungstraumas macht das Gericht dabei an folgenden Einzelfaktoren fest: Vergewaltigung durch den volltrunkenen Ehemann und einem von dessen Freunden bei mehrstündiger Fesselung der Klägerin ans Bett, Nasenbeinfraktur der Klägerin, Stiche und Schnittverletzungen der Klägerin, vor allem im Genitalbereich. Zu einem Flashback/Retraumatisierung ist es dann anlässlich der Nasenscheidewandoperation der Klägerin Ende 1991 gekommen. Nach dem Aufwachen aus der Narkose hat die Klägerin über Übelkeit, Kopfschmerzen, Appetitstörung, Gewichtsverlust, Schlafstörungen, Niedergeschlagenheitsgefühl und Suizidgedanken geklagt. Hinzugekommen ist ein Harnverhalt, für den in der Urologischen Klinik trotz Sonographie, Ausscheidungsprogramm, Urodynamik und anderer Untersuchungsmethoden kein erklärender Befund hat gefunden werden können. Anschließend ist es zu einer Odyssee der Klägerin durch eine Vielzahl von psychosomatischen Kliniken gekommen, bevor die Klägerin 1994 Kontakt zu einem Projekt für vergewaltigte Frauen der Universitätsklinik Freiburg erlangt hat. Hier hat sich die Klägerin erstmals öffnen und über das 1979 erlebte Vergewaltigungsereignis authentisch berichten können. Hier ist ihr auch zum ersten Mal geglaubt worden.
49 
Über den 30. Juni 1994 hinaus vermag das Gericht die Klägerin allerdings nicht mehr als verhindert im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG zu betrachten. Denn seither kreist sämtlicher Vortrag der Klägerin um das 1979 erlebte Schädigungsereignis, die angetane Gewalttat. Das bis dahin von der Klägerin geübte recht umfassende Vermeidungs- und Verdrängungsverhalten ist spätestens ab dem 30. Juni 1994 in einen die Vergegenwärtigung der Gewalt begründeten Wiederholungszwang umgeschlagen. Seither steht die Gewalttat von 1979 ganz im Mittelpunkt des inneren wie des äußeren Erlebens der Klägerin. Sie erlebt wohl seit Ende 1991, spätestens aber seit 1994 täglich Szenen des Traumas von 1979 wieder, wobei diese Szenen für sie Gegenwartsqualität besitzen. Eindrucksvoll schildert dies die Sachverständige Prof. Dr. ... im Gutachten vom 16. Juli 2009, wenn sie ausführt, die Klägerin kommt im Gespräch immer wieder auf die Vergewaltigung von 1979 zurück, auch wenn nach anderen Themen gefragt worden ist. Bei der Schilderung wirkt die Klägerin manchmal als ob sie in Trance gerät. Ihr ist dann einerseits große Anspannung und Erregung anzumerken. Andererseits ist sie dabei kaum zu unterbrechen. Auch sonst entsteht der Eindruck, als ob dieses Trauma das Leben der Klägerin zu einem sehr großen Teil vereinnahmt. Dazu passen auch die vorliegenden Akten, die mit einer Vielzahl von Schriftsätzen der Klägerin gefüllt sind, die sie immer der Behörde und den Gericht zukommen lässt. Sie wirkt für die Sachverständige, dem Gericht nachvollziehbar, wie der verzweifelte Versuch anderen ihr Betroffensein und ihr Getroffensein als Geschädigte deutlich zu machen. Dabei handelt es sich um einen Wiederholungszwang, in dem die Klägerin immer wieder traumatische Erlebnisse durchlebt, in der wahrscheinlich unbewussten Hoffnung, so doch irgendwann zu einer Lösung zu kommen. Wer nach einem traumatischen Ereignis bei Retraumatisierung in einer solcher Vorstellungswelt verfangen und gefangen ist, erscheint dem Gericht zwar gedanklich fixiert und blockiert.
50 
Aber auch die gerichtlich bestellte Sachverständige, Prof. Dr. ..., bescheinigt der Klägerin für die Zeit ab dem 30. Juni 1994 nur noch, dass sie ab jetzt über eine Antragstellung und eine Anzeige des Täters hat „nachdenken“ müssen und ihr der „Entschluss“ dazu nicht leicht gefallen ist. Eine Nachdenk- und Entschließungsfrist oder Überlegungsfrist ohne Nachteile hinsichtlich des Leistungsbeginns aber hat der Gesetzgeber in § 60 Abs. 1 S. 2 BVG jedenfalls mittelbar normiert - ein Jahr ab Eintritt der Schädigung oder dem Bewusstwerden der Schädigung (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 10. Dezember 2003, B 9 VJ 2/02 R, JURIS Rn. 25 unter Hinweis auf BT-Drucks. 8/1735 S. 19 zu Nr. 37, § 60 BVG). Dies auf § 60 Abs. 1 S. 3 BVG sachgedanklich übertragen, hätte die Klägerin hier binnen Jahresfrist ab Eintritt des offensichtlichen Bewusstwerdens über die Schädigungsfolge - 30. Juni 1994 -, also spätestens am 30. Juni 1995 Opferentschädigung beim Beklagten beantragen müssen, um mit Erfolg rückwirkend Leistungen geltend machen zu können. Tatsächlich beantragt hat sie solche Leistungen aber erst am 19. April 1996 und damit gerechnet vom 30. Juni 1994 mehr als neunzehn Monate nachdem ihr aktenkundig die Schädigungsfolge der 1979 stattgehabten Vergewaltigung bewusst geworden ist.
51 
Dem entsprechend ist ihr Begehren rückwirkend vor April 1996 Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu erlangen umfassend abzulehnen gewesen, weil es insoweit an einer unverschuldeten Verhinderung für die rechtzeitige Antragstellung im Sinn von § 60 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BVG fehlt.
52 
2. Höhe der OEG-Entschädigung
53 
Soweit die Klägerin rückwirkend für die Zeit vor dem 1. April 1996 OEG-Leistungen erstrebt, ist die Klage aus den unter 1. gemachten Ausführungen abzuweisen gewesen. Insoweit fehlt es an rechtzeitiger Antragstellung nach § 60 Abs. 1 S. 1 BVG, ohne das eine unverschuldete Verhinderung im Sinn von § 60 Abs. 1 S. 3 BVG hat festgestellt werden können.
54 
Auch soweit die Klägerin die Anhebung des Grades der Schädigung (GdS) - früher Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) - für die Zeit von April 1996 bis einschließlich Mai 2009 begehrt, ist die Klage abzuweisen gewesen. Der rein medizinisch bedingte GdS ist bei der Klägerin bis einschließlich Mai 2009 vom Beklagten zutreffend mit 50 vom Hundert festgelegt worden. Erst ab den Tagen der gutachtlichen Untersuchung der Klägerin bei Prof. Dr. ... - am 15. und 21. Juni 2009 - ist ein GdS von 80 vom Hundert gerichtsfest belegt. Für die Zeit vor der gutachtlichen Untersuchung befürwortet Prof. Dr. ... keine Anhebung des GdS, wie sich für das Gericht aus der Beantwortung der Frage nach der Höhe des GdS - „Der im Moment bestehende Grad der Schädigung (GdS) wird mit 80 v.H. bewertet.“ - ergibt. Valide Aussagen zu einer höheren GdS-Bewertung für die Zeit vor der ambulanten gutachtlichen Untersuchung der Klägerin durch Prof. Dr. ... im Juni 2009 sind der Sachverständigen dem Gericht nachvollziehbar nicht möglich. Die weitere Anhebung des medizinisch begründeten GdS von 50 auf 80 vom Hundert für die Zeit ab Juni 2009 passt auch zu der Feststellung von Prof. Dr. ..., die bei der Klägerin infolge der Gewalttat von 1979 vorliegende schwere posttraumatische Belastungsstörung berechtige mittlerweile den Verdacht, es sei eine andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung eingetreten. Daran lässt sich eine jedenfalls für die Zeit ab Juni 2009 gerichtsfest nachgewiesene Verschlimmerung der schädigungsbedingten Leidenssituation der Klägerin ablesen.
55 
Soweit die Klägerin weiter meint, aufgrund der Schädigungsfolge stehe ihr darüber hinausgehend ein GdS von 100 vom Hundert zu, so lässt sich dies mit den vorliegenden Sachverständigengutachten nicht vereinbaren. Kein seit 2000 mit dem Fall der Klägerin befasster Sachverständiger - auch nicht Prof. Dr. ... im Gutachten vom 16. Juli 2009 - hat für die Schädigungsfolgen der von ihr 1979 erlittenen Gewalttat einen GdS von 100 vom Hundert empfohlen oder vorgeschlagen. Für den Zeitraum vor der Untersuchung durch Prof. Dr. ... im Juni 2009 sind der Klägerin Versorgungsleistungen auf der Grundlage eines rein medizinischen GdS von 50 vom Hundert bewilligt worden. Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern. Höhere Versorgungsleistungen auf der Grundlage eines GdS von 80 vom Hundert empfiehlt Prof. Dr. ... im Gutachten vom 16. Juli 2009 erst ab dem Zeitpunkt ihrer ambulanten Untersuchung der Klägerin im Juni 2009. Erst ab diesem Zeitpunkt schlägt Prof. Dr. ... vor, den GdS von 50 auf 80 vom Hundert anzuheben. Einer weiteren Höherbewertung des GdS über 80 vom Hundert hinaus steht entgegen, dass bei der Klägerin entsprechenden den Ausführungen von Prof. Dr. ..., die sich das Gericht zu eigen macht, durchaus noch ein Teil ihrer psychischen und körperlichen Fähigkeiten erhalten ist. So ist sie in der Lage, sich zu ihrem Sohn eine liebevolle und kontinuierliche Beziehung zu führen, sich um ihren Garten zu kümmern und als Autofahrerin am Straßenverkehr teilzunehmen. Hiergegen ist von der Klägerin nichts Substantielles vorgebracht worden. Dementsprechend kommt für den vorliegend auch streitgegenständlichen Zeitraum zwischen April 1996 und Mai 2009 keine höhere Feststellung des rein medizinischen GdS als 50 vom Hundert in Betracht, ebenso wie für den Zeitraum ab Juni 2009 bis fortlaufend eine höhere GdS-Feststellung als 80 vom Hundert nicht möglich ist. Der Klägerin zustehende Nachzahlungen von Versorgungleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz haben also überhaupt erst ab Juni 2009 zu erfolgen und dies auf der Bemessungsgrundlage eines medizinischen GdS von 80 vom Hundert.
56 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie orientiert sich am teilweisen Klageerfolg der Klägerin.

Gründe

 
31 
Die fristgerecht und auch sonst zulässig erhobene Klage ist aus dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang in der Sache begründet.
32 
Der Bescheid des Beklagten vom 18. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Januar 2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten und ist deshalb aufzuheben. Darüber hinaus ist der Ausführungsbescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung München I - Versorgungsamt - vom 19. Juli 1999 in der Gestalt des Änderungsbescheids des Beklagten vom 11. November 2002 insoweit abzuändern, als der Klägerin für die Zeit ab dem 1. Juni 2009 (ambulante Untersuchung der Klägerin durch Prof. Dr. ... am 15. Juni 2009) Leistungen nach dem OEG auf der Grundlage eines rein medizinisch begründeten GdS von 80 vom Hundert in gesetzlichem Umfang zu gewähren sind. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
33 
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz - OEG - vom 7. Januar 1985 (Bundesgesetzblatt I, Seite 1) erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen eines im Geltungsbereich des Gesetzes erlittenen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -. Die Klägerin ist Opfer einer im Juni 1979 im Geltungsbereich des Opferentschädigungsgesetzes - in Sonthofen - erlittenen Gewalttat im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Sie ist Opfer einer Vergewaltigung durch ihren Ehemann und dessen Freund geworden.
34 
Damit hat die Klägerin Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Versorgung richtet sich nach der Schädigungsfolge. Bei der Klägerin ist als Schädigungsfolge eine posttraumatische Belastungsstörung vom Beklagten anerkannt. Aufgrund dessen erhält die Klägerin seit dem 1. April 1996 laufende Opferentschädigungsleistungen des Beklagten, bislang auf der Berechnungsgrundlage eines medizinischen Grades der Schädigung (GdS) von 50 vom Hundert.
35 
Der am 15. August 2001 gestellte Antrag der Klägerin ist - entgegen der Auffassung des Beklagten - nicht nur als Überprüfungsbegehren im Sinne von § 44 Abs. 1 SGB X, sondern zugleich auch als Neufeststellungsbegehren im Sinne von § 48 SGB X auszulegen. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Klägerin nunmehr einen neuen Sachverhalt, nämlich ohne Verschulden an einer Antragstellung nach dem Opferentschädigungsgesetz vor April 1996 gehindert gewesen zu sein, vorgetragen hat.
36 
Zwar sind die seit 1979 eingetretenen Änderungen der schädigungsbedingten Verhältnisse der Klägerin auch im Rahmen der Leistungserbringung nach § 44 SGB X zu berücksichtigen. Ein auf § 48 SGB X gestützter Antrag kann jedoch dann eine eigenständige Bedeutung haben, wenn er eine Gewährung weiterer Leistungen für die Zeit vor dem 1. April 1996 ermöglicht. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X soll der von einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse betroffene Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Danach wäre die Gewährung einer neuen, möglicherweise höheren Leistung vom Zeitpunkt der Entstehung der Schädigungsfolgen an möglich. Entgegen der Auffassung des Beklagten gibt es insoweit keine zeitliche Begrenzung im Sinne von § 44 Abs. 4 SGB X. Zwar ist diese Vorschrift nach § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X entsprechend anwendbar, diese Regelung wird jedoch gemäß § 37 Satz 1 SGB I durch § 60 Bundesversorgungsgesetz - BVG - verdrängt, wobei das Bundesversorgungsgesetz als besonderer Teil des Sozialgesetzbuchs gilt (vgl. § 68 Nr. 7 SGB I; vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 2. Oktober 2008, B 9 VH 1/07 R, JURIS, Rn. 61 m. w. N., zuvor bereits Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27. Januar 2005, L 13 VG 5 /03, JURIS Rn. 33; allerdings anders für den Fall, dass die Leistungen dem Beschädigten selbst nicht mehr zu gute kommen: Bundesozialgericht, Urteil vom 11. Dezember 2008, B9/9a VG 1/07 R, JURIS Rn. 38).
37 
1. Beginn der OEG-Entschädigung
38 
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung grundsätzlich mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Die Versorgung ist auch für Zeiträume vor Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird (§ 60 Abs. 1 Satz 2 BVG). War der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so verlängert sich diese Frist um den Zeitraum der Verhinderung (§ 60 Abs. 1 Satz 3 BVG). Ihrer Wirkung nach ermöglicht die (verlängerte) Jahresfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 30. September 2009, B 9 VG 3/08 R, JURIS Rn. 28). Die Verwaltungsvorschrift Nr. 3 zu § 60 führt dazu aus:
39 
„Ein Verschulden im Sinne des Abs. 1 Satz 3 liegt nicht vor, wenn der Beschädigte die ihm gebotene und nach den gesamten Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein subjektiver, auf die konkrete Person abgestellter Maßstab anzulegen.“
40 
Insbesondere sind der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit des Beschädigten oder Opfers zu berücksichtigen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 15. August 2000, SozR 3-3100 § 60 Nr. 3; Landessozialgericht Niedersachsen Bremen, Urteil vom 27. Januar 2005, L 13 VG 5/03, JURIS, Rn. 28); daneben sind auch die individuelle Schwere und die konkreten persönlichen Folgen des geltend gemachten Schädigungsereignisses in die Subsumtion unter den Verhinderungsbegriff einzubeziehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 11. Dezember 2008, B 9/9a VG 1/07 R, JURIS, Rn. 32). Verhindert im Sinn von § 60 Abs. 1 S. 3 BVG ist danach, wer, vom Standpunkt eines objektiven Betrachters, aus subjektiven in seiner Person liegenden Gründen für den Verhinderungszeitraum unverschuldet nicht in der Lage gewesen ist, Opferentschädigungsleistungen rechtzeitig, d. h. unverzüglich nach Schädigungseintritt, zu beantragen.
41 
Dabei ist § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG auch auf Fälle anwendbar, in denen eine Verschlimmerung der Schädigungsfolgen schon vor dem Inkrafttreten der Neufassung des § 60 BVG am 1. Januar 1979 aufgesetzt vom 10. August 1978 (Bundesgesetzblatt I Seite 1217) eingetreten ist (vgl. Bundessozialgericht, BSGE 59, 40, 41). Bei § 60 BVG handelt es sich um eine spezielle Regelung des Beginns von Beschädigtenversorgung, der ein von § 48 Abs. 4 i. V. m. § 44 Abs. 4 SGB X deutlich abweichendes Konzept zugrundelegt (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 2. Oktober 2008, a. a. O., Rn. 61). Während § 44 Abs. 4 SGB X eine nachträglichen Leistungserbringung - ohne weitere Voraussetzung - eine strikte zeitliche Grenze von vierjähriger Rückwirkung setzt, stellt § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG, ebenso wie § 60 Abs. 2 BVG, ähnlich den Vorschriften über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. § 27 SGB X, § 67 SGG), auf die individuellen Verhältnisse des betroffenen Geschädigten, Beschädigten oder Opfers ab.
42 
Auch die Gesetzesgeschichte deutet darauf hin, dass es der Gesetzgeber im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts bei einer gesonderten Regelung des Leistungsbeginns im Neufeststellungsverfahren hat belassen wollen. Mit dem Inkrafttreten des § 48 SGB X am 1. Januar 1981 (Gesetz vom 18. August 1980, BGBl. I, S. 1469) ist zwar der die Neufeststellung der Versorgungsbezüge betreffende § 62 BVG - durch Streichung seines bisherigen Abs. 1 - geändert worden, die Vorschrift des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG aber unangetastet geblieben. Da § 48 SGB X zunächst noch keine Bezugnahme auf § 44 Abs. 4 SGB X enthalten hat, ist - außerhalb des Bundesversorgungsgesetzes - hinsichtlich des Leistungsbeginns allein auf die Verjährungsvorschrift des § 45 SGB I zurückzugreifen (vgl. Bundessozialgericht, BSGE 61, 154 = SozR 1300 § 48 Nr. 32 sowie BSGE 62, 10 = SozR 2200 § 1254 a. a. O. Nr. 7). Hätte der Gesetzgeber mit der Einbeziehung des § 44 Abs. 4 SGB X in die im Rahmen des § 48 SGB X entsprechend geltenden Vorschriften (durch Gesetz vom 13. Juni 1994, BGBl. I S. 1229) auch die Rechtslage im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts ändern wollen, wäre eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, insbesondere eine Neufassung des § 60 Abs. 1 und Abs. 2 BVG erforderlich gewesen.
43 
Soweit verschiedentlich angenommen worden ist, § 44 Abs. 4 SGB X enthalte den allgemeinen Rechtsgedanken, dass Sozialleistungen nicht über vier Jahre hinaus rückwirkend zu gewähren sind (so etwa Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26. Juni 2007, L 13 VH 7/94 W 04-11, JURIS, Rn. 38; Bundessozialgericht, Urteil vom 27. März 2007, B 13 R 58/06 R, JURIS m. w. N.), ist dieser Gedanke jedenfalls nicht geeignet, eine geltende gesetzliche Bestimmung des § 60 Abs. 1 S. 3 BVG zu verdrängen. Dem Gesetzgeber ist es unbenommen, den einzelnen Sozialleistungsbereichen aus sachlichen Erwägungen unterschiedliche Regelungen über die nachträgliche Erbringung von Leistungen vorzusehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 2. Oktober 2008, B 9 VH 1/07 R, JURIS, Rn. 63).
44 
Einer nachträglichen Leistungsgewährung an die Klägerin im Zeitraum zwischen 1979 und April 1996 steht auch § 45 SGB I nicht von vornherein entgegen. Zwar verjähren danach Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Der Beklagte hat sich indes lang nicht auf die Verjährungseinrede berufen.
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Es stellt sich damit entscheidungserheblich die Frage, ob die Klägerin tatsächlich ohne Verschulden an einer Antragstellung nach dem Opferentschädigungsgesetz vor April 1996 verhindert gewesen ist und, ggfs. wie lange der Verhinderungszeitraum angedauert hat. Diese Frage beantwortet das Gericht wie folgt: Wenn überhaupt, so ist eine verschuldensunabhängige Verhinderung der Klägerin für eine Antragstellung nach § 1 OEG allenfalls bis zum 30. Juni 1994 anzunehmen, nicht aber darüber hinaus. Am 30. Juni 1994 hat die Klägerin das Vergewaltigungstrauma von 1979 erstmals gegenüber der Dipl.-Psych. ... zur Sprache gebracht (vgl. sachverständige Zeugenaussage Nyberg vom 2. Januar 1998 im Verfahren vor dem Sozialgericht Karlsruhe S 3 VG 344/97) und damit den bis dahin bestehenden Verdrängungs- und Vermeidungsprozess durchbrochen und aufgegeben. Seit dem 30. Juni 1994 wird die Klägerin auch wegen der ins Jahr 1979 zurückreichenden Schädigungsfolge - einer posttraumatischen Belastungsstörung - fortlaufend ambulant und stationär behandelt.
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Hierbei berücksichtigt das erkennende Gericht zunächst, dass die Klägerin an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leidet, die fachärztlich durch die Sachverständigen Dres. ... (1998), ... (2002), ... (2007) und nunmehr zuletzt auch durch die vom Gericht im vorliegenden Verfahren zur Sachverständigen bestellten Neurologin und Psychiaterin Prof. Dr. ... (Gutachten vom 16. Juli 2009) auf eine wahrscheinlich erlittene Vergewaltigungstat im Jahre 1979 zurückgeführt werden. Darüber besteht zwischen den Beteiligten jedenfalls dem Grunde nach auch kein Streit, gewährt doch der Beklagte der Klägerin seit April 1996 wegen der auf das Jahr 1979 datierten Schädigungsfolge Opferentschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz.
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Streitig ist zwischen den Beteiligten dagegen zunächst der Beginn der Leistungspflicht des Beklagten. Hier kommt es nach dem zuvor Festgestellten entscheidend darauf an, ob die Klägerin vor April 1996 ohne Verschulden an der Beantragung von Opferversorgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG verhindert gewesen ist. Insoweit macht sich das erkennende Gericht die schlüssigen und aus sich heraus nachvollziehbaren Befunderhebungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen Prof. Dr. ...im Gutachten vom 16. Juli 2009 zu eigen. Danach haben die Schädigungsfolgen in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung bereits ab Traumabeginn (Juni 1979) bei der Klägerin vorgelegen. Wie andere Traumaopfer auch, hat die Klägerin sodann zunächst über Jahre hinweg auch mit Erfolg versucht, das Trauma aus ihrem äußeren Erleben zu verdrängen. Sie hat eine vor der Tat geplante Tätigkeit beim Deutschen Entwicklungsdienst im Jahre 1980 angenommen und auch über zwei Jahre in Afrika durchgeführt. Anschließend ist sie im Bundesgebiet wieder versicherungspflichtig beschäftigt gewesen, zunächst im erlernten Beruf als MTA, dann als medizinische Schreibkraft. Dieses umfassende Verdrängungsverhalten der Klägerin, das ihr zunächst zwischen 1979 und 1991 einen zwar eingeschränkten, aber immerhin äußerlich tragfähigen Lebenszuschnitt ermöglich hat, ist erst nach der unter Vollnarkose durchgeführten Nasenscheidewandoperation im Jahre 1991 zum Einsturz gekommen.
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Auch wenn das Leben der Klägerin zwischen 1979 und 1991 - im Hinblick auf ihre berufliche Tätigkeit, aber auch im Hinblick darauf, dass sie 1991 einen Sohn geboren und anschließend alleinerziehend aufgezogen hat - für das Gericht Zweifel im Hinblick an einer schuldlosen Verhinderung der Antragstellung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG weckt, werden diese eher laienhaften Zweifel letztlich durch die schlüssigen sachverständigen neurologisch-psychiatrischen Feststellungen im Gutachten von Prof. Dr. ... ausgeräumt. Zum einen ist die außerordentliche Schwere des von der Klägerin erlittenen Vergewaltigungstraumas im Juni 1979 und der damit einhergehende ebenso starke Verdrängungsimpuls zu berücksichtigen. Dabei sieht sich das Gericht an die Glaubhaftigkeit der Schilderungen des schädigenden Ereignisses durch die von ihm nicht zu widerlegenden Feststellungen in den nervenfachärztlichen Gutachten der Dres. ... (1998), ... (2002), ...(2007) und ... (2009) letztlich faktisch „gebunden“. Dies gilt erst Recht im Hinblick darauf, dass auch der Beklagte die Schwere des Vergewaltigungstraumas während des vorliegenden Prozesses mit keinem Wort mehr infrage gestellt hat. Die Schwere des Vergewaltigungstraumas macht das Gericht dabei an folgenden Einzelfaktoren fest: Vergewaltigung durch den volltrunkenen Ehemann und einem von dessen Freunden bei mehrstündiger Fesselung der Klägerin ans Bett, Nasenbeinfraktur der Klägerin, Stiche und Schnittverletzungen der Klägerin, vor allem im Genitalbereich. Zu einem Flashback/Retraumatisierung ist es dann anlässlich der Nasenscheidewandoperation der Klägerin Ende 1991 gekommen. Nach dem Aufwachen aus der Narkose hat die Klägerin über Übelkeit, Kopfschmerzen, Appetitstörung, Gewichtsverlust, Schlafstörungen, Niedergeschlagenheitsgefühl und Suizidgedanken geklagt. Hinzugekommen ist ein Harnverhalt, für den in der Urologischen Klinik trotz Sonographie, Ausscheidungsprogramm, Urodynamik und anderer Untersuchungsmethoden kein erklärender Befund hat gefunden werden können. Anschließend ist es zu einer Odyssee der Klägerin durch eine Vielzahl von psychosomatischen Kliniken gekommen, bevor die Klägerin 1994 Kontakt zu einem Projekt für vergewaltigte Frauen der Universitätsklinik Freiburg erlangt hat. Hier hat sich die Klägerin erstmals öffnen und über das 1979 erlebte Vergewaltigungsereignis authentisch berichten können. Hier ist ihr auch zum ersten Mal geglaubt worden.
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Über den 30. Juni 1994 hinaus vermag das Gericht die Klägerin allerdings nicht mehr als verhindert im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG zu betrachten. Denn seither kreist sämtlicher Vortrag der Klägerin um das 1979 erlebte Schädigungsereignis, die angetane Gewalttat. Das bis dahin von der Klägerin geübte recht umfassende Vermeidungs- und Verdrängungsverhalten ist spätestens ab dem 30. Juni 1994 in einen die Vergegenwärtigung der Gewalt begründeten Wiederholungszwang umgeschlagen. Seither steht die Gewalttat von 1979 ganz im Mittelpunkt des inneren wie des äußeren Erlebens der Klägerin. Sie erlebt wohl seit Ende 1991, spätestens aber seit 1994 täglich Szenen des Traumas von 1979 wieder, wobei diese Szenen für sie Gegenwartsqualität besitzen. Eindrucksvoll schildert dies die Sachverständige Prof. Dr. ... im Gutachten vom 16. Juli 2009, wenn sie ausführt, die Klägerin kommt im Gespräch immer wieder auf die Vergewaltigung von 1979 zurück, auch wenn nach anderen Themen gefragt worden ist. Bei der Schilderung wirkt die Klägerin manchmal als ob sie in Trance gerät. Ihr ist dann einerseits große Anspannung und Erregung anzumerken. Andererseits ist sie dabei kaum zu unterbrechen. Auch sonst entsteht der Eindruck, als ob dieses Trauma das Leben der Klägerin zu einem sehr großen Teil vereinnahmt. Dazu passen auch die vorliegenden Akten, die mit einer Vielzahl von Schriftsätzen der Klägerin gefüllt sind, die sie immer der Behörde und den Gericht zukommen lässt. Sie wirkt für die Sachverständige, dem Gericht nachvollziehbar, wie der verzweifelte Versuch anderen ihr Betroffensein und ihr Getroffensein als Geschädigte deutlich zu machen. Dabei handelt es sich um einen Wiederholungszwang, in dem die Klägerin immer wieder traumatische Erlebnisse durchlebt, in der wahrscheinlich unbewussten Hoffnung, so doch irgendwann zu einer Lösung zu kommen. Wer nach einem traumatischen Ereignis bei Retraumatisierung in einer solcher Vorstellungswelt verfangen und gefangen ist, erscheint dem Gericht zwar gedanklich fixiert und blockiert.
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Aber auch die gerichtlich bestellte Sachverständige, Prof. Dr. ..., bescheinigt der Klägerin für die Zeit ab dem 30. Juni 1994 nur noch, dass sie ab jetzt über eine Antragstellung und eine Anzeige des Täters hat „nachdenken“ müssen und ihr der „Entschluss“ dazu nicht leicht gefallen ist. Eine Nachdenk- und Entschließungsfrist oder Überlegungsfrist ohne Nachteile hinsichtlich des Leistungsbeginns aber hat der Gesetzgeber in § 60 Abs. 1 S. 2 BVG jedenfalls mittelbar normiert - ein Jahr ab Eintritt der Schädigung oder dem Bewusstwerden der Schädigung (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 10. Dezember 2003, B 9 VJ 2/02 R, JURIS Rn. 25 unter Hinweis auf BT-Drucks. 8/1735 S. 19 zu Nr. 37, § 60 BVG). Dies auf § 60 Abs. 1 S. 3 BVG sachgedanklich übertragen, hätte die Klägerin hier binnen Jahresfrist ab Eintritt des offensichtlichen Bewusstwerdens über die Schädigungsfolge - 30. Juni 1994 -, also spätestens am 30. Juni 1995 Opferentschädigung beim Beklagten beantragen müssen, um mit Erfolg rückwirkend Leistungen geltend machen zu können. Tatsächlich beantragt hat sie solche Leistungen aber erst am 19. April 1996 und damit gerechnet vom 30. Juni 1994 mehr als neunzehn Monate nachdem ihr aktenkundig die Schädigungsfolge der 1979 stattgehabten Vergewaltigung bewusst geworden ist.
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Dem entsprechend ist ihr Begehren rückwirkend vor April 1996 Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu erlangen umfassend abzulehnen gewesen, weil es insoweit an einer unverschuldeten Verhinderung für die rechtzeitige Antragstellung im Sinn von § 60 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BVG fehlt.
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2. Höhe der OEG-Entschädigung
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Soweit die Klägerin rückwirkend für die Zeit vor dem 1. April 1996 OEG-Leistungen erstrebt, ist die Klage aus den unter 1. gemachten Ausführungen abzuweisen gewesen. Insoweit fehlt es an rechtzeitiger Antragstellung nach § 60 Abs. 1 S. 1 BVG, ohne das eine unverschuldete Verhinderung im Sinn von § 60 Abs. 1 S. 3 BVG hat festgestellt werden können.
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Auch soweit die Klägerin die Anhebung des Grades der Schädigung (GdS) - früher Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) - für die Zeit von April 1996 bis einschließlich Mai 2009 begehrt, ist die Klage abzuweisen gewesen. Der rein medizinisch bedingte GdS ist bei der Klägerin bis einschließlich Mai 2009 vom Beklagten zutreffend mit 50 vom Hundert festgelegt worden. Erst ab den Tagen der gutachtlichen Untersuchung der Klägerin bei Prof. Dr. ... - am 15. und 21. Juni 2009 - ist ein GdS von 80 vom Hundert gerichtsfest belegt. Für die Zeit vor der gutachtlichen Untersuchung befürwortet Prof. Dr. ... keine Anhebung des GdS, wie sich für das Gericht aus der Beantwortung der Frage nach der Höhe des GdS - „Der im Moment bestehende Grad der Schädigung (GdS) wird mit 80 v.H. bewertet.“ - ergibt. Valide Aussagen zu einer höheren GdS-Bewertung für die Zeit vor der ambulanten gutachtlichen Untersuchung der Klägerin durch Prof. Dr. ... im Juni 2009 sind der Sachverständigen dem Gericht nachvollziehbar nicht möglich. Die weitere Anhebung des medizinisch begründeten GdS von 50 auf 80 vom Hundert für die Zeit ab Juni 2009 passt auch zu der Feststellung von Prof. Dr. ..., die bei der Klägerin infolge der Gewalttat von 1979 vorliegende schwere posttraumatische Belastungsstörung berechtige mittlerweile den Verdacht, es sei eine andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung eingetreten. Daran lässt sich eine jedenfalls für die Zeit ab Juni 2009 gerichtsfest nachgewiesene Verschlimmerung der schädigungsbedingten Leidenssituation der Klägerin ablesen.
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Soweit die Klägerin weiter meint, aufgrund der Schädigungsfolge stehe ihr darüber hinausgehend ein GdS von 100 vom Hundert zu, so lässt sich dies mit den vorliegenden Sachverständigengutachten nicht vereinbaren. Kein seit 2000 mit dem Fall der Klägerin befasster Sachverständiger - auch nicht Prof. Dr. ... im Gutachten vom 16. Juli 2009 - hat für die Schädigungsfolgen der von ihr 1979 erlittenen Gewalttat einen GdS von 100 vom Hundert empfohlen oder vorgeschlagen. Für den Zeitraum vor der Untersuchung durch Prof. Dr. ... im Juni 2009 sind der Klägerin Versorgungsleistungen auf der Grundlage eines rein medizinischen GdS von 50 vom Hundert bewilligt worden. Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern. Höhere Versorgungsleistungen auf der Grundlage eines GdS von 80 vom Hundert empfiehlt Prof. Dr. ... im Gutachten vom 16. Juli 2009 erst ab dem Zeitpunkt ihrer ambulanten Untersuchung der Klägerin im Juni 2009. Erst ab diesem Zeitpunkt schlägt Prof. Dr. ... vor, den GdS von 50 auf 80 vom Hundert anzuheben. Einer weiteren Höherbewertung des GdS über 80 vom Hundert hinaus steht entgegen, dass bei der Klägerin entsprechenden den Ausführungen von Prof. Dr. ..., die sich das Gericht zu eigen macht, durchaus noch ein Teil ihrer psychischen und körperlichen Fähigkeiten erhalten ist. So ist sie in der Lage, sich zu ihrem Sohn eine liebevolle und kontinuierliche Beziehung zu führen, sich um ihren Garten zu kümmern und als Autofahrerin am Straßenverkehr teilzunehmen. Hiergegen ist von der Klägerin nichts Substantielles vorgebracht worden. Dementsprechend kommt für den vorliegend auch streitgegenständlichen Zeitraum zwischen April 1996 und Mai 2009 keine höhere Feststellung des rein medizinischen GdS als 50 vom Hundert in Betracht, ebenso wie für den Zeitraum ab Juni 2009 bis fortlaufend eine höhere GdS-Feststellung als 80 vom Hundert nicht möglich ist. Der Klägerin zustehende Nachzahlungen von Versorgungleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz haben also überhaupt erst ab Juni 2009 zu erfolgen und dies auf der Bemessungsgrundlage eines medizinischen GdS von 80 vom Hundert.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie orientiert sich am teilweisen Klageerfolg der Klägerin.

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