Urteil vom Verwaltungsgericht Aachen - 5 K 496/21.A
Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, den Asylantrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
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T a t b e s t a n d:
2Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Bescheidung seines am 8. Januar 2020 gestellten Asylantrags.
3Der am 00.00.0000 in S. S./Syrien geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens.
4Nach seinen Angaben im Verwaltungsverfahren verließ er sein Heimatland im August 2017 und reiste am 2. Januar 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 8. Januar 2020 stellte er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag. Nach dem vom Bundesamt abgerufenen EURODAC-Ergebnis hatte der Kläger bereits am 8. November 2017 in Thessaloniki/Griechenland einen Asylantrag gestellt und dort unter dem 27. Juli 2018 internationalen Schutz erhalten.
5Am 8. Januar 2020 führte das Bundesamt eine Befragung des Klägers zur Vorbereitung der Anhörung gemäß § 25 AsylG, ein Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und die persönliche Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags sowie ein Gespräch zum Reiseweg durch. Der Kläger erklärte u.a.: Er sei am 10. September 2017 in Griechenland eingereist, wo ihm internationaler Schutz zuerkannt worden sei. Er habe 2 Jahre in einem Camp in Thessaloniki gelebt. Seine Mutter, drei Brüder und eine Schwester befänden sich in Deutschland. Der Kläger legte das Attest einer Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin vom 6. Januar 2020 vor, wonach er unter sehr häufigen Panikattacken mit Hyperventilation sowie gleichzeitig auftretenden nervösen Tics im Gesicht und an den Extremitäten leide. Bei Stress verstärkten sich die Attacken. Eine Unterbringung des Patienten bei seinen Angehörigen in Euskirchen sei dringend anzuraten.
6Unter dem 10. Januar 2020 wurde die vom Kläger vorgelegte syrische ID-Karte im Rahmen einer Urkundenvorprüfung nicht beanstandet.
7Am 30. Januar 2020 hörte das Bundesamt den Kläger zur Zulässigkeit seines Asylantrags an. Zu seinem Aufenthalt in Griechenland erklärte der Kläger im Wesentlichen: Im Camp in Thessaloniki habe es ständig Probleme gegeben. Sie hätten mit vier oder fünf Leuten in Wohncontainern geschlafen. Es habe einen Waschraum gegeben, aber keine Möglichkeit die Wäsche zu waschen. Es seien viele Drogenabhängige und Rebellen im Lager gewesen. Sein Bruder habe Probleme mit einer Gruppe gehabt, die dem IS ähnlich sei. Die Gruppe sei mit Messern und Stöcken ausgestattet gewesen und habe sie bedroht. Er habe vom griechischen Staat 150,-- € bekommen. Das habe nicht ausgereicht, um das Essen und die Medikamente zu bezahlen. Dann sei die Geldzahlung eingestellt worden und er habe ein Schreiben erhalten, dass er das Camp verlassen und eine Wohnung suchen müsse. Es habe aber keine Arbeit gegeben; selbst für Griechen gebe es keine Arbeit. Als Arbeit für Migranten gebe es nur den Drogenhandel; das habe er nicht machen wollen. Oft sei ihm schwindelig gewesen und er sei umgefallen. Ein Freund habe ihn ins Krankenhaus gebracht, er sei aber nicht behandelt worden. Bis Oktober 2019 sei er im Camp gewesen, dann habe er mit einer Gruppe von Freunden in Athen eine Wohnung gemietet, obwohl er sie nicht habe bezahlen können. Er habe sich mit Hilfe eines Anwalts in Syrien einen syrischen Pass besorgt und versucht, damit aus Griechenland auszureisen. Man habe ihn jedoch am Flughafen aufgegriffen und seinen Pass eingezogen. Sein Asylverfahren sei dann eingestellt worden und es habe seine Abschiebung in die Türkei oder nach Syrien gedroht. Die Lage in Griechenland sei nicht mehr auszuhalten gewesen. Seine Familie befinde sich jetzt in Deutschland. Er benötige die Unterstützung seiner Familie und medizinische Behandlung wegen seiner Anfälle und Epilepsie. Er nehme die Medikamente Ergenyl Chrono und Tavor Expidet. Außerdem gebe es etwas, was er nicht vor einer weiblichen Dolmetscherin sagen wolle.
8Mit Schriftsatz vom 17. Februar 2020 bestellte sich der Prozessbevollmächtigte für den Kläger. Nach Akteneinsicht trug er unter dem 27. Februar 2020 vor, der Kläger sei aufgrund seiner Erkrankungen besonders vulnerabel. Er legte einen Bericht der Aufnahmeeinrichtung Essen vor, wonach der Kläger am 3. Januar 2020 gegen 23.00 Uhr krampfend am Boden vorgefunden worden war. Die Klinik für Innere Medizin/Evangelische Kliniken Essen-Mitte diagnostizierte eine Panikattacke mit Hyperventilation und empfahl eine ambulante psychologische und psychiatrische Anbindung (Attest vom 4. Januar 2020).
9Unter dem 16. März 2020 ersuchte das Bundesamt die griechischen Behörden (Hellenic Police Headquarters) um eine Zusicherung, dass der Kläger in Übereinstimmung mit den Standards des EU-Rechts behandelt werde, insbesondere im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU und des Art. 3 EMRK. Am 19. Mai 2020 erinnerte das Bundesamt an die baldige Bearbeitung der Anfrage.
10Am 29. September 2020 teilte der Anwalt die neue Anschrift des Klägers mit und mit Schreiben vom 17. Dezember 2020 bat er das Bundesamt um Mitteilung, wann voraussichtlich über den Asylantrag entschieden werde (§ 24 Abs. 4 AsylG). Am 6. Januar 2021 erwiderte das Bundesamt, aufgrund der derzeitigen Lage sei es leider nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen könne. Es werde gebeten, "sich noch ein wenig zu gedulden".
11Der Kläger hat am 2. März 2021 Klage erhoben. Er trägt vor: Er sei psychisch angeschlagen und habe einen Anspruch auf internationalen Schutz. Ein längeres Zuwarten sei ihm nicht zuzumuten.
12Der Kläger beantragt,
13die Beklagte zu verpflichten, das Schutzbegehren des Klägers zu bescheiden.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Sie erklärt: Einer Entscheidung über den Asylantrag stehe aktuell noch die weitere Sachaufklärung entgegen. Die Tatsache, dass die Europäische Kommission bislang kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland eingeleitet habe, lasse den Schluss zu, dass die Situation vor Ort als angemessen zu beurteilen sei und Griechenland stattdessen weiterhin in der Bewältigung der Herausforderungen in den
17Bereichen Asyl und Migration in Form vielfältiger Maßnahmen unterstützt werde. Angesichts der Dynamik von Versorgungssituation und Arbeitsmarktlage auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie und der dargestellten zwischenstaatlichen Vermutung sei das Bundesamt auf eine stets aktualisierte Erkenntnislage angewiesen, damit diese Grundlage der Entscheidung werden könne.
18Die Aktualisierung der Erkenntnislage habe auch in diesem Einzelfall Auswirkungen auf die Entscheidungspraxis und begründe sich in der Sache auf im Unionsrecht angelegte Verfahrensabläufe. Zudem sei eine Mehrfachgewährung internationalen Schutzes unionsrechtlich nicht vorgesehen. Besondere Schwierigkeiten der Sachaufklärung, die sich aus der notwendigen Mitwirkung eines anderen Staates ergeben würden, stellten allerdings einen "zureichenden Grund" nach § 75 Satz 1 VwGO mit der Folge einer Verfahrensaussetzung durch das Gericht dar. Auch im Fall einer gerichtlichen Entscheidung sei das Treffen einer erneuten Unzulässigkeitsentscheidung nicht ausgeschlossen. Die Bindungswirkung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nach § 121 VwGO beziehe sich nur auf Rechtsansprüche zum Zeitpunkt der Urteilsfindung. Eine spätere Sachlagenänderung habe Auswirkungen auf den Streitgegenstand, was insbesondere der Fall sei, wenn die griechischen Behörden die Unterbringung und Versorgung des Klägers entsprechend den in Art. 3 EMRK normierten Vorgaben sicherstellen würden.
19Die Kammer hat mit Beschluss vom 14. Juli 2021 das Verfahren auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
20Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten (E1) sowie auf die beigezogene Gerichtsakte 5 K 65/21.A (Aufstockungsklage der Mutter des Klägers) und die dort beigezogenen Verwaltungsvorgänge (E1 bis E5, auch betreffend weitere Familienangehörige).
21E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
22Die Einzelrichterin kann gemäß § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
23Das allein auf die Verpflichtung der Beklagten zur Bescheidung des Asylantrags beschränkte, in Gestalt der Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) verfolgte Klagebegehren hat Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Entscheidung über seinen Asylantrag.
24Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz, mithin das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Artikel 9 des Gesetzes vom 9. Juli 2021 (BGBl. I S. 2467) und die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.d.F. der Bekanntmachung vom 19. März 1991 (BGBl. I S. 686), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 8. Oktober 2021 (BGBl. I S. 4650).
251. Die Klage ist als Verpflichtungsklage in Form der (Bescheidungs)Untätigkeitsklage zulässig (§ 42 Abs. 1 2. Alt. VwGO i.V.m. § 75 VwGO).
26a) Die Sperrfrist des § 75 Satz 2 VwGO ist abgelaufen. Nach § 75 Satz 1 VwGO ist eine Verpflichtungsklage abweichend von § 68 VwGO zulässig, wenn über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Nach Satz 2 der Vorschrift kann die Klage nicht vor Ablauf von drei Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes erhoben werden, außer wenn wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist. Die Einhaltung der Sperrfrist des § 75 Satz 2 VwGO ist als besondere Prozessvoraussetzung im Sinne einer Sachurteilsvoraussetzung zu verstehen, die im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen muss. Unerheblich ist, ob sich die Verzögerung der Verwaltungsentscheidung im Zeitpunkt der Klageerhebung als unzureichend begründet erweist oder nicht.
27Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 1973 - 4 C 2/71 -, juris Rn 25f; Funke-Kaiser in Bader u.a., VwGO, 7. Auflage 2018, § 75 Rn 3 m.w.N.
28Eine Entscheidung über den Asylantrag des Klägers liegt nicht vor. Die Klage ist auch nicht verfrüht erhoben worden. Der Kläger stellte am 8. Januar 2020 den förmlichen Asylantrag und hat am 2. März 2021, also über ein Jahr später Klage erhoben. Bereits zu diesem Zeitpunkt war die Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO längst verstrichen. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sind seit Antragstellung mittlerweile 22 Monate verstrichen. Auch die Frist des Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie, im Folgenden: RL 2013/32/EU), wonach das Prüfungsverfahren innerhalb von sechs Monaten nach förmlicher Antragstellung zum Abschluss gebracht werden muss und die Sechsmonatsfrist für den Auskunftsanspruch gemäß § 24 Abs. 4 AsylG sowie die Höchstfrist des Art. 31 Abs. 5 RL 2013/32/EU für die Entscheidung über ein Schutzbegehren, sind abgelaufen, so dass die Frage, ob die Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO durch die RL 2013/32/EU bzw. § 24 Abs. 4 AsylG modifiziert wird, offen bleiben kann.
29Vgl. hierzu VG Hannover, Urteil vom 29. Juni 2021 - 12 A 3583/21 -, juris Rn 17 ff m.w.N.
30Im Ergebnis wäre die Frage wohl zu verneinen, weil weder unionsrechtliche noch nationale Fristen für das behördliche Verwaltungsverfahren nationale prozessrechtliche Fristen modifizieren.
31Vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 19/2018 Anm. 6, juris.
32b) Der Kläger hat auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für eine auf Bescheidung beschränkte Untätigkeitsklage.
33Wird über einen Antrag auf Vornahme eines - wie hier - rechtlich gebundenen, begünstigenden Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund nicht innerhalb angemessener Frist entschieden, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis im Regelfall nur für die auf Vornahme gerichtete Untätigkeitsklage (sog. Vornahmeuntätigkeitsklage). Denn im Bereich gebundener begünstigender Verwaltungsakte folgt aus § 113 Abs. 5 VwGO in Verbindung mit dem Amtsermittlungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO, dass bei fehlerhafter oder verweigerter sachlicher Entscheidung der Behörde die dem Rechtsschutzbegehren des Klägers allein entsprechende Verpflichtungsklage die richtige Klageart ist mit der Konsequenz, dass das Verwaltungsgericht die Sache spruchreif zu machen hat und sich nicht auf eine Entscheidung beschränken darf, die im Ergebnis eine Zurückverweisung an die Verwaltungsbehörde zur Folge hat. Die Beschränkung auf die Bescheidungsuntätigkeitsklage ist nur dann zulässig, wenn - neben der allgemeinen, vorliegend unstreitigen Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO - ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis besteht. Ein solches liegt hier mit Blick auf die besondere - auf Beschleunigung und Konzentration auf eine Behörde gerichtete - Ausgestaltung des Asylverfahrens durch das Asylverfahrensgesetz im Falle versäumter Sachentscheidung durch das Bundesamt jedenfalls deshalb vor, weil der Kläger bislang nicht gemäß § 25 AsylG zu seinen Asylgründen angehört worden ist.
34Vgl. grundsätzlich bereits BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 - 9 C 264/94 -, juris Rn 14f; vgl. ausführlich zu den Besonderheiten des behördlichen Asylverfahrens und seinen spezifischen Verfahrensgarantien: BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2018 - 1 C 18/17 -, juris.
352. Die zulässige Klage ist begründet. Die Nichtbescheidung des Asylbegehrens ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat einen Anspruch auf Bescheidung seines Asylantrags (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und 2 VwGO).
36Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegt kein zureichender Grund für die Nichtbescheidung des Asylbegehrens vor. Es ist deshalb auch nicht geboten, das Verfahren gemäß § 75 Satz 3 VwGO auszusetzen und der Beklagten eine Frist zur Sachentscheidung zu setzen.
37Ob ein "zureichender Grund" für die Verzögerung vorliegt, ist nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein "zureichender Grund" vorliegt, sind neben den vielfältigen Umständen, die eine verzögerte behördliche Entscheidung dem Grunde nach zu rechtfertigen geeignet sind, auch eine etwaige besondere Dringlichkeit einer Angelegenheit für den Kläger zu berücksichtigen. Zureichende Gründe sind dabei nur solche, die mit der Rechtsordnung in Einklang stehen.
38Vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Juli 1991 - 3 C 56/90 -, juris .
39Als mögliche zureichende Gründe für eine Verzögerung sind u.a. anerkannt worden ein besonderer Umfang und besondere Schwierigkeiten der Sachaufklärung oder die außergewöhnliche Belastung einer Behörde, auf die durch organisatorische Maßnahmen nicht kurzfristig reagiert werden kann.
40Nach diesen Grundsätzen besteht vorliegend kein zureichender Grund dafür, den Asylantrag des Klägers nicht zu bescheiden, zumal im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung seit Antragstellung 22 Monate vergangen sind und somit auch die Höchstfrist des Art. 31 Abs. 5 RL 2013/32/EU für die Entscheidung über ein Schutzbegehren abgelaufen ist. Diese Frist ist als absolute Grenze für die behördliche Untätigkeit zu sehen.
41Vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 19/2018 Anm. 6, juris.
42Insbesondere rechtfertigen die von der Beklagten vorgebrachten Gründe keine Nichtbescheidung des Asylbegehrens des Klägers; sie stehen nicht mit der Rechtsordnung in Einklang.
43Es ist die Aufgabe des Bundesamtes in Verfahren, in denen die Asylantragsteller bereits über einen Schutzstatus in einem anderen Mitgliedstaat verfügen, die Lage der Rückkehrer in diesem Mitgliedstaat und eine mögliche Verletzung garantierter Rechtsgüter sorgfältig und nach aktueller Erkenntnislage zu prüfen. Allerdings muss dies innerhalb angemessener Fristen erfolgen. Insoweit ist jedenfalls das Fristenregime des Art. 31 Abs. 3 bis 6 RL 2013/32/EU zu beachten, wonach die Prüfungsverfahren innerhalb von sechs Monaten nach förmlicher Antragstellung zum Abschluss gebracht werden sollen, diese Frist ausnahmsweise in begründeten Fällen um weitere neun Monate verlängert werden darf und die Verfahren in jedem Fall innerhalb von 21 Monaten abgeschlossen sein müssen. Da vorliegend alle Fristen verstrichen sind, kann das Gericht offen lassen, ob die verlängerten Fristen überhaupt gelten, wenn die Lage in einem Mitgliedstaat und nicht im Herkunftsstaat (vgl. Art. 31 Abs. 4 RL 2013/32/EU) aufzuklären ist.
44Das Gericht teilt bereits die grundsätzliche Einschätzung des Bundesamtes nicht, dass sich die allgemeinen Lebensumstände für Personen, die - wie der Kläger - in Griechenland internationalen Schutz erhalten haben und dorthin zurückkehren, auf der Grundlage der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht ausreichend beurteilen ließen. Es sei insoweit nur beispielhaft auf die zwölf Seiten umfassende Erkenntnismittelliste Griechenland des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mit Stand vom 29. September 2021 verwiesen (abrufbar unter:https://verwaltungsgerichtshof-baden-wuerttemberg.justiz-bw.de/pb/site/jum2/get/documents/jum1/JuM/VGH/EML/2021/Q%204/Griechenland_Q4_2021.pdf). Soweit die Beklagte einwendet, es fehle an aktuellen Erkenntnissen und es bestünden "besondere Schwierigkeiten der Sachaufklärung, die sich aus der notwendigen Mitwirkung eines anderen Staates ergeben würden", hat sie dies in keiner Weise belegt. Insbesondere hat die Beklagte den in einem Parallelverfahren mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2021 angekündigten Recherchebericht bislang nicht vorgelegt. Die Beklagte hatte insoweit auf die Gewinnung eigener Erkenntnisse vor Ort verwiesen. Der bundesamtseigene Verbindungsbeamte in Griechenland sei gebeten worden, weitere Recherchen vorzunehmen. Es sei ein umfassender Fragenkatalog vorbereitet, der bspw. Fragen zur Unterkunftssituation (u.a. Kälteisolation in Unterkünften, Situation von Obdachlosen), Zugang zu Sozialhilfeleistungen und zu medizinischer Versorgung, Integrationsangebote (aktuelle Entwicklungen im HELIOS II-Programm) und der Situation unter Corona enthalte. Nach Beantwortung dieser Fragen werde ein Bericht erstellt, der auch an VGs übersandt werde. Diese umfangreiche Recherche benötige jedoch einige Zeit, da viele verschiedene Akteure involviert seien. Ein Rücklauf sei bislang noch nicht zu verzeichnen.
45Weiter hat die Beklagte auf Bemühungen der Bundesrepublik auf höchster politischer Ebene verwiesen und insoweit auf die Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums vom 22. Juli 2021 sowie die Gemeinsame Absichtserklärung zu Bemühungen um die Integration von Personen mit internationalem Schutzstatus in Griechenland (abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2021/07/kooperation-grc.html). Diese beziehen sich jedoch ausschließlich auf Personen mit internationalem Schutzstatus, die sich derzeit in Griechenland aufhalten und nicht auf die Rückführung von Schutzberechtigten aus Deutschland. Einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 20. Oktober 2021 zufolge wurde ausweislich eines Berichts des Bundesinnenministeriums in den ersten neun Monaten dieses Jahres lediglich ein Asylbewerber aus Deutschland in den zuständigen EU-Mitgliedstaat Griechenland überstellt bei über 7.100 Übernahme-Ersuchen (abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/migration-seehofer-sieht-draengende-fragen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-211020-99-660366). Dies spricht nicht für einen absehbaren Erfolg der Bemühungen auf diplomatischer Ebene.
46Aus dem der Kammer in einem vergleichbaren Verfahren vorgelegten Rundschreiben der Beklagten Az. 61A-7406/393-21 vom 11. Mai 2021 ergibt sich schließlich, dass für "Verfahren in der Griechenland-Ablage" eine Wiederaufnahme der Entscheidungstätigkeit seitens der Beklagten kumulativ an folgende Voraussetzungen geknüpft wird:
47"Folgende Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen, damit eine Entscheidung getroffen werden kann:
481. Es handelt sich um
49a. einen Ausländer, dem bereits internationaler Schutz in Griechenland
50zuerkannt wurde oder
51b. das nachgereiste/nachgeborene Kind eines Ausländers, dem bereits
52internationaler Schutz in Griechenland zuerkannt wurde. Ein Dublin-
53Verfahren für das Kind konnte nicht erfolgreich durchgeführt bzw.
54abgeschlossen werden.
552. Im Verfahren wurde eine Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht erhoben.
563. Das Bundesamt wurde durch das Verwaltungsgericht unanfechtbar
57verpflichtet, über den Asylantrag zu entscheiden.
584. Die vom Gericht regelmäßig gesetzte Frist für den Vollzug des Urteils ist
59abgelaufen.
605. Der/Die Antragstellende hat beim Verwaltungsgericht einen Antrag gem. § 172 VwGO auf Androhung eines Zwangsgeldes gegen das Bundesamt gestellt, der dem Bundesamt vom Verwaltungsgericht zugestellt wurde.
61….
62Für alle anderen Fallkonstellationen, in denen kein Antrag nach § 172 VwGO eingegangen ist, gilt weiterhin, dass keine Entscheidungen über die Asylanträge getroffen werden."
63Diese behördeninterne Anweisung verletzt das für das Asylverfahren geltende Beschleunigungsgebot. Nach Art. 31 Abs. 2 RL 2013/32/EU haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass das Prüfverfahren unbeschadet einer angemessenen vollständigen Prüfung so rasch wie möglich zum Abschluss gebracht wird.
64Nach allem ist die Beklagte zu verpflichten, das Schutzbegehren des Klägers zu bescheiden.
65Mit Blick auf das weitere Verfahren und die Anweisung im o.g. Rundschreiben der Beklagten, wonach beim Vorliegen der zitierten Voraussetzungen stets eine Ablehnung des Asylantrages als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfolgen soll und nationale Abschiebungsverbote hinsichtlich Griechenlands zu verneinen seien, weist das Gericht vorsorglich darauf hin, dass die Beklagte den Kläger selbst als vulnerable Person einstuft und aus diesem Grund unter dem 16. März 2020 eine entsprechende, bis heute nicht beantwortete Anfrage an Griechenland gerichtet hat. Da auch auf die Erinnerung vom 19. Mai 2020 keine Reaktion Griechenlands erfolgte, ist nach nunmehr eineinhalb Jahren nicht mehr mit einer individuellen Garantieerklärung Griechenlands zu rechnen. Eine Ablehnung als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dürfte damit nicht mehr in Betracht kommen.
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Referenzen
- VwGO § 86 1x
- VwGO § 172 2x
- 5 K 65/21 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 68 1x
- 6 RL 2013/32 1x (nicht zugeordnet)
- § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 42 2x
- 4 RL 2013/32 1x (nicht zugeordnet)
- 5 RL 2013/32 2x (nicht zugeordnet)
- 2 RL 2013/32 1x (nicht zugeordnet)
- 12 A 3583/21 1x (nicht zugeordnet)
- 3 C 56/90 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 75 9x
- § 25 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 121 1x
- VwGO § 113 2x
- § 24 Abs. 4 AsylG 3x (nicht zugeordnet)
- 1 C 18/17 1x (nicht zugeordnet)
- 9 C 264/94 1x (nicht zugeordnet)
- 4 C 2/71 1x (nicht zugeordnet)