Urteil vom Verwaltungsgericht Aachen - 1 K 2167/21
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides der BG Verkehr vom 7. Dezember 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2021 verpflichtet, den Unfall des Klägers vom 12. Mai 2020 als Dienstunfall anzuerkennen.
Die Hinzuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
T a t b e s t a n d :
2Der 1970 geborene Kläger steht als Postbeamter im Dienst der Deutschen Post AG und begehrt die Anerkennung eines Dienstunfalls.
3Der Kläger erlitt am 12. Mai 2020 beim Beladen seines Zustellfahrzeugs eine Sehnenruptur am rechten Arm, als er ein Paket hoch hob. Am selben Tag suchte er ärztliche Hilfe bei einem Arzt auf, der einen Abriss der distalen Bizepssehne am rechten Ellenbogen diagnostizierte. Am 25. Mai 2020 bestätigte ein MRT den Befund. Der Kläger war vom 4. bis zum 8. Juni 2020 im Kreiskrankenhaus in stationärer Behandlung und wurde dort operiert.
4Die Deutsche Post AG zeigte den Unfall unter dem 30. Juli 2020 der BG Verkehr an. Mit anwaltlichem Schreiben vom 10. November 2020 erkundigte sich der Kläger nach dem Sachstand.
5Mit Bescheid vom 7. Dezember 2020 lehnte die BG Verkehr die Anerkennung des Vorfalls vom 12. Mai 2020 als Dienstunfall ab und führte aus, das Anheben eines Paketes sei nicht geeignet, den Riss der Bizepssehne zu verursachen. Diese sei auf schwere Belastungen ausgelegt und könne ohne Vorschädigung nicht reißen. Der Kläger legte fristgemäß Widerspruch ein und gab an, er habe ein schweres Paket in das Zustellfahrzeug geladen, als die Sehne gerissen sei. Vorschädigungen habe er nicht gehabt.
6In einem Vermerk vom 14. April 2021 ist durch die BG Verkehr festgehalten, dass das Verfahren noch nicht entscheidungsreif sei; das ausgedehnte Hämatom spreche für einen Dienstunfall. Man hole ein Gutachten ein.
7Das BG Klinikum erstattete unter dem 9. Juli 2021 ein orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten zur Feststellung der Unfallzusammenhangsfrage und kam zu dem Ergebnis, dass erheblich mehr Faktoren vorlägen, die für eine Anerkennung eines Risses der Bizepssehne rechts als Unfallfolgen sprächen. So sei der zeitliche Abstand zwischen Unfallereignis und erstem ärztlichen Kontakt regelhaft für eine frische traumatische Verletzung. Auch aufgrund des MRTs sei der Riss eindeutig als frisch einzustufen, die MRT-Untersuchung habe keine wesentlichen Hinweise auf eine maßgebliche degenerative Veränderung der rechten Bizepssehne gezeigt. Die im Operationsbericht beschriebene Ausfransung der Sehne sei für einen unfallbedingten Riss typisch. Der Unfallhergang, Anheben eines 30 kg schweren Pakets mit einem Arm, übersteige eine tägliche Belastung deutlich. Es werde empfohlen, den Riss der körperfernen Bizepssehne als Unfallfolge anzuerkennen. Eine unfallbedingte Dienstunfähigkeit sei bis zum Abschluss der medizinischen Heilverfahren anzunehmen, die MdE werde auf 10 v. H. eingestuft.
8Der fachärztliche Berater der BG Verkehr führte in Kenntnis des Gutachtens unter dem 24. September 2021 aus, es bestünden aufgrund der Hergangsschilderung nicht gänzlich unerhebliche Zweifel an einem wesentlich ursächlichem Zusammenhang, wobei allerdings der von den Gerichten geforderte Nachweis einer inneren Ursache nicht erbracht werden könne. Die MdE sei nachvollziehbar.
9Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober 2021 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung wird angegeben, die Ruptur liege unfallunabhängig vor. Ein plötzlicher Schmerz beim Anheben eines Gegenstandes sei ein ungeeigneter Hergang für die Entstehung einer Bizeps-Sehnenruptur rechts. Dem Ergebnis des Gutachtens sei nicht zu folgen.
10Der Kläger hat am 13. Oktober 2021 Klage erhoben und ausgeführt, aus nicht nachvollziehbaren Gründen weiche die Beklagte von dem Ergebnis des eingeholten Gutachtens ab. Sowohl durch den Gutachter als auch durch die behandelnden Ärzte sei eindeutig festgestellt worden, dass die Ruptur durch das Unfallereignis vom 12. Mai 2020 verursacht worden sei. Eine andere Ursache komme nicht in Betracht.
11Der Kläger beantragt,
12die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides der BG Verkehr vom 7. Dezember 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2021 zu verpflichten, den Unfall vom 12. Mai 2020 als Dienstunfall anzuerkennen,
13sowie die Hinzuziehung seines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Dem im Widerspruchsverfahren eingeholten Gutachten sei nicht zu folgen, denn es berücksichtige nicht die Prüfgrundsätze zum Kausalzusammenhang. Insoweit werde auf die Begründung der angefochtenen Bescheide verwiesen.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach‑ und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
18E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
19Die zulässige Klage ist begründet.
20Der Bescheid der BG Verkehr vom 7. Dezember 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass der Unfall vom 12. Mai 2020 als Dienstunfall anerkannt wird, vgl. § 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO.
21Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG ist ein Dienstunfall ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist.
22Das hier maßgebliche Merkmal „ein (…) einen Körperschaden verursachendes Ereignis“ setzt einen mehrfachen Zurechnungszusammenhang zwischen dem Dienst, dem Ereignis und dem Körperschaden voraus. Für die Frage der kausalen Verknüpfung zwischen Unfallereignis und (weiterem) Körperschaden ist dabei die sog. Theorie der wesentlichen Verursachung bzw. der zumindest wesentlich mitwirkenden Teilursache maßgeblich.
23Vgl. OVG NRW, Urteil vom 9. Juli 2021 - 1 A 323/18 -, juris, Rn. 41.
24Diese Auffassung dient in erster Linie der Differenzierung zwischen mehreren Ursachen, die adäquat kausal zu einem Unfall geführt haben. Dies zielt auf eine sachgerechte Risikoverteilung. Dem Dienstherrn sollen nur die spezifischen Gefahren der Beamtentätigkeit oder nach der Lebenserfahrung auf sie zurückführbaren, für den Schaden wesentlichen Risiken aufgebürdet werden. Diejenigen Risiken, die sich aus persönlichen, von der Norm abweichenden Anlagen oder aus anderen als dienstlich gesetzten Gründen ergeben, sollen hingegen bei dem Beamten belassen werden. Der Kausalzusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Körperschaden besteht dann nicht mehr, wenn für den Erfolg eine weitere Bedingung ausschlaggebende Bedeutung hat. (Mit-)ursächlich für einen eingetretenen Körperschaden sind daher nur solche Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen (natürlich-logischen) Sinn, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg bei natürlicher Betrachtungsweise zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben.
25Vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Dezember 2019 - 2 A 6.18 -, juris, Rn. 17 ff., vom 25. Februar 2010 - 2 C 81.08 -, juris, Rn. 9, und vom 18. April 2002 - 2 C 22.01 -, juris, Rn. 11, sowie Beschluss vom 8. März 2004 - 2 B 54.03 -, juris, Rn. 7 f.
26Maßgebend ist, ob der Schaden, wie er konkret im dienstlichen Zusammenhang eingetreten ist, hypothetisch ohne Weiteres und in absehbarer Zeit auch im privaten Bereich hätte eintreten können. Diese Beurteilung beruht im Wesentlichen auf der Feststellung, in welchem Zustand sich das geschädigte Körperteil vor dem Unfall befand und welche spezifischen Anforderungen aus der dienstlichen Betätigung herrühren, die die Zuordnung des Schadensereignisses zur privaten Sphäre ausschließen.
27Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. März 2004 -2 B 54.03 -, juris, Rn. 9.
28Wesentliche Ursache im Dienstunfallrecht kann danach auch ein äußeres Ereignis sein, das ein anlagebedingtes Leiden auslöst oder (nur) beschleunigt. Diesem Ereignis darf allerdings im Verhältnis zu anderen Bedingungen – zu denen auch die bei Eintritt des äußeren Ereignisses schon vorhandene Veranlagung gehört – keine derart untergeordnete Bedeutung für den Eintritt der Schadensfolge zukommen, dass diese anderen Bedingungen bei natürlicher Betrachtung allein als maßgeblich anzusehen sind.
29Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 2018 – 1 A 2072/15 –, juris, Rn. 19, und Urteil vom 23. November 2015 – 1 A 857/12 –, juris, Rn. 70, m.w.N.; VG Aachen, Urteil vom 8. April 2022 - 1 K 450/21 -, n.v.
30Keine Ursache im Rechtssinne ist demnach eine sog. Gelegenheitsursache. Eine solche Gelegenheitsursache ist gegeben, wenn die Beziehung zum Dienst ein rein zufällige ist und das schädigende Ereignis nach menschlichem Ermessen bei jedem anderen nicht zu vermeidenden Anlass in naher Zukunft ebenfalls eingetreten wäre. Der Zusammenhang zum Dienst ist daher nicht anzunehmen, wenn ein anlagebedingtes Leiden durch ein dienstliches Vorkommnis nur rein zufällig ausgelöst worden ist. Dies ist in Fällen anzunehmen, in denen die krankhafte Veranlagung oder das anlagebedingte Leiden des Beamten so leicht aktualisierbar war, dass es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlichen Einwirkungen bedurfte, sondern auch ein anderes alltäglich vorkommendes Ereignis denselben Erfolg herbeigeführt hätte.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2019 - 2 A 6.18 -, juris, Rn. 19, m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 2018 - 1 A 2072/15 -, juris, Rn. 19f., und Urteil vom 23. November 2015 - 1 A 857/12 -, juris, Rn. 70f., jeweils m. w. N.
32Im Dienstunfallrecht trägt grundsätzlich der Beamte die materielle Beweislast für den Nachweis, dass ein eingetretener Körperschaden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf einem Dienstunfall beruht.
33Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2009 - 2 C 134.07 -, juris, Rn. 26; OVG NRW, Urteil vom 30. November 2017 - 1 A 469/15 -, juris, Rn. 58, m.w.N.
34Wird ein Bescheid, mit dem Folgen eines Dienstunfalls anerkannt wurden, zurückgenommen, trägt jedoch der Dienstherr die materielle Beweislast für dessen Rechtswidrigkeit.
35Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Mai 2021 - 2 C 10.20 -, juris.
36Gemessen hieran liegt der dienstunfallrechtliche Kausalzusammenhang zwischen dem Vorfall vom 12. Mai 2020 und der bei dem Kläger diagnostizierten Sehnenruptur vor.
37Unbestritten beruht nach allen vorliegenden Unterlagen der Körperschaden kausal auf dem Vorfall vom 12. Mai 2020, dem Beladen des Fahrzeugs mit Paketen. Zur Überzeugung der Kammer handelt es sich auch nicht um eine Gelegenheitsursache, bei der ein anlagebedingtes Leiden durch ein dienstliches Vorkommnis nur rein zufällig ausgelöst wird und dementsprechend kein Dienstunfall vorliegt.
38Vielmehr ist das Einladen des Paketes die wesentliche Ursache für den Sehnenriss mit der Folge, dass der Kläger einen Anspruch auf Anerkennung eines Dienstunfalls besitzt. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus dem auf der Grundlage der vorliegenden fachärztlichen Berichte und eigener Untersuchungen erstellten Gutachten des BG Klinikums vom 9. Juli 2021. Nachvollziehbar und überzeugend wird in dem Gutachten dargelegt, dass der zeitliche Abstand zwischen Unfallereignis und erstem ärztlichen Kontakt regelhaft für eine frische traumatische Verletzung sei, die MRT-Untersuchung einen frischen Riss ohne wesentlichen Hinweise auf eine maßgebliche degenerative Veränderung der rechten Bizepssehne zeige, und auch die im Operationsbericht beschriebene Ausfransung der Sehne für einen unfallbedingten Riss typisch sei. Schließlich sei der Unfallhergang, das Anheben eines 30 kg schweren Pakets mit einem Arm, nicht mehr als eine tägliche Belastung einzustufen.
39Die hiergegen vorgebrachten Einwände der Beklagten, die dem von ihr in Auftrag gegebenen Gutachten im Ergebnis nicht folgen möchte, sind nicht mehr nachvollziehbar. Eine andere Ursache als das Unfallereignis vom 12. Mai 2020 kommt als Auslöser der Ruptur nicht in Betracht, Anzeichen einer Vorschädigung wurden ärztlicherseits nicht gefunden. Welche Prüfgrundsätze zum Kausalzusammenhang vor diesem Hintergrund nicht berücksichtigt worden seien, erschließt sich nicht.
40Die Hinzuziehung des Bevollmächtigten des Klägers für das Vorverfahren war für notwendig zu erklären. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO ist die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu beurteilen. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Zuziehung eines Rechtsanwalts dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen.
41Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Dezember 2009 - 1 WB 61/09 -, juris; VG Köln, Urteil vom 4. Februar 2014 - 19 K 360/13 -, juris.
42Aus dem Begriff der "Notwendigkeit" der Zuziehung eines Rechtsanwalts folgt nicht, dass die Erstattungsfähigkeit im Vorverfahren eine Ausnahme bleiben müsste; der Gesetzeswortlaut gibt für eine solche Einschränkung keinen Anhaltspunkt. Nach diesen Maßstäben kann der Kläger unter Berücksichtigung der durch die Komplexität des Dienstunfallrechts geprägten Rechtslage die Erstattung der Vergütung des von ihm hinzugezogenen Rechtsanwalts auch für das Widerspruchsverfahren verlangen.
43Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Sätze 1 und 2 ZPO.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- 1 WB 61/09 1x (nicht zugeordnet)
- BeamtVG § 31 Dienstunfall 1x
- 1 A 323/18 1x (nicht zugeordnet)
- 1 A 857/12 2x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 80 Erstattung von Kosten im Vorverfahren 1x
- 1 A 2072/15 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- VwGO § 162 1x
- 1 A 469/15 1x (nicht zugeordnet)
- 1 K 450/21 1x (nicht zugeordnet)
- 19 K 360/13 1x (nicht zugeordnet)