Urteil vom Verwaltungsgericht Düsseldorf - 26 K 7115/18.A
Tenor
Soweit die Kläger ihre Klage zurückgenommen haben, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 18. Juli 2018 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger je zu 1/8 und die Beklagte zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v. H. des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils vollstreckbaren Betrages leistet
1
Tatbestand:
2Die in der Reihenfolge des Rubrums am 00.00.1982 in N. , 00.00.1983 in D. , 00.00.2011 in L. und 00.00.2013 in P. geborenen Kläger sind türkische Staatsangehörige, türkischer Volkszugehörigkeit mit letztem türkischen Wohnsitz in C. . Nach ihren Angaben verließen im August 2006 ihr Heimatland, hielten sich zunächst in Pakistan auf, später, von Oktober 2017 bis zum 10. Mai 2018, in Bosnien und Herzegowina, und reisten schließlich auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein. Über das Bundesverwaltungsamt ermittelte die Beklagte, dass die Kläger überwiegend über gültige Reisepässe, deren Gültigkeit 2021 bzw. 2022 abläuft, verfügten, ferner über Visa, die von der ungarischen bzw. der deutschen Botschaft in Sarajewo ausgestellt wurden. Nachgewiesen sind mehrere Einreisen sowohl in die Türkei als auch in den Schengener Raum einschließlich dem Bundesgebiet während die Kläger ihren Lebensmittelpunkt im Ausland hatten.
3Am 22. Mai 2018 stellten die Kläger ihre Asylanträge.
4Im Rahmen seiner Anhörung durch das Bundesamt am 23. Mai 2018 machte der Kläger zu 1. folgende Angaben: Er habe als N1. gearbeitet und sei in der Hizmet-Bewegung aktiv gewesen. 2017 habe die Familie Pakistan verlassen, weil sie kein Visum mehr hätten und ihnen zugetragen worden sei, dass ihre Pässe für ungültig erklärt worden seien. Wegen eines Auslieferungsabkommens habe die Gefahr bestanden, dass sie vom den pakistanischen Behörden an die Türkei ausgeliefert würden. Die gleiche Gefahr habe auch in Bosnien und Herzegowina bestanden, weil gegen ihn ein Haftbefehl vorgelegen habe. Der Vorwurf habe „Mitglied einer bewaffneten Terrorgruppierung“ gelautet. In ihrer Anhörung am selben Tag ergänzte die Klägerin zu 2. die Angaben: Sie sei ebenfalls Mathematiklehrerin. Nach dem Putschversuch in der Türkei seien sie aufgefordert worden, Pakistan zu verlassen. Auch sie sei in der Hizmet-Bewegung aktiv gewesen. Es lägen Haftbefehle vor.
5Mit Bescheid vom 18. Juli 2018 – am 6. August 2018 gegen Empfangsbestätigung ausgehändigt - lehnte das Bundesamt die Anträge als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen und drohte die Abschiebung primär nach Bosnien und Herzegowina unter Ausschluss der Türkei an; ferner befristete es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führt es aus, die Ablehnung beruhe auf § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Wegen des Voraufenthaltes in Bosnien und Herzegowina sei davon auszugehen, dass die Kläger dort wieder Aufnahme fänden, und zwar ohne die Gefahr, an die Türkei ausgeliefert zu werden. Eine materielle Prüfung der Anträge habe nicht stattgefunden.
6Die Kläger haben am 9. August 2018 die vorliegende Klage erhoben, die mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 23. August 2018 an das erkennende Gericht verwiesen worden ist.
7Ergänzend tragen sie vor, dass sie in Bosnien nicht sicher seien und reichen dazu eine Reihe von Unterlagen ein. Ferner liegen Bescheinigungen des türkischen Innenministeriums vor, wonach die Reisepässe der Kläger zu 1. und 2. für ungültig erklärt worden sind.
8Die Kläger zu 1. und 2. sind in der mündlichen Verhandlung informatorisch befragt worden.
9Die Kläger beantragen,
10den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juli 2018 aufzuheben.
11Ihren ursprünglich darüber hinausgehenden Antrag, die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und sie als Asylberechtigte anzuerkennen, hilfsweise, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei besteht, haben die Kläger zugleich zurückgenommen.
12Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
13die Klage abzuweisen.
14Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung und ergänzt, dass die Kläger mit ihren ungültigen Pässen in Bosnien und Herzegowina bereits Aufenthaltstitel erhalten hätten. Ein vergleichbares Verwaltungshandeln sei aktuell nicht ausgeschlossen. Zudem sei offen, ob die Ungültigkeit ihrer Pässe im Zusammenhang mit ihrer Anhängerschaft zur Gülen-Bewegung stehe. Zudem zeige sich Bosnien und Herzegowina bislang zurückhaltend, wenn es um die Auslieferung von vermuteten Gülen-Anhängern auf Verlangen der Türkei ginge.
15Der Einzelrichter hat eine Auskunft des Auswärtigen Amtes zur Wiederaufnahmebereitschaft des Staates Bosnien und Herzegowina und zur Gefahr der Auslieferung in die Türkei eingeholt.
16Wegen des weiteren Vorbringens der Verfahrensbeteiligten und des Sachverhaltes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Bundesamtes sowie der beigezogenen Ausländerakten der Ausländerbehörde der Stadt Wuppertal ergänzend Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe:
18Die Kammer konnte durch den Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) entscheiden, weil sie ihm den Rechtsstreit zur Entscheidung mit Beschluss vom 30. Januar 2020 übertragen hat.
19Soweit die Kläger ihre Klage zurückgenommen haben, war das Verfahren einzustellen, vgl. § 92 Abs. 3 VwGO.
20Die noch anhängige Klage hat Erfolg.
21Sie ist zulässig und begründet.
22Der ablehnende Bescheid des Bundesamtes vom 18. Juli 2018 ist insgesamt rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
23Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) liegen die Voraussetzungen für die Ablehnung der Asylanträge als unzulässig (hier: § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG) nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein Staat, der kein Mitglied der Europäischen Union und bereit ist, den Ausländer wieder aufzunehmen, als sonstiger Drittstaat gemäß § 27 betrachtet wird. Zwar haben die Kläger vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet über drei Monate in Bosnien und Herzegowina, einem Staat außerhalb der Europäischen Union, ihren Lebensmittelpunkt
24gehabt; allerdings ist die Vermutung des § 27 Abs. 3 AsylG, wonach sie dort vor politischer Verfolgung sicher waren, widerlegt. Zur Vermutung gehört die Bereitschaft des Drittstaates, den Ausländer wieder aufzunehmen und diesem eine den Anforderungen des § 27 AsylG in Verbindung mit Art. 35 Richtlinie 2013/32/EU entsprechende Sicherheit zu gewährleisten. Das bedeutet, dass der Betroffene nicht nur die Garantie haben muss, dass er in dem Drittstaat wieder aufgenommen wird. Ihm dürfen dort auch weder flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung noch Gefahren drohen, die einen Anspruch auf subsidiären Schutz begründen bzw. die Schwelle des Art. 3 EMRK erreichen. Er muss sich dort in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen so lange aufhalten können, wie es die im Land seines gewöhnlichen Aufenthalts bestehenden Gefahren erfordern.
25BVerwG, Urteil vom 25. April 2019 – 1 C 28/18 – juris, Rn. 15.
26Im vorliegenden Fall fehlt es schon an der Garantie, dass Bosnien und Herzegowina die Kläger wieder aufnehmen wird. Nach der Auskunft, die der Einzelrichter beim Auswärtigen Amt eingeholt hat, hängt die Erteilung eines Aufenthaltstitels bzw. die Wiedereinreise eines Ausländers von dessen gültigem Reisedokument und dessen Aufenthaltszweck ab. Die stammberechtigten Kläger zu 1. und 2. verfügen nach den zur Gerichtsakte gelangten Dokumenten nicht mehr über gültige Reisepässe, nachdem diese an und für sich noch gültigen Reisedokumente für ungültig erklärt bzw. annulliert worden sind. Anhaltspunkte dafür, dass die vorgelegten Bescheinigungen nicht echt sein könnten, liegen nicht vor, wobei eine Überprüfungsmöglichkeit derzeit ohnehin ausscheidet.
27Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 10. Dezember 2019 – 508-2-516.80 TUR – an alle Verwaltungsgerichte.
28Mit der Kassation der Ablehnung der Anträge fehlt es auch an einer Grundlage für die weiteren Entscheidungen zu den Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG), der Abschiebungsandrohung (vgl. § 34 AsylG) und der Fristbestimmung im Zusammenhang mit dem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG.
29Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs.1 Satz 1 und Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 100 Abs. 1 ZPO und § 83 b AsylG. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
30Der Gegenstandswert ergibt sich ohne Ansatzpunkte für eine Abänderung aus § 30 Abs. 1 RVG.
31Rechtsmittelbelehrung:
32Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung die Zulassung der Berufung beantragt werden. Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster.
33Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
341. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
352. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
363. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
37Der Antrag ist schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
38Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingereicht werden.
39In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
40Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
41Die Antragsschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
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Referenzen
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- § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 67 1x
- § 34 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 92 1x
- § 27 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 159 1x
- § 76 Abs. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- RVG § 30 Gegenstandswert in gerichtlichen Verfahren nach dem Asylgesetz 1x
- § 27 Abs. 3 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 1 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- VwGO § 167 1x
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