Beschluss vom Verwaltungsgericht Freiburg - A 1 K 1805/22

Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die unter Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30.06.2022 verfügte Abschiebungsanordnung wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

 
Die Entscheidung ergeht durch die Kammer, nachdem ihr der Einzelrichter den Rechtsstreit mit Beschluss vom 25.07.2022 gemäß § 76 Abs. 4 Satz 2 AsylG wegen grundsätzlicher Bedeutung übertragen hat.
Der am 06.07.2022 gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am selben Tag erhobenen Klage (A 1 K 1804/22) ist, soweit die Klage gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30.06.2022 enthaltene Abschiebungsanordnung gerichtet ist, gemäß §§ 75, 34a Abs. 2 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Der Antrag ist auch begründet. Die vom Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Gunsten des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse an der kraft Gesetzes (vgl. § 75 Abs. 1 AsylG) bestehenden sofortigen Vollziehbarkeit der angefochtenen Abschiebungsanordnung überwiegt im vorliegenden Fall nicht das gegenläufige Interesse des Antragstellers, bis zu einer Entscheidung über seine Klage von einer Rückführung nach Kroatien verschont zu bleiben; im Gegenteil. Dies folgt daraus, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG aller Voraussicht nach nicht vorliegen.
Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Staat abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Die Zuständigkeit eines anderen Staats nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG kann sich aus der Verordnung (EU) Nr.604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin-III-VO), ergeben.
Das öffentliche Interesse an der Wahrung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, wie sie die Dublin-III-VO regelt, ist von hohem Gewicht. Die Regelungen der Verordnung sind Ausdruck einer gemeinsamen Asylpolitik der Mitgliedstaaten, die ihrerseits ein wesentlicher Bestandteil des Ziels der Europäischen Union ist, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offensteht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen (vgl. Nr. 2 der der Verordnung vorangestellten Erwägungen). Zu diesen Regeln gehören klare, auch Grundrechte und humanitäre Erwägungen berücksichtigende Kriterien dazu, welcher Mitgliedstaat für die Entscheidung über einen Asylantrag zuständig ist (Art. 7 ff. Dublin-III-VO). Die Begründung einer ausschließlichen Zuständigkeit eines Mitgliedsstaats (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO) lässt es nicht zu, dass Asylantragsteller sich den Staat selbst aussuchen, in dem sie ihr Asylverfahren betreiben. Die Regelungen der Dublin-III-VO schließen aus naheliegenden Gründen auch aus, dass sich ein Asylantragsteller nach Ablehnung seines Asylantrags in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort ein weiteres Asylverfahren zu betreiben (Art. 18 Dublin-III-VO). Es liegt auf der Hand, dass die Nichtbeachtung der unionsrechtlich begründeten Zuständigkeitskriterien die Prüfung von Asylanträgen in den jeweils hiervon betroffenen Mitgliedstaaten zusätzlich erschwert.
Die Abwägung dieses öffentlichen Interesses mit dem Interesse eines Antragstellers, der Abschiebungsanordnung vorerst nicht nachkommen zu müssen, orientiert sich in erster Linie an deren voraussichtlicher Rechtmäßigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.01.2017 - 2 BvR 2013/16 -, juris, Rn. 17).
Die Abschiebungsanordnung erweist sich hier bei summarischer Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung voraussichtlich als rechtswidrig.
Dabei kann offenbleiben, ob Kroatien, das der Übernahme des Antragstellers zugestimmt hat, tatsächlich für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers (eigentlich) zuständig wäre, oder ob dieser – wie er vorträgt – das Unionsgebiet nach einer Rücküberstellung für einen längeren Zeitraum verlassen und sich aus seinem Herkunftsland aus erneut auf den Weg gemacht hat. Denn aus Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO folgt, dass ein Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht überstellt werden darf, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GR-Charta mit sich bringen.
Systemische Schwachstellen sind solche, die entweder bereits im Asyl- und Aufnahmeregime selbst angelegt sind und von denen alle Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar und regelhaft betroffen sind, oder aber tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird. Dabei ist der Begriff der systemischen Schwachstelle nicht in einer engen Weise derart zu verstehen, dass er geeignet sein muss, sich auf eine unüberschaubare Vielzahl von Antragstellern auszuwirken. Vielmehr kann ein systemischer Mangel auch dann vorliegen, wenn er von vornherein lediglich eine geringe Zahl von Asylbewerbern betreffen kann, sofern er sich nur vorhersehbar und regelhaft realisieren wird und nicht gewissermaßen dem Zufall oder einer Verkettung unglücklicher Umstände bzw. Fehlleistungen von in das Verfahren involvierten Akteuren geschuldet ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -, juris, Rn. 33 ff.; OVG NRW, Urteil vom 07.03.2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 87 ff. m.w.N.).
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Das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hat Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) sowie mit der Genfer Flüchtlingskommission (GFK) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, mithin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung dieser Vermutung setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht; (erst) dann scheidet eine Überstellung aus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 9).
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Der Non-Refoulement-Grundsatz ist nicht nur in Art. 33 Abs. 1 GFK, Art. 19 GR-Charta (vgl. EGMR, Urteil vom 23.02.2012, H. J. u.a. gg. Italien - 27765.09 -, NVwZ 2012, 809, Rn. 135) und Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU – Qualifikationsrichtlinie) verankert. Er folgt auch aus dem Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Art. 4 GR-Charta. Diese Bestimmung, der gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GR-Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 EMRK zukommt, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Ausweisung, Auslieferung oder jeder anderen Maßnahme der Entfernung eines Ausländers durch einen Staat, in dem die EMRK gilt, zu beachten. Sie verbietet die Abschiebung einer Person, soweit sie tatsächlich Gefahr läuft, in dem Aufnahmeland einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu werden (EGMR, Urteil vom 23.02.2012, H. J. u.a. gg. Italien - 27765.09 -, NVwZ 2012, 809, Rn. 114 f.). Die Abschiebung in einen Drittstaat ist nur zulässig, wenn sich der abschiebende Staat vergewissert hat, dass der Drittstaat weder direkt noch indirekt eine willkürliche Abschiebung in das Herkunftsland vornimmt, obwohl der Abzuschiebende vertretbar behaupten kann, dass die Abschiebung in das Herkunftsland Art. 3 EMRK verletzen würde (EGMR, Urteil vom 23.02.2012, H. J. u.a. gg. Italien - 27765.09 -, NVwZ 2012, 809, Rn. 146 f.; Urteil vom 21.01.2011, M. S. S. gg. Belgien und Griechenland - 30696.09 -, juris, Rn. 298). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union stützt sich das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der GFK und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er der Verfolgung ausgesetzt ist (EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 u. a. -, juris, Rn. 75). Als „sicherer Drittstaat“ darf daher gemäß Art. 39 Abs. 2 lit. a) und c) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (RL 2013/32/EU - Verfahrensrichtlinie) nur der Drittstaat bezeichnet werden, der die GFK und die EMRK nicht nur ratifiziert hat, sondern ihre Bestimmungen auch tatsächlich einhält (EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 u. a. -, juris, Rn. 102 zur gleichlautenden Vorgängerregelung). Zudem muss es im Drittstaat ein gesetzlich festgelegtes Asylverfahren geben, Art. 39 Abs. 2 lit. b) RL 2013/32/EU (vgl. zum Vorstehenden: VG Berlin, Urteil vom 25.04.2016 - 23 K 26.16 A. -, juris, Rn. 18; zur Beachtlichkeit einer Verletzung des Non-Refoulement-Grundsatzes im Rahmen des Dublin-Regimes auch VG Aachen, Beschluss vom 22.02.2022 - 5 L 46/22.A -, juris, Rn. 53).
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Nach diesen Grundsätzen und der derzeit vorhandenen Erkenntnislage ist es geboten, wegen eines drohenden Verstoßes gegen den Non-Refoulement-Grundsatz von einer Überstellung nach Kroatien abzusehen.
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Nach Lage der Akten ist ernsthaft zu befürchten, dass der Antragsteller von Kroatien aus ohne Durchführung eines Asylverfahrens nach Bosnien-Herzegowina und von dort aus weiter nach Serbien abgeschoben wird. Dies ist umso bedenklicher, als Zweifel daran bestehen, dass Serbien die aus der GFK folgenden Verpflichtungen einhält (vgl. hierzu nur VG Berlin, Urteil vom 25.04.2016 - 23 K 26/16 -, juris, Rn. 19 m.w.N.).
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Die Kammer schließt sich nunmehr der Beurteilung des Verwaltungsgerichts Braunschweig an, das in seinem Urteil vom 24.05.2022 – 2 A 26/22 – (juris, Rn. 34) unter Auswertung aktueller Erkenntnismittel festgestellt hat, dass es in Kroatien nicht nur an der EU-Außengrenze seit Langem und in erheblichem Umfang zu gewaltsamen „Push-backs“, dem Abdrängen von Asylbewerbern nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina, kommt. Vielmehr sind auch Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina von Österreich, Italien oder Slowenien hinreichend belegt. Folglich ist nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens von Deutschland an Kroatien rücküberstellte Asylsuchende nicht ebenfalls Opfer von Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien werden könnten und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt würde (vgl. zuvor bereits VG Saarland, Beschluss vom 29.10.2020 - 5 L 762/20 -, juris, Rn. 53, das unter Abrücken von seiner vormaligen Rechtsprechung die Überstellung nach Kroatien nur bei Vorliegen einer Zusicherung für zulässig erachtet, in der die Achtung des Non-Refoulement-Grundsatzes versichert wird).
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Zu dieser Schlussfolgerung ist das Verwaltungsgericht Braunschweig aufgrund folgender Feststellungen gelangt (a.a.O., Rn. 36 ff.):
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„Eine Delegation des Europäischen Komitees des Europarats zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe erfuhr bei seinen Ermittlungen in Kroatien im Sommer 2020 von zahlreichen Fällen körperlicher Misshandlungen ausländischer Staatsangehöriger durch kroatische Polizeibeamte. Der Bericht konnte erst mit einem Jahr Verspätung veröffentlicht werden, weil die kroatische Regierung und das Innenministerium lange versucht hatten, seine Veröffentlichung zu verhindern (04.12.2021, Inicijativa Dobrodošli!/ Welcome! Initiative, https://welcome.cms.hr/index.php/2021/12/04/objavljeno-izvjesce-odbora-vijeca-europe-za-sprjecavanje-mucenja-o-situaciji-u-hrvatskoj-koje-je-godinu-dana-stopirala-hrvatska-vlada-i-mup/#). Die Delegation berichtet darin von gewaltsamen Übergriffen, die die Beamten in Form von Ohrfeigen, Tritten, Schlägen mit Knüppeln und anderen harten Gegenständen (z.B. Läufen von automatischen Waffen, Holzstöcken oder Ästen) auf verschiedene Körperteile der Geflüchteten ausübten. Die von den befragten Migranten beschriebenen Misshandlungen erfolgten dabei sowohl zum Zeitpunkt des „Abfangens“ und der faktischen Festnahme auf kroatischem Hoheitsgebiet, d. h. mehrere, bis zu 50 km oder mehr von der Grenze entfernt, wie auch zum Zeitpunkt der „Umleitung“, d. h. des Zurückdrängens über die Grenze zu Bosnien-Herzegowina. In einer beträchtlichen Anzahl von Fällen wiesen die befragten Personen körperliche Verletzungen auf, die mit ihren Behauptungen, von kroatischen Polizeibeamten misshandelt worden zu sein, übereinstimmten. Schutzbedürftigen Personen wie Familien mit Kindern und Frauen habe die Polizei keine medizinische Nothilfe geleistet, sondern sie gewaltsam zur Grenze zurück transportiert. Zudem berichteten Migranten, sie seien auch anderen Formen schwerer und demütigender Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Polizeibeamte hätten aus nächster Nähe Kugeln in ihre Richtung gefeuert, während sie am Boden lagen, oder hätten sie mit gefesselten Händen in den Fluss Korana geworfen. Schließlich seien sie ohne Schuhe und nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet, in einigen Fällen sogar völlig nackt, nach Bosnien-Herzegowina zurückgeschoben worden. Der Bericht erwähnte zudem, von Slowenien rückübernommene Migranten seien ebenfalls von diesen Maßnahmen betroffen (Europarat, CPT Report to the Croatian Government on the visit to Croatia from 10 to 14 August 2020, 03.12.2021, S. 9-10, 14-15).
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Das Border Violence Monitoring Network berichtete im September 2020 ebenfalls von „Überstellungsketten“ von Italien über Slowenien und Kroatien bis nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina (Border Violence Monitoring Network, Illegal push-backs and border violence reports Balkan region, September 2020, S. 15). Österreichische Medien informierten über die Beteiligung österreichischer Behörden an Kettenabschiebungen über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina (Der Standard, https://www.derstandard.at/story/2000121752241/berichte-ueber-illegale-pushbacks-von-migranten-an-oesterreichischer-grenze, 16.11.2020). Auch die Asylum Information Database veröffentlichte Berichte der Initiative Are You Syrious (AYS), denen zufolge es sich bei fast 30 % der gewaltsamen „Push-backs“ im Jahr 2020 um Kettenabschiebungen von Italien oder Österreich über Slowenien und dann von Kroatien aus nach Bosnien-Herzegowina gehandelt habe. Dabei hätten 58 % der Betroffenen angegeben, dass sie erfolglos versucht hätten, in Kroatien Asyl zu beantragen, woraufhin man ihnen gesagt habe, dass es in Kroatien kein Asyl gebe (aida, Country Report: Croatia, 2020 update, S. 23). Dementsprechend äußerte sich auch der Menschenrechtskommissar des Europarates bereits in seiner Stellungnahme vom 22.12.2020 gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte besorgt darüber, dass auch für diejenigen Migranten, die aus anderen EU-Staaten nach Kroatien zurückgeführt würden, erhebliche Hindernisse für den Zugang zu einem fairen Asylverfahren bestünden (Council of Europe Commissioner for Human Rights, Third party intervention, EGMR No. 18810/19 u. a., 22.12.2020, Rn. 16).
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Zwangsrückführungen ohne ordnungsgemäße Prüfung des Asylantrages stellen dabei keine Einzelfälle oder Exzesse bestimmter Polizeibeamter dar, sondern entsprechen politischen Entscheidungen und spezifischen Anweisungen der übergeordneten Behörden an die Einheiten der kroatischen Grenzpolizei.
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Schon im März 2019 beschrieben Polizisten des Grenzschutzes in einem anonymen Beschwerdebrief an die kroatische Ombudsfrau die Anordnungen an die Einsatzkräfte: „Es gibt kein Asyl, nur in Ausnahmesituationen, wenn Medien vor Ort sind. Die Befehle des Chefs, der Exekutive und der Verwaltung lauten, alle [Flüchtlinge] ohne Papiere zurückzuschicken, keine Spuren zu hinterlassen, Geld zu nehmen, Handys zu zerbrechen, sie in [einen Fluss] zu werfen, oder für sich selbst zu nehmen, und Flüchtlinge gewaltsam nach Bosnien zurückzuschicken. [...] Wenn sie von den anderen Polizeistationen hierhergefahren werden, sind die Leute erschöpft, manchmal werden sie verprügelt, und dann sind wir es, die sie in der Nacht fahren und mit Gewalt nach Bosnien zurückschieben.“ (Border Violence Monitoring Network, https://www.borderviolence.eu/complaint-by-croatian-police-officers-who-are-being-urged-to-act-unlawfully/, 17.07.2019). Die ehemalige Staatspräsidentin Kroatiens Kolinda Grabar-Kitarović antwortete im Juli 2019 auf die Frage nach gewaltsamem Vorgehen gegen Migranten an der bosnisch-kroatischen Grenze: „Natürlich ist ein wenig Gewalt nötig, wenn wir Push-backs durchführen.“ (The Guardian, https://www.theguardian.com/world/2019/jul/16/croatian-police-use-violence-to-push-back-migrants-says-president, 16.07.2019).
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Nachdem die ARD im Oktober 2021 gemeinsam mit weiteren Recherchepartnern ein heimlich aufgenommenes Video veröffentlichte, welches zeigt, wie maskierte, kroatische Interventionspolizisten auf Asylsuchende einschlagen, wurde im Februar 2022 eine E-Mail vom 15.10.2021 publik, in der latko Čačić, der stellvertretende Leiter der Grenzwache in Bajakovo, einer kroatischen Stadt an der Grenze zu Serbien, seine Kollegen anwies, wenn eine Gruppe Migranten außer Landes geschafft werde, sollten die Beamten sie künftig an mehreren verschiedenen Orten abschieben. Vorher sei die Umgebung „gründlich zu inspizieren“, um sicherzustellen, dass niemand filme. Falls Kollegen Migranten „unnötig“ schikanieren und körperlich misshandeln würden, heißt es in der E-Mail weiter, sollten die betreffenden Beamten ermahnt und ihre Vorgesetzten informiert werden (Srdjan Govedarica, Tagesschau, Eine E-Mail als Anleitung zu Pushbacks?, 11.02.2022, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/kroatien-pushbacks-103.html).
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Auch in jüngster Vergangenheit setzt sich die rechtswidrige Praxis der „Push-backs“ in Kroatien fort.
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Das European Council on Refugees and Exiles registrierte die Durchführung von mehr als 30.000 „Push-backs“ aus Kroatien nach Bosnien-Herzegowina zwischen Juni 2019 und September 2021, bei denen Zeugen von exzessiver Gewaltanwendung und einem Muster von „invasiver Durchsuchung“ und sexueller Gewalt durch die Polizei berichteten. In etwa 45 % der aus Kroatien gemeldeten Fälle seien die Betroffenen gezwungen worden, sich zu entkleiden, oft gefolgt vom Betasten der Genitalien durch Polizeibeamte, dem Verbrennen der Kleidung oder dem Stoßen der halbnackten Personen in Flüsse. Allein etwa 7.200 Zurückschiebungen sollen zwischen Januar und September 2021 stattgefunden haben, dabei soll es in 25 % der Fälle zu exzessiven Gewaltanwendungen gekommen sein (ECRE, Balkan Route: Tens of Thousands Pushed Back from Croatia, 22.10.2021, https://ecre.org/balkan-route-tens-of-thousands-pushed-back-from-croatia-evidence-of-pushbacks-and-border-violence-in-romania-presented-to-un-rights-body-stonewalling-of-asylum-seekers-in-serbia-a). Das Danish Refugee Council registrierte 4.905 Push-backs an der kroatisch-bosnischen Grenze zwischen Juli und November 2021. In 18 % aller Fälle seien Familien mit Kindern betroffen gewesen. Die Mehrheit der befragten afghanischen Migranten beklagte den Diebstahl oder die Zerstörung ihres Eigentums sowie missbräuchliche oder erniedrigende Behandlung durch die Polizeibeamten. Darüber hinaus berichtet die Organisation auch von Fällen, in denen illegale Migranten noch nach mehrtägigem Aufenthalt in Kroatien aufgegriffen und zurück an die Grenze verbracht wurden. Auch in diesem Bericht wurden Fälle von Kettenabschiebungen aus Slowenien über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina dokumentiert (DRC, Human dignity lost at the EU’s borders, Dezember 2021, S. 5, 12). Die aktuellsten Betroffenenberichte des Border Violence Monitoring Network über brutale Zwangsrückführungen der kroatischen Polizei stammen vom 15.05.2022 (https://www.borderviolence.eu/violence-reports/).
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Wesentliche Verbesserungen sind auch nicht feststellbar durch die Implementierung des kroatischen Grenzüberwachungsmechanismus im August 2021. Diesen „Unabhängigen Mechanismus zur Überwachung des Verhaltens von Polizeibeamten des Innenministeriums im Bereich der illegalen Migration und des internationalen Schutzes“ setzte die kroatische Regierung erst nach jahrelanger Weigerung ein, obwohl der Mechanismus eine Bedingung für die bereits seit 2018 zur Grenzsicherung an Kroatien gezahlten 6,8 Mio. Euro an EU-Geldern war (Europäische Kommission, 20.12.2018, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_18_6884; European Council on Refugees and Exiles (ECRE), Balkan Route: Years of Pushbacks Condemned, Ombudsman Slams Commission Failure on Croatian Funding, 11.03.2022). Der Mechanismus wird von der EU-Kommission im Rahmen der EMAS 2021-Finanzhilfe unterstützt.
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Die Arbeitsversion des ersten Berichts des Grenzüberwachungsmechanismus bestätigte die Durchführung illegaler „Push-backs“ durch Polizeibeamte und kritisierte sie als Verletzung des Rechts auf Asylantragstellung sowie des Non-Refoulement-Prinzips (1st half-year report of the independent mechanism for monitoring the conduct of police officers of the ministry of the interior in the field of irregular migration and international protection June-December 2021, https://www.cms.hr/system/article_document/doc/763/Working_version_of_the_1st_IBMM_report.pdf, S. 13-14). In der finalen Version des Berichts ist hingegen nur noch von unerlaubten Abschreckungsmaßnahmen „in minenverdächtigen Gebieten in Einzelfällen“ die Rede, während alle übrigen Maßnahmen regelmäßig zulässig und insbesondere mit dem Schengener Grenzkodex vereinbar seien. Der Mechanismus beschränkt sich sodann im Wesentlichen darauf, den zuständigen Behörden zu empfehlen, eine interne Anweisung an Polizeibeamte zu erlassen, künftig nur noch schriftlichen Weisungen Folge zu leisten, und eine Sammlung von „good practices“ sowie ein Handbuchs zu erstellen (First semi-annual report of the independent oversight mechanism monitoring the actions of police officers of the ministry of the interior in the field of irregular migration and international protection June-December 2021, https://www.cms.hr/system/article_document/doc/764/Final_version_of_the_1st_IBMM_report.pdf, S. 15-16, 20-21).
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Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, u. a. Human Rights Watch und Amnesty International, zogen in einer gemeinsamen Erklärung in Zweifel, dass der Grenzüberwachungsmechanismus den Standards entspreche, die für seine Wirksamkeit und seinen Erfolg erforderlich seien (DRC, Human dignity lost at the EU’s borders, Dezember 2021, S. 17; Croatia/EU: Strengthen Border Monitoring System, 02.08.2021, https://www.hrw.org/news/2021/08/02/croatia/eu-strengthen-border-monitoring-system). Eine aktuelle Untersuchung der Europäischen Bürgerbeauftragten deckte erhebliche Mängel auf in der Art und Weise, wie die Europäische Kommission die Einhaltung der Grundrechte durch die kroatischen Behörden bei mit EU-Geldern unterstützten Grenzschutzmaßnahmen überwacht (Delay in setting up monitoring mechanism for Croatian border management regrettable, says Ombudsman, 24.02.2022, https://www.ombudsman.europa.eu/en/news-document/en/152823). Sie kritisierte, die Kommission müsse eine aktive Rolle im Zusammenhang mit dem Überwachungsmechanismus übernehmen und von den kroatischen Behörden konkrete und überprüfbare Informationen über Schritte zur Untersuchung von Berichten über kollektive Ausweisungen und Misshandlungen von Migranten und Asylbewerbern verlangen (How the European Commission ensures that the Croatian authorities respect fundamental rights in the context of border management operations financed by EU funds, 22.02.2022, https://www.ombudsman.europa.eu/en/case/en/57811).
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Die in Kroatien praktizierten „Push-backs“, Abschiebungen, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren zu erhalten, verstoßen gegen das Non-Refoulement-Prinzip. [...]
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Dementsprechend entschieden in den vergangenen Jahren bereits mehrere europäische Gerichte über „Push-backs“ an der kroatischen EU-Außengrenze sowie Kettenabschiebungen aus verschiedenen europäischen Ländern über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien.
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte am 18.11.2021 (M. H. and others v. Croatia, Az. 15670/18 und 43115/18) über den Tod der sechsjährigen Afghanin Madina Hussiny, die nahe der kroatisch-serbischen Grenze von einem Zug erfasst worden war. Der Gerichtshof stellte fest, die kroatischen Behörden hätten es versäumt, eine wirksame Untersuchung der Umstände durchzuführen, die zum Tod des Mädchens geführt hätten, insbesondere des Vorwurfs ihrer Familienmitglieder, sie hätten zuvor die Grenze überquert, seien von kroatischen Polizisten aufgegriffen, zurücktransportiert und aufgefordert worden, über die Bahngleise nach Serbien zurückzulaufen, wo es sodann zu dem tödlichen Unfall gekommen sei. Darin liege eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Ausprägung des Art. 2 EMRK (Recht auf Leben). Der EGMR verurteilte den kroatischen Staat dazu, den Angehörigen des Kindes eine Entschädigung zu zahlen.
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Mit Urteil vom 01.07.2021 erklärte das Landesverwaltungsgericht Steiermark „Push-backs“ an der österreichischen Grenze, die in Kettenabschiebungen über Slowenien und Kroatien nach Bosnien-Herzegowina mündeten, für rechtswidrig (Az. LVwG 20.3-2725/2020). Entsprechend entschied bereits das ordentliche Gericht Roms am 18.01.2021 über „informelle Rückübernahmen“ von Italien nach Slowenien, die zu Kettenabschiebungen über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina führten (Az. 56420/2020, https://www.questionegiustizia.it/data/doc/2794/2021-700-senza-dati-sensibili.pdf). Am 17.07.2020 verurteilte auch der slowenische Verwaltungsgerichtshof Kettenabschiebungen von Slowenien über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina als Verstoß gegen das Non-Refoulement-Gebot (Border Violence Monitoring Network, https://www.borderviolence.eu/wp-content/uploads/Press-Release_Slovenian-Court-Ruling.pdf, 20.07.2020).
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Darüber hinaus kam es auch bereits zu Gerichtsentscheidungen, in denen Dublin-Überstellungen nach Kroatien ausgesetzt wurden.
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Das Bundesverwaltungsgericht der Schweiz verwies mit Urteil vom 12.07.2019 ein Verfahren über die Dublin-Überstellung eines Asylbewerbers nach Kroatien an die Vorinstanz zurück mit der Begründung, aufgrund des Vorbringens des Beschwerdeführers über Misshandlungen durch die kroatischen Polizeibehörden und der Ländersituation in Kroatien sei umfassend zu prüfen, ob die Überstellung nach Kroatien in einer Kettenabschiebung resultieren könnte (Az. E-3078/2019, https://jurispub.admin.ch/publiws/download?decisionId=a7c0bc27-5103-4ac6-9a45-9dd1b0f272fa, bestätigt in Urteilen vom 12.02.2021, Az. D-43/2021, und vom 08.01.2021, Az. F-48/2021) Ähnlich urteilte die 9. Zivilkammer des Gerichts von Genua (Italien) mit Beschluss vom 19.03.2019 (N. 13280/2018, https://www.meltingpot.org/app/uploads/2019/05/annullamento_decreto_dublino.pdf). Mit Urteil vom 06.01.2022 (Az. F-5675/2021) bestätigte das schweizerische Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung erneut, und verwies die Entscheidung über die Rückführung eines afghanischen Asylbewerbers zurück an das Staatssekretariat für Migration. Das Gericht führte aus, die Behörde habe es versäumt, aktuelle Beobachterberichte zu beachten, in denen ernsthafte Probleme für Asylsuchende in Kroatien beim Zugang zum Asylverfahren angeprangert würden. Das Verwaltungsgericht der Niederlande urteilte am 13.04.2022 (Az. 202104072/1/V3), es beständen ernstzunehmende Hinweise darauf, dass „Push-Backs“ auch bei Ausländern stattfänden, die aus anderen EU-Mitgliedstaaten nach Kroatien rücküberstellt würden – unabhängig davon, ob ihr Asylantrag zuvor zurückgenommen worden sei oder nicht – und bei Ausländern, die sich im kroatischen Hoheitsgebiet in größerer Entfernung von der Grenze befänden. In Anbetracht dessen und weil sich Dublin-überstellte Antragsteller in der Regel als Asylbewerber frei im Hoheitsgebiet Kroatiens bewegen könnten, müsse das Risiko, dass Dublin-überstellte Antragsteller von Kroatien ohne Bearbeitung oder während der Bearbeitung ihres Asylantrags abgeschoben würden, näher untersucht werden. In Anbetracht der Art, des Umfangs und der Dauer des grundlegenden Systemfehlers im kroatischen Asylsystem, der eine besonders hohe Schwelle der Schwere erreiche, könne das Fehlen von Informationen über die Situation der Dublin-Kläger nach ihrer Überstellung nach Kroatien nicht zu Lasten des ausländischen Staatsangehörigen gehen (https://uitspraken.rechtspraak.nl/inziendocument?id=ECLI:NL:RVS:2022:1042).
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[...]
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[Z]u den zahllosen dokumentierten gewaltsamen und entwürdigenden Übergriffen und der Verweigerung des Rechts auf Asylantragstellung kam es nicht nur unmittelbar nach illegalen Grenzübertritten von Serbien oder Bosnien-Herzegowina aus, sondern auch in Fällen, in denen sich die Migranten bereits mehrere Tage im Landesinneren aufhielten, sogar dann, wenn sie bereits weit in andere EU-Länder wie Slowenien, Italien oder Österreich vorgedrungen waren und von dort aus zurückgeschoben wurden. Zwar liegen keine spezifischen Erkenntnismittel zum Verbleib von Dublin-Rückkehrern aus Deutschland vor, doch ist davon auszugehen, dass diese insbesondere angesichts der niedrigen Zahlen von den im Grenzgebiet tätigen Nichtregierungsorganisationen nicht separat erfasst werden. So wurde im ersten Halbjahr 2021 noch kein einziger Asylbewerber im Rahmen der Dublin-III-Verordnung an Kroatien rücküberstellt (BT-Drs. 19/32290, S. 10). Im Jahr 2020 kam es zu 16.425 „Push-backs“ durch die kroatischen Behörden (Danish Refugee Council, Bosnia and Herzegowina Border Monitoring Monthly Snapshot, Dezember 2020, S. 7) bei lediglich 28 Dublin-Rücküberstellungen aus Deutschland im selben Zeitraum (BT-Drs. 19/27007, S. 10). Ferner gibt es aktuelle Berichte darüber, dass Journalisten, die kritisch über „Push-backs“ an der kroatischen Grenze berichten, diskriminiert und eingeschüchtert werden (Gordan Duhaček, MDR, Zensur im Urlaubsparadies, 04.05.2022, https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/kroatien-urlaub-ferien-pressefreiheit-100.html).
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Fraglich ist die Aufnahmebereitschaft Kroatiens auch deshalb, weil landesweit nur zwei Aufnahmeeinrichtungen (Hotel Porin und Kutina) mit insgesamt 700 Aufnahmeplätzen zur Verfügung stehen (Asylum Information Database, Types of Accomodation Croatia, 27.05.2021), von denen noch im Dezember 2020 lediglich 328 Plätze belegt waren (UNHCR, Croatia 2020 Annual Statistical Snapshot, 05.02.2021). Aus den genannten Erkenntnismitteln wird zudem ersichtlich, dass es sich bei den gewaltsamen Rückschiebungen nicht um eigenmächtige Übergriffe einzelner Polizeibeamter handelt, sondern dass das Abdrängen der Migranten nach Bosnien-Herzegowina entweder tatsächlich einer internen Weisungslage entspricht oder jedenfalls von den vorgesetzten Stellen nicht effektiv verhindert bzw. sanktioniert wird.
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Während durch die vorliegenden Erkenntnismittel hinreichend belegt ist, dass Kroatien in systematischer Art und Weise menschenrechtswidrig gegen Migranten vorgeht, bestehen zugleich keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass Dublin-Rückkehrern aus Deutschland gegenüber anderen Asylbewerbern eine Vorzugsbehandlung zuteilwird. Dementsprechend bietet den Klägern auch die Rückführung nach Kroatien auf dem „regulären Weg“ keine Sicherheit, nicht zum Gegenstand von „Push-backs“ gemacht und nach Bosnien-Herzegowina rückgeführt zu werden, ohne dass sie vorher angehört würden oder dass ihnen ein wirksamer Rechtsschutz gegen die Entscheidung zur Verfügung stünde. [...]
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Die ausgeführten Bedenken konnte die Beklagte auch nicht ausräumen durch den Verweis auf das Schreiben der kroatischen Behörden vom 11.04.2022. Dieses erfüllt schon nicht die Kriterien einer individuellen Garantieerklärung zugunsten der Kläger, da es ausschließlich allgemeine Ausführungen enthält und insbesondere weder darauf eingeht, dass es sich bei den Klägern um Dublin-Rückkehrer handelt, noch darauf, dass die Klägerin zu 1) angibt, bereits einmal Opfer von Polizeigewalt in Kroatien geworden zu sein, und dass der Kläger zu 2) höchst vulnerabel ist und eine besonders geschützte Unterbringung und medizinische Versorgung benötigt. Stattdessen bestreiten die kroatischen Behörden vollumfänglich die Durchführung von „Push-backs“ und verweisen auf das gesetzlich verankerte Non-Refoulement-Prinzip. Angesichts der zahlreichen und übereinstimmenden Berichte sowohl von Nichtregierungsorganisationen als auch von der Delegation des Europäischen Komitees des Europarats kann jedoch keinesfalls angenommen werden, dass es sich bei den Schilderungen von „Push-backs“ über die kroatisch-bosnische Grenze lediglich um fälschliche Schutzbehauptungen von Asylsuchenden handelt. Da die kroatischen Behörden nicht einmal bereit sind, vergangene Versäumnisse bei der Gewährung internationalen Schutzes einzuräumen, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie entsprechende Versäumnisse für die Zukunft effektiv verhindern. [...]“
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Die Kammer ist bisher im Hinblick auf die für die EU-Außengrenze schon länger im Raum stehende Praxis illegaler „Push-backs“ davon ausgegangen, dass im Rahmen des Dublin-Systems nach Kroatien Zurückkehrende von dieser nicht betroffen sein können. Nach eigener Prüfung der vom Verwaltungsgericht Braunschweig und von den anderen europäischen Gerichten ausgewerteten jüngeren Erkenntnisquellen vermag die Kammer hieran nicht mehr festzuhalten. Sie geht nun vielmehr davon aus, dass auch dieser Personenkreis mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr eines „Push-backs“ ausgesetzt ist.
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Dass es sich hierbei nicht um eine rein theoretische Gefahr handelt, sondern es tatsächlich zu Kettenabschiebungen aus dem Gebiet der Mitgliedstaaten hinaus gekommen ist, wird durch Entscheidungen des Landesverwaltungsgerichts Steiermark (Erkenntnis vom 01.07.2021 - LVwG 20.3-2725/202) und des slowenischen Verwaltungsgerichts (vgl. Council of Europe Commissioner for Human Rights, Third party intervention, EGMR No. 18810/19 u. a., 22.12.2020, Rn. 16 mit Fn. 13) belegt, die feststellen mussten, dass die von den slowenischen Behörden nach Kroatien überstellten Betroffenen von dort weiter bis nach Bosnien-Herzegowina abgeschoben worden sind.
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Der angefochtene Bescheid setzt sich mit der Problematik von „Push-Backs“ und den vorstehend angeführten Erkenntnismitteln und Entscheidungen nicht auseinander, obwohl hierzu spätestens nach den Entscheidungen des Schweizer Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2019 Anlass bestanden hätte. Vielmehr verwertet er vornehmlich Erkenntnismittel aus den Jahren 2014 bis 2016, die sich überdies primär zu den Lebensumständen von Asylbewerbern und den Regelungen des Asylverfahrens verhalten. Das Hauptsacheverfahren wird der Beklagten Gelegenheit zu weiterem Vortrag geben.
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Kommt eine Überstellung nach Kroatien nach dem Vorstehenden nicht in Betracht und lässt sich die Zuständigkeit eines weiteren Mitgliedstaats – wie hier – nicht feststellen, ist gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat auch zur Prüfung des Antrags in der Sache berufen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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