Urteil vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 5a K 3855/17.A
Tenor
I. Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
Die Beklagte wird verpflichtet, unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13.01.2017 (Az. 6454026-423) dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen der Kläger zu ¼ und die Beklagte zu ¾.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
T a t b e s t a n d :
2Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehörige, dem Volk der Paschtunen zugehörig und sunnitischen Glaubens. Er reiste am 00.00.0000 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte am 14.04.2016 einen Asylantrag.
3Bei seiner Anhörung gemäß § 25 AsylG beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 25.01.2017 trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er in Afghanistan in einem Unternehmen mit dem Namen J. gearbeitet habe. Dies sei ein Projekt der Vereinigten Staaten von Amerika gewesen. Der Kläger habe deshalb einen Drohanruf erhalten. Der Kläger solle mit seiner Arbeit aufhören. Der Kläger habe zunächst gedacht, es habe sich dabei um einen Scherz gehandelt. Nach einigen Tagen habe er aber zudem einen Drohbrief erhalten. Der Kläger habe daraufhin Angst bekommen. Nach ca. sechs Wochen habe er einen zweiten Drohbrief erhalten. Seine Tätigkeit habe er jedoch noch bis zum Projektende ausgeübt. Er habe sich während der letzten Zeit versteckt. Der Kläger sei davon ausgegangen, dass er nach Projektende auch keine Bedrohungen mehr zu erwarten habe. Als er eines Tages einkaufen gewesen sei, habe eine Person seinen Namen gerufen. Er habe sich umgedreht. Die Person habe eine Waffe gezogen und auf ihn geschossen. Der Kläger habe auf seinem Motorrad gesessen und sei schnell weggefahren. Er sei sofort zum Militärposten gefahren und mit den Sicherheitsleuten zurückgekehrt. Sie hätten einen Ladenbesitzer nach den Angreifern gefragt. Diese seien jedoch nach dem Angriff auf einem Motorrad weggefahren. Der Kläger sei dann nach Hause gefahren und habe seinem Vater von dem Vorfall erzählt. Sein Vater habe daraufhin einen Bekannten in Pakistan angerufen, der Kontakt zu den Taliban gehabt habe und ihm das Problem geschildert. Diese Person habe dann später mitgeteilt, dass die Taliban erklärt hätten, dass der Kläger trotz des Drohanrufes und zweier Drohbriefe seine Tätigkeit fortgesetzt habe. Die einzige Möglichkeit für ihn, Schlimmeres abzuwenden, bestehe darin, mit den Taliban zusammenzuarbeiten. Dies wäre für den Kläger jedoch nicht in Frage gekommen. Der Vater des Klägers habe dann einen Schleuser organsiert. Der Kläger sei dann in den Iran geflohen, von dort jedoch insgesamt zweimal nach Afghanistan abgeschoben worden. Danach sei ihm schließlich die Flucht nach Europa geglückt. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, dass er mit den Taliban kooperieren müsse. Tue er dies nicht, würde man ihn umbringen.
4Mit Bescheid vom 09.03.2017 lehnte das BAMF den Antrag auf Asylanerkennung des Klägers ab (Ziffer 2.), erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 1., 3.) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4.). Der Kläger wurde zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. bei Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens aufgefordert. Ihm wurde bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
5Zur Begründung führte es aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Der Kläger habe keine Sachlagen und Erklärungen vorbringen können, die eine an ein Anknüpfungsmerkmal anknüpfende Verfolgung darstellen würden. Die dargelegte Angst vor einer Verfolgung vor den Taliban erscheine unglaubhaft. Es sei nicht belegt, dass die erhaltenen Briefe tatsächlich von den Taliban stammen würden. Zudem würden entsprechende Briefe gegen Entgelt veräußert. Auch im Übrigen erscheine der Vortrag des Klägers nicht nachvollziehbar. Weiterhin hätte für den Kläger eine interne Schutzmöglichkeit in Kabul bestanden. Die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) seien ebenfalls nicht gegeben. Auch lägen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vor. Der Kläger könne jedenfalls als volljähriger, gesunder Mann auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul aber auch in seiner Heimatprovinz zumindest ein kleines Einkommen erzielen, das ihm zumindest die Sicherung des Existenzminimums gewährleisten könnte.
6Der Bescheid wurde dem Kläger am 15.03.2017 zugestellt.
7Mit Schriftsatz vom 28.03.2017, eingegangen bei Gericht am selben Tage, hat der Bevollmächtigte des Klägers Klage bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erhoben und beantragt,
8den Bescheid der Beklagten vom 09.03.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten nach § 3 AsylG anzuerkennen, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ihm subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren und festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 bis 7 AufenthG vorliegen und hilfsweise dazu das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf den Tag der Abschiebung zu befristen.
9Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 16.04.2017 hat der Kläger die Klage (weiter) begründet. Insbesondere stehe für den von den Taliban verfolgten Kläger keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Dies gelte auch für Kabul. Die Taliban seien in ganz Afghanistan präsent.
10Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen und bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
11Durch Beschluss vom 27.04.2017 wurde dem Prozesskostenhilfeantrag des Klägers entsprochen und der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
12Am 13.09.2019 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der der Kläger informatorisch angehört wurde, wird auf die hierüber gefertigte Niederschrift Bezug genommen.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.
14E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
15Der gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zuständige Einzelrichter konnte über die Klage des Kläger entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 13.09.2019 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
16Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
17Im Übrigen ist die Klage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) zulässig und begründet.
181. Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben (§ 74 AsylG, § 3 VwZG).
192. Die Klage ist bezüglich des Antrages auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 09.03.2017 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Insoweit war der Bescheid des BAMF vom 09.03.2017 aufzuheben (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
20Nach § 3 Abs. 1 AsylG genießt ein Ausländer den Schutz als Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (dazu im Einzelnen § 3b AsylG) außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Ausnahmsweise ausgeschlossen ist dieser Flüchtlingsschutz in den Fällen des § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG und des § 60 Abs. 8 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG -.
21Als Verfolgung gelten gemäß § 3a AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art und Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen bzw. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist, § 3a Abs. 1 AsylG. Die grundlegenden Menschenrechte in diesem Sinne sind insbesondere die Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (Folter, Sklaverei und Leibeigenschaft, keine Strafe ohne Gesetz). Als Verfolgung können unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt gelten, aber auch gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, ebenso unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, ebenso die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, ebenso Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die den Flüchtlingsschutz nach § 3 Abs. 2 AsylG ausschließen, sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
22Ausgehen kann die Verfolgung gemäß § 3b AsylG von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
23Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn der Staat oder die Parteien bzw. Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. Interner Schutz schließt dabei die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus, und zwar dann, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung im vorbeschriebenen Sinne hat und der Ausländer sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt, § 3e Abs. 1 AsylG. Ob ein solch interner Schutz besteht, ist unter Heranziehung der Vorgaben des § 3e Abs. 2 AsylG zu prüfen.
24Schließlich muss zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen, § 3a Abs. 3 AsylG.
25Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist bei der Prüfung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Abl. EU Nr. L 337, S. 9-26) - sog. Qualifikationsrichtlinie - RL 2011/95/EG privilegiert dabei den von ihm erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab.
26Vgl. zur Vorgängerregelung in Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG: Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE), Urteile vom 7. September 2010 - 10 C 11.09 -, vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, und vom 1. Juni 2011 - 10 C 10.10 u. 10 C 25.10 -; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 17. August 2010 - 8 A 4063/06.A -; OVG Saarland, Urteil vom 16. September 2011 - 3 A 352/09 -; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 6. Oktober 2011 - 4 LB 5/11 -.
27Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt voraus, dass das Gericht mit der nach § 108 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit einen Sachverhalt feststellen kann, aus dem sich in rechtlicher Hinsicht ergibt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben sind. Der Schutzsuchende muss sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darlegen. Ihm obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen, und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern.
28Vgl. BVerwG, Beschluss vom 24.4.1990-9 C 4.89 -, juris.
29Die Verpflichtung zur Anerkennung eines Asylbewerbers setzt voraus, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des von ihm behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat, wenn es hierauf entscheidend ankommt.
30Vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985, Az. 9 C 109/84.
31Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes eines Asylbewerbers sind allerdings seine Aussagen im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist gerade bei fehlenden Beweisen gesteigerte Bedeutung beizumessen,
32vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985, a. a. O.
33Eine richterliche Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylbewerber geschilderten Sachverhalts verlangt aber regelmäßig einen substantiierten, im Wesentlichen widerspruchsfreien und anschaulichen Tatsachenvortrag. Ein im Wesentlichen unzutreffendes oder in nicht auflösbarer Weise widersprüchliches Vorbringen eines Asylbewerbers bleibt unbeachtlich, die Unglaubwürdigkeit des Asylvorbringens kann allein bereits zur Unbegründetheit der Asylklage führen.
34Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 29.11.1990, Az. 2 BvR 1095/90.
35Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag bedarf es einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten, um einem solchen Asylbewerber glauben zu können.
36Vgl. BVerwG, Urt. v. 12.11.1985, 9 C 27/85.
37Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das Gericht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Ist es danach von der Wahrheit des vorgebrachten Schicksals überzeugt – wenn es hierauf ankommt –, dann ist bei insoweit ablehnendem Bescheid auf Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG zu erkennen, im anderen Falle ist die Klage abzuweisen. Die bloße Wahrscheinlichkeit eines vorgetragenen Asylsachverhalts reicht für die Asylanerkennung nicht aus.
38Vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.07.1989, Az. 9 B 239/89.
39Dies gilt entsprechend für die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.
40Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat der Kläger einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
41Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger in Afghanistan für die Firma „J. “ tätig gewesen ist, die in zahlreichen Hilfsprojekten im Einsatz gewesen ist und im Wesentlichen durch die USA finanziert worden ist, dass er sein Herkunftsland aus begründeter Furcht vor einer Verfolgung durch die Taliban verlassen hat und er im Falle einer Rückkehr hiervon weiterhin bedroht wäre.
42Der Kläger hat in überzeugender Weise und widerspruchsfrei das Verfolgungsgeschehen und die weiteren Vorkommnisse geschildert. Die Angaben des Klägers in seiner Anhörung bei dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung zeichnen sich durch eine flüssige Beschreibung des Geschehensablaufs sowie einen ausreichenden Detailreichtum aus. Insbesondere hat der Kläger in beiden Anhörungen den Beginn der gegen ihn gerichteten Bedrohungshandlungen (Drohanruf) konsistent, detailliert und gut nachvollziehbar beschrieben. Weiterhin hat der Kläger in beiden Anhörungen von den dann folgenden beiden Drohbriefen und dem jeweiligen Geschehensablauf mit übereinstimmendem Inhalt ausreichend detailliert berichtet. Der Kläger hat ferner die Umstände seiner beruflichen Tätigkeit dargelegt und nachvollziehbar erklärt, dass die Hilfstätigkeiten der Firma „J. “ durch die Amerikaner unterstützt worden sind und er deshalb von den Taliban aufgefordert worden ist, mit dieser Tätigkeit aufzuhören. Insgesamt hat der Kläger das Geschehen unter Nennung von Einzelheiten und zusammenhängend ohne Übertreibungen dargestellt und verbleibende Unklarheiten im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ohne Zögern nachvollziehbar erläutert.
43Danach ist davon auszugehen, dass der Kläger zu 1. in Afghanistan Mitarbeiter der Fa. „J. “ gewesen ist, deren Hilfs- und Projekttätigkeiten durch die Amerikaner unterstützt worden ist, weshalb der Kläger als „Kollaborateur“ von den Taliban bedroht wurde.
44Das Gericht hält auch den weiteren Verlauf der von dem Kläger geschilderten Ereignisse für glaubhaft. Der Kläger hat in beiden Anhörungen übereinstimmend und ohne Übertreibungen geschildert, dass er nach dem Drohanruf zwei Drohbriefe erhalten habe. Er habe dann versucht, seine Arbeit zu beenden und sei nach Beendigung davon ausgegangen, dass er von den Taliban in Ruhe gelassen würde. Er sei aber tatsächlich danach Opfer eines Mordversuchs geworden und habe erst dann beschlossen, Afghanistan zu verlassen. Zuvor habe sein Vater erfolglos versucht, über einen den Taliban nahestehenden Bekannten eine „Amnestie“ für den Kläger auszuhandeln. Eine Rückkehr nach Afghanistan komme für ihn nicht in Frage, da er nach wie vor durch die Taliban bedroht sei.
45Nach Überzeugung des Gerichts waren danach (bereits) im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers aus Afghanistan sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit wegen seiner Eigenschaft als Zivilist, der mit den internationalen Streitkräften verbunden ist oder diese vermeintlich unterstützt,
46vgl. dazu UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 49,
47bzw. als Mitarbeiter einer humanitären Hilfs- und Entwicklungsorganisation,
48vgl. dazu UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 49 f.,
49und seiner (tatsächlichen oder jedenfalls vermeintlichen) politischen Überzeugung bedroht. Der Kläger hatte als Mitarbeiter in einer durch die Vereinigten Staaten unterstützen Hilfs- und Projektorganisation mitgearbeitet, die sich u. a. dem Wiederaufbau von zerstörten Schulen und Infrastruktureinrichtungen verschrieben hatte. Der Kläger ist aufgrund dieser Tätigkeit ausdrücklich in den Fokus der Taliban geraten, die versucht hatten, ihn durch einen Drohanruf und Drohbriefe von einer weiteren Ausübung abzuhalten.
50Die regierungsfeindlichen Gruppierungen der Taliban sind nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG.
51Vgl. nur VG München, Urteil vom 20. Juni 2017 – M 26 K 17.30772 –, Rn. 24, juris.
52Die Schilderungen der Kläger stimmen auch mit der Auskunftslage überein. Nach den vorliegenden Erkenntnissen des Gerichts sind Zivilisten, die mit den afghanischen nationalen Sicherheitskräften/regierungsnahen Kräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen, in besonderer Weise gefährdet. Gleiches gilt für Zivilisten, die Mitarbeiter internationaler oder afghanischer humanitärer Hilfsorganisationen sind. Darunter fallen afghanische Staatsbürger, die für Organisationen der Vereinten Nationen arbeiten, Mitarbeiter internationaler Entwicklungsorganisationen, nationaler und internationaler Nichtregierungsorganisationen sowie LKW-Fahrer, Bauarbeiter und Personen, die in Bergbau- und anderen Entwicklungsprojekten tätig sind. Personen mit diesen Profilen wurden Berichten zufolge getötet, entführt und eingeschüchtert.
53Siehe zu allem UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, S. 49 f.
54Die Bedrohung durch die Taliban ist auch dem afghanischen Staat zuzurechnen, da dieser Staat nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen selbst in Kabul, wo der afghanische Staat Gebietsgewalt hat, nicht in der Lage ist, seine Bevölkerung vor Angehörigen dieser Organisation zu schützen.
55Eine Schutzfähigkeit des Staates vor Übergriffen Dritter ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers nicht gegeben. Wegen des schwachen Zustands des Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan häufig ohne Sanktionen,
56vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand März 2013, S. 13 f.
57Die nationale Polizei (ANP) wird bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz ihrer Aufgabe trotz erster Fortschritte insgesamt noch nicht gerecht. Insbesondere gibt es vor allem über die ALP kritische Berichte. Ihre Mitglieder werden durch die lokalen Dorfführer bestellt. Sie sollen Gemeinden vor Angriffen schützen, wichtige Strukturen bewachen und Gegenangriffe gegen regierungsfeindliche Milizen führen. Die Mitglieder erhalten ein geringeres Gehalt als Mitglieder der ANA oder der ANP und müssen in vielen Fällen ihre Ausrüstung selbst beschaffen. Der ALP werden häufig Korruption sowie Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen.
58Siehe Auswärtiges Amt, Lagebericht zu Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 7.
59Dementsprechend muss weiterhin davon ausgegangen werden, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die ANP daher insgesamt noch kein Stabilitätsfaktor ist, sondern an vielen Orten sogar ein Unsicherheitsfaktor, in den die Bevölkerung wenig Vertrauen setzt. Schwächen der „Afghan National Police“ sind dabei auch Korruption und Bestechung.
60Vgl. dazu etwa UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, S. 110.
61In dem Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wird ausgeführt, die Tatsache, dass die Polizeikräfte äußerst korrupt seien, zeige sich auch darin, dass verhaftete Personen teilweise selbst dann, wenn Beweise für eine Tat vorlägen, am nächsten Tag wieder freigelassen würden. Diesbezüglich habe sich auch die deutsche Bundeswehr mehr als einmal empört gezeigt über die Freilassung von Verdächtigen, welche sie den afghanischen Behörden übergeben hätten. Weiter sei bekannt, dass afghanische Sicherheitskräfte, welche in abgelegenen Gebieten stationiert seien, den Taliban teilweise Informationen lieferten, um im Gegenzug dazu nicht von diesen angegriffen zu werden,
62vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Schutzfähigkeit der Afghan National Police und Sicherheitssituation in Kabul, 20.10.2011, S. 5.
63Auch sei die Polizei in massive Menschenrechtsverletzungen verwickelt.
64Vgl. dazu UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, S. 27 ff.
65Es muss hier daher davon ausgegangen werden, dass der Kläger keinen wirksamen Schutz von staatlicher Seite, sei es durch die Polizei, sei es durch sonstige Strafverfolgungsbehörden, erlangen könnte.
66Die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kommt dem Kläger zugute, da er vor seiner Ausreise von einem ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG bereits unmittelbar bedroht war. Das Gericht kann im Rahmen der freien Beweiswürdigung keine stichhaltigen Gründe für eine Widerlegung der gesetzlichen Vermutung erkennen. Es liegen gerade nach den obigen Ausführungen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich sonst die Verhältnisse in Afghanistan seit der Ausreise des Klägers im Hinblick auf seine Bedrohungssituation geändert hätten.
67Die dem Kläger aufgrund der dargelegten Vorverfolgung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EG zugutekommende tatsächliche Vermutung für eine erneute Verfolgung im Falle der Rückkehr kann nicht widerlegt werden. Ist der Kläger in dieser Gestalt in das Visier der Taliban geraten, kommt eine Rückkehr nach Afghanistan nicht in Betracht, da auch bei einer Rückkehr des Klägers eine erneute Verfolgung in beachtlicher Weise wahrscheinlich ist. Der Umstand, dass der Kläger schon vor seiner Ausreise in das Visier der Taliban geraten ist, führt dazu, dass der Kläger bei seiner Rückkehr alsbald wiedererkannt werden würde. Das durch seine Flucht entstandene Misstrauen der Taliban dem Kläger gegenüber wird sich durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik weiter verfestigt haben. Das hat zur Folge, dass der Kläger aufgrund der der Taliban eigenen Brutalität bei einer Rückkehr nach Afghanistan akuter Lebensgefahr im ganzen Land ausgesetzt wäre.
68Vgl. zu einer solchen Gefährdung selbst in Kabul auch: E. M. Danesch, Auskunft an den Hess. Verwaltungsgerichtshof vom 3. September 2013 zum Az: 8 A 1197/12.A.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 16. Oktober 2014 – 5a K 1001/14.A –, Rn. 37, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21. September 2018 – 5a K 1531/17.A –, Rn. 71, juris; VG Greifswald, Urteil vom 11. Oktober 2017 – 3 A 1275/16 As HGW –, Rn. 44, juris.
69Schließlich hat der Kläger innerhalb der Islamischen Republik Afghanistan auch keine Fluchtalternative. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und zudem sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
70Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Zunächst kann festgestellt werden, dass dem Kläger eine Rückkehr in sein Heimatgebiet nicht möglich ist. Der Kläger war gerade in seiner Heimatprovinz Kandahar in das Visier der Taliban geraten und wäre damit in seinem Heimatgebiet einer besonderen und unmittelbaren Gefährdung ausgesetzt. Weiterhin kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Auch eine Niederlassung des Klägers in einem der großen Ballungsgebiete wie Kabul kann ihm aufgrund der auch dort beachtlichen Gefahr einer Verfolgung durch die Taliban nicht zugemutet werden.
71Nach allem war dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG zuzuerkennen.
723. Nach dem Vorstehenden war der Klage des Klägers auf Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG unter entsprechender Aufhebung des angefochtenen Bescheides des Bundesamts stattzugeben.
73Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2, 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
74Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
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