Beschluss vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 17 L 88/20
Tenor
1. Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache im Klageverfahren 17 K 275/20 untersagt, die F.-straße in E. entsprechend der Entscheidung des Polizeipräsidenten des Polizeipräsidiums E. vom 21. Januar 2020 durch den Einsatz optisch-technischer Mittel zu überwachen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.500,- festgesetzt.
1
G r ü n d e :
2Der sinngemäß gestellte Antrag,
3dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache im Klageverfahren 17 K 275/20 zu untersagen, die F.-straße in E. entsprechend der Entscheidung des Polizeipräsidenten des Polizeipräsidiums E. vom 21. Januar 2020 durch den Einsatz optisch-technischer Mittel zu überwachen,
4ist zulässig (dazu unter I.) und begründet (dazu unter II.).
5Soweit die Antragsteller mit ihrem wörtlich formulierten Klageantrag in der Hauptsache auch eine mögliche akustische Überwachung durch den Antragsgegner anführen, misst die Kammer dem keine eigenständige Bedeutung zu, weil insoweit davon auszugehen ist, dass die Antragsteller sich mit ihrem Klageantrag und dem daran anknüpfenden Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes insgesamt auf die durch den Antragsgegner beabsichtigte, ihnen in den Einzelheiten unbekannte Überwachung der F.-straße beziehen.
6I.
7Der so zu verstehende Antrag ist zulässig.
8Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – statthaft. Die Antragsteller begehren in der Sache, dass der Antragsgegner es wie von ihm beabsichtigt unterlässt, einen Bereich in der F.-straße in E. mittels optisch-technischer Mittel („Videokameras“) zu überwachen. Damit wenden sie sich gegen ein im Falle der Inbetriebnahme der angedachten Kameras dem Antragsgegner zuzurechnendes hoheitliches Realhandeln. Rechtschutz gegen solche Maßnahmen ist in der Hauptsache durch eine Unterlassungsklage als Unterfall der allgemeinen Leistungsklage zu erreichen und folglich im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
9Vgl. zur Abgrenzung eines Antrags nach § 123 und §§ 80, 80a VwGO: Happ in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 9.
10Der nach der Kompetenznorm des § 15a Abs. 3 des Polizeigesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen - PolG NRW - durch den Polizeipräsidenten als Behördenleiter zu treffenden Anordnung des Einsatzes technisch-optischer Mittel kommt keine Verwaltungsaktqualität zu, sodass vorläufiger Rechtschutz nicht vorrangig nach § 123 Abs. 5, §§ 80, 80a VwGO zu gewähren ist. Die Anordnung stellt insoweit allein ein Verwaltungsinternum dar, der schon mangels Bekanntgabe gegenüber einem hiervon betroffenen Adressaten (vgl. § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG NRW) keine eigenständige Regelungswirkung zukommt.
11Die Antragsteller verfügen für ihren Antrag auf sogenannten vorbeugenden Rechtschutz über das erforderliche Rechtschutzbedürfnis.
12Ein Rechtschutzbedürfnis für vorbeugenden Rechtschutz setzt voraus, dass dem Betroffenen ein Zuwarten auf die ihn belastende Maßnahme nicht zugemutet werden kann, weil ihm insoweit unzumutbare Nachteile drohen würden. Während im Hinblick auf drohende Verwaltungsakte vorbeugender Rechtschutz nur in Betracht kommt, wenn der nach der gesetzlichen Systematik den Regelfall ausmachende nachträgliche Rechtschutz nicht mehr in angemessener Weise erreicht werden kann, ist dieser bei drohendenden Belastungen durch Realakte unter weniger strengen Anforderungen zuzulassen.
13Vgl. Rennert in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, Vorb. § 40 Rn. 25; Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, Vorb. § 40 Rn. 35.
14Vorbeugend kann eine Unterlassung allerdings nur statthaft geltend gemacht werden, wenn ein drohendes tatsächliches Verwaltungshandeln abgewehrt werden soll, das sich hinreichend konkret abzeichnet und insbesondere die für eine Rechtmäßigkeitsprüfung erforderliche Bestimmtheit aufweist.
15Vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Dezember 2017 ‒ 6 A 7.16 ‒, juris Rn. 12 und vom 19. März 1974 ‒ 1 C 7.73 ‒, BVerwGE 45, 99.
16Hieran gemessen können die Antragsteller den begehrten vorbeugenden Rechtschutz für sich verlangen.
17Die durch den Antragsgegner beabsichtigte Überwachung der F.-straße mit optisch-technischen Mitteln ist bereits hinreichend konkretisiert und damit einer Rechtmäßigkeitsprüfung zugänglich. Nach der Anordnung durch den Polizeipräsidenten soll sich die ab dem 1. September 2020 geplante Videoüberwachung dabei auf die F.-straße, die Gehwege und eine Gebäuderückseite beziehen. Dass es im Übrigen vor der konkreten Umsetzung der geplanten Videoüberwachung weiterer datenschutzrechtlicher Abstimmungen durch den Antragsgegner bedarf und ggf. bestimmte Bereiche der F.-straße unkenntlich gemacht werden müssen, ändert an der bereits hinreichenden Konkretheit der Maßnahme nichts. Da jedenfalls die Überwachung der F.-straße einschließlich des Gehwegs vor dem von den Antragstellern bewohnten Haus fester Bestandteil der Maßnahme ist, und die Antragsteller insoweit mit einer lückenlosen Überwachung „ab der eigenen Haustür“ rechnen müssen, steht zumindest der den wesentlichen Teil der Rechtsbetroffenheit der Antragsteller ausmachende Umfang der Überwachungsmaßnahme bereits fest.
18Im Übrigen drohen den Antragstellern durch eine Inbetriebnahme der angedachten Videoüberwachung Nachteile, deren Abwarten ihnen nicht zugemutet werden kann. Die Kammer wertet den mit der Aufschaltung der Videokameras für die Antragsteller einhergehenden Grundrechtseingriff in deren allgemeines Persönlichkeitsrecht,
19vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2007 – 1 BvR 2368/06 –, juris Rn. 37ff., VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Juli 2003 – 1 S 377/02 -, NVwZ 2004, 498 (499),
20als schwerwiegend. Anders als vom Antragsgegner angenommen, sind die Antragsteller durch die beabsichtigte Videoüberwachung der F.-straße nicht alleine in ihrer sogenannten Sozial-, sondern vielmehr mittelbar auch in ihrer Privatsphäre berührt. Eingriffe in die Privatsphäre des Einzelnen stellen sich indes als schwerwiegender dar, als Eingriffe in dessen Sozialsphäre, die alleine das Verhalten in der Öffentlichkeit betreffen.
21Vgl. Di Fabio in: Maunz/Düring, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 1 Abs. 1 Rn. 158ff.
22Für die Antragsteller besteht beim Verlassen ihres Hauses bzw. bei ihrer Rückkehr zu diesem keine Möglichkeit, sich der Überwachung zu entziehen. Dadurch wirkt diese ständige Videoüberwachung „ab der eigenen Haustür“ und das hiermit verbundene Gefühl permanenter Überwachung zumindest mittelbar auch in ihren grundrechtlich nach Art. 13 Abs. 1 GG besonders geschützten privaten Wohn- und Rückzugsraum hinein. Dabei darf schließlich auch nicht unbeachtet bleiben, dass ausweislich des im Verwaltungsvorgang des Antragsgegners enthaltenen Vermerks vom 20. Februar 2020 die angedachte Überwachung gezielt der der rechtsextremen Szene zuzuordnenden Bewohner der F.-straße und namentlich der Antragsteller dient, denen der Antragsgegner die für die beabsichtigte Videoüberwachung anlassgebenden Straftaten zuschreibt.
23Das Rechtschutzbedürfnis der Antragsteller ist schließlich auch nicht deshalb zu verneinen, weil diese vor ihrer Beantragung gerichtlichen Rechtschutzes keinen entsprechenden Antrag gegenüber dem Antragsgegner gestellt haben.
24Für die allgemeine Leistungsklage – nichts anderes gilt für einen entsprechenden auf ein staatliches Realhandeln abzielenden Antrag im einstweiligen Rechtsschutz – sieht das Prozessrecht kein § 75 S. 1 VwGO entsprechendes eigenständiges Antragserfordernis gegenüber der beklagten Behörde vor.
25Vgl. BVerwG, Urteil vom 28 Juni 2001 – 2 C 48.00 –, BVerwGE 114, 350, zitiert nach juris Rn. 16; OVG NRW, Beschluss vom 10. September 2013 – 16 E 1690/13 -, juris Rn. 10; Happ in: Eyermann, VwGO , 15. Aufl. 2019, § 42 Rn. 68, § 123 Rn. 34.
26Im Übrigen ist das Rechtschutzbedürfnis der Antragsteller auch deshalb anzunehmen, weil der Antragsgegner durch seine Anträge auf Klageabweisung bzw. Antragsablehnung in Kenntnis der im gerichtlichen Verfahren vorgebrachten Einwände der Antragsteller bereits zum Ausdruck gebracht hat, dass er nicht gewillt ist, derzeit von der beabsichtigen Inbetriebnahme der vorgesehenen Überwachungskameras abzusehen.
27Vgl. Happ in: Eyermann, VwGO , 15. Aufl. 2019, § 42 Rn. 68, § 123 Rn. 34, wonach sich das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis auch aus dem Verhalten des Antragsgegners während des Antragsverfahrens ergeben kann.
28Von den Antragstellern kann daher nicht verlangt werden, einen offensichtlich keine Erfolgsaussichten bietenden Aussetzungsantrag beim Antragsgegner zu stellen.
29II.
30Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet.
31Gemäß § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung sind dabei der Anordnungsanspruch (dazu unter 1.) und der Anordnungsgrund (dazu unter 2.) glaubhaft zu machen.
32Diese Voraussetzungen liegen vor.
331.
34Der erforderliche Anordnungsanspruch, also der materiell-rechtliche Leistungs-, bzw. vorliegend Abwehranspruch der Antragsteller, dessen Absicherung der Erlass einer einstweiligen Anordnung dienen soll, ergibt sich aus dem sogenannten öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch. Der in der Abwehrfunktion der Grundrechte fußende Unterlassungsanspruch,
35BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2005 – 7 C 20.04 –, juris Rn. 10; OVG NRW, Beschluss vom 29. März 2018 – 4B232/18 –, juris Rn. 4,
36setzt eine durch ein staatliches Handeln drohende Grundrechtsverletzung des hiervon Betroffenen voraus.
37Auf Grundlage des gegenwärtigen Erkenntnisstandes nimmt die Kammer eine drohende Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Antragsteller durch die geplante Videoüberwachung an. Der mit der beabsichtigten Videoüberwachung einhergehende Eingriff in die Grundrechte der Antragsteller ist durch die einschlägige Rechtsgrundlage des § 15a Abs. 1 S. 1 PolG NRW nicht gedeckt und verletzt die Antragsteller daher in ihren Rechten. Nach den Nrn. 1 und 2 der vorgenannten Vorschrift kann die Polizei zur Verhütung von Straftaten einzelne öffentlich zugängliche Orte mittels Bildübertragung beobachten und die übertragenen Bilder aufzeichnen, wenn (dazu unter a.) an diesem Ort wiederholt Straftaten begangen wurden und die Beschaffenheit des Ortes die Begehung von Straftaten begünstigt, solange Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass an diesem Ort weitere Straftaten begangen werden oder (dazu unter b.) Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort Straftaten von erheblicher Bedeutung nach § 8 Abs. 3 PolG NRW verabredet, vorbereitet oder begangen werden.
38Die tatbestandlichen Voraussetzungen der zitierten Rechtsgrundlage liegen nach Aktenlage nicht vor. Abgesehen davon erweist sich die Videoüberwachung der F.-straße auch als unverhältnismäßig (dazu unter c.).
39a)
40Soweit der Antragsgegner ausweislich seines Vermerks vom 20. Februar 2020 die beabsichtigte Videoüberwachung auf § 15a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 PolG NRW stützt, liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm auf der Grundlage der aktenkundigen Tatsachen nicht vor. Die vorliegenden Erkenntnisse des Antragsgegners belegen nicht, dass es sich bei der zu beobachtenden F.-straße um einen Ort handelt, an dem wiederholt Straftaten begangen wurden.
41Bei dem nach § 15a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 PolG NRW zu überwachenden Ort muss es sich um einen Kriminalitätsschwerpunkt handeln, also um einen Ort, an dem im Vergleich zu anderen Teilen des Gemeindegebietes eine signifikante Häufung von Straftaten zu beobachten ist.
42Vgl. Ogorek in: BeckOK PolR NRWE, 13. Ed. 1.1.2020, PolG NRW, § 15a Rn. 10; Braun in: Schütte/Brau/Keller, PolG NRW, 2012, § 15a Rn. 15f.; Tegtmeyer/Vahle, PolG NRW, 12. Aufl. 2018, § 15a Rn. 1; Petri in: Lisken/Denninger; Hdb. d. Pol., 6. Aufl. 2018, Kap G Rn 775; zum baden-württembergischen Landesrecht auch: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Juli 2003 - 1 S 377/02 -, juris Rn. 60.
43Ausgehend von den im Verwaltungsvorgang befindlichen Angaben zur Kriminalitätsbelastung im Bereich der F.-straße sprechen bereits die absoluten Zahlen gegen die Annahme, dass es sich um einen Kriminalitätsschwerpunkt handelt. Der Antragsgegner hat es zudem versäumt, belastbare Zahlen für andere städtebaulich und sozial vergleichbare Bereiche im Stadtgebiet E. zu ermitteln, sodass sich eine besondere Kriminalitätsbelastung des in Rede stehenden Bereiches auch nicht aus einem entsprechenden Vergleich zu anderen Bereichen der Stadt herleiten lässt.
44Ausweislich der Anlage 1 zu dem Vermerk des Antragsgegners vom 20. Februar 2020 sind für den Bereich der F.-straße zwischen 2015 und Januar 2020 insgesamt 57 Straftaten erfasst, davon alleine 34 Sachbeschädigungen (ca. 60 %). Ausgehend von einem Zeitraum von 61 Monaten ist durchschnittlich von rund einer Straftat (0,93) im Monat auszugehen. Offen bleibt zudem, ob im Hinblick auf die in der Anlage 1 aufgelisteten Straftaten jeweils nur der Verdacht einer solchen zugrunde gelegt wurde, oder ob diese tatsächlich aufgeklärt und strafrechtlich verfolgt worden sind. Berücksichtigt man ferner, dass es zwar in den Jahren 2016 (22 Fälle, davon 11 Sachbeschädigungen) und 2017 (15 Fälle, davon 13 Sachbeschädigungen) zu einer gewissen Häufung an Straftaten gekommen ist, wobei nähere Einzelheiten zu den Ursachen hierfür nicht bekannt sind, es aber in den Jahren 2018 und 2019 und im Januar 2020 insgesamt nur zu elf erfassten Delikten gekommen ist, spricht dies gegen die Annahme eines gegenwärtigen Kriminalitätsschwerpunkts.
45Der vom Antragsgegner angeführte Vergleich mit anderen (allgemeinen) Wohngebieten, die als deliktsfreie Räume anzusehen seien, ist für die Kammer zudem schon mangels aussagekräftiger Vergleichszahlen nicht nachvollziehbar. Die tatsächliche deliktische Belastung eines Gebietes dürften von einer Vielzahl unter anderem sozialer, wirtschaftlicher und städtebaulicher Faktoren abhängen, sodass sich eine Aussage hierzu alleine aufgrund der baunutzungsrechtlichen Einordnung eines Gebietes nicht verallgemeinernd treffen lässt. Es erscheint jedenfalls zweifelhaft, dass andere vergleichbare Wohngebiete rein zahlenmäßig keine ähnliche Kriminalitätsbelastung aufweisen. Dies gilt gerade auch im Hinblick darauf, dass es sich bei den vom Antragsgegner schwerpunktmäßig angeführten Sachbeschädigungen durch „Graffitis“ - ungeachtet deren Inhaltes - um Delikte der Massenkriminalität handelt, die in vielen Bereichen eines Stadtgebietes in größerer Anzahl zu beobachten sind.
46Nach dem Inhalt der vom Antragsgegner übersandten Verwaltungsvorgänge liegt im Übrigen die Annahme nicht fern, dass der für die Überwachung vorgesehene Bereich allein aufgrund des dort befindlichen Wohnorts der Antragsteller ausgewählt worden ist und nicht – wie es § 15a Abs. 1 PolG NRW voraussetzt – wegen des gerade dort festzustellenden Kriminalitätsschwerpunktes.
47b)
48Auch soweit der Antragsgegner in der F.-straße einen Ort sieht, an dem Straftaten von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 8 Abs. 3 PolG NRW begangen werden, vermag die Kammer dem nicht zu folgen.
49Straftaten nach § 8 Abs. 3 PolG NRW sind zunächst solche, die in § 138 StGB genannt sind, sowie Straftaten nach § 129 StGB und die weiteren in § 8 Abs. 3 PolG NRW genannten Delikte, soweit sie gewerbs- oder bandenmäßig begangen werden. Diese Aufzählung ist indes nicht abschließend zu verstehen, sondern vielmehr kann auch bei Straftaten, die in ihrem Unrechtsgehalt den vorgenannten Straftaten entsprechen, eine erhebliche Bedeutung angenommen werden. Die Erheblichkeit kann dabei auch in der konkreten Begehungsform liegen und soll damit grundsätzlich auf nahezu jede Straftat zutreffen können.
50Vgl. Worms/Gusy in: BeckOK PolR NRW, 13. Ed. 1.1.2020, PolG NRW § 8 Rn. 134.
51Den seitens des Antragsgegners angeführten Statistiken zur Kriminalitätsbelastung in der F.-straße lässt sich nicht entnehmen, dass dort Straftaten mit derart gewichtigem Unrechtsgehalt begangen werden.
52Dabei verkennt die Kammer nicht das berechtigte Anliegen des Antragsgegners, der Schaffung eines sogenannten „Angstraumes“ im Bereich der F.-straße entgegen zu wirken, der nach Angaben des Antragsgegners durch die dort wohnhaften Mitglieder der rechtsextremen und antidemokratischen, nicht verbotenen Partei „DIE RECHTE“,
53vgl. zu dieser Einordnung: Verfassungsschutzbericht 2018 des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat, S, 78ff., 90.; Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2018, 2018, S. 86ff.,
54geschaffen wird.
55Dass dieser „Angstraum“ indes im Wesentlichen durch die Begehung von Straftaten gerade im von der Videoüberwachung betroffenen Bereich der F.-straße geschaffen wird, ist nicht ausreichend belegt. Bei den vom Antragsgegner insoweit angeführten Straftaten, seit 2018 nur insgesamt fünf Fälle, handelt es sich um Sachbeschädigungen, im Wesentlichen wohl um sog. „Graffiti-Sprühereien“. Diese im Einzelnen vom Antragsgegner nicht näher konkretisierten Taten führen indes, selbst wenn sie sämtlich einen offen rechtsextremen Bezug haben sollten, noch nicht zur Schaffung eines „Angstraumes“. Vielmehr entsteht ein solcher „Angstraum“, der dadurch gekennzeichnet ist, dass Personen, die den für die Schaffung eines solchen verantwortlichen Akteuren missliebig sind, der Eindruck vermittelt wird, dass ihnen bereits aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit in dem Gebiet Repressalien drohen, erst durch eine Vielzahl an z.T. offen provokativen, regelmäßig aber unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit liegenden Handlungen mit subtilem Drohcharakter, sowie hierauf bezogenen Propagandamaßnahmen, etwa in den sozialen Medien. Die einschlägigen Rechtsgrundlagen des Polizeirechts zur Videoüberwachung, die (allein) auf die Verhütung von Straftaten abzielen (vgl. § 15a Abs. 1 S. 1 PolG NRW), sind indes nicht darauf ausgelegt, gesellschaftlich zu missbilligenden und ggf. der öffentlichen Ordnung zuwiderlaufenden,
56vgl. etwa: VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 20. September 2019 - 14 L 14561/19 -, bestätigt durch OVG NRW, Beschluss vom 20. September 2019 - 15 B 1298/19 - u.a. zum Skandieren der Parole: „E. ooooo - Nazi-Kiez“ als Ausdruck eines entsprechenden „Herrschaftsanspruches“,
57strafrechtlich allerdings nicht relevanten Verhaltensweisen zu begegnen.
583.
59Zudem bewertet die Kammer die angedachte Videoüberwachung nach derzeitiger Erkenntnislage auch als unverhältnismäßig und damit ermessensfehlerhaft.
60Der Kammer leuchtet es im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Videoüberwachung schon nicht ohne weiteres ein, warum die bisher durch den Antragsgegner nach dessen eigener Einschätzung durchaus mit Erfolg praktizierte Polizeipräsenz im hier fraglichen Bereich weniger dazu geeignet sein soll, das sich gemessen an den reinen Zahlen jedenfalls seit 2018 auf einem niedrigen Niveau bewegende Kriminalitätsaufkommen weiter auf einem solchen Niveau zu halten, als durch die beabsichtigte Videoüberwachung der F.-straße. Der Verweis auf die begrenzte Wahrnehmungs- und Merkfähigkeit von Polizeibeamten überzeugt kaum, weil es sich bei dem zu überwachenden Bereich der F.-straße um einen räumlich begrenzten Bereich mit nur beschränktem Verkehrs- bzw. Personenaufkommen handelt. In Betracht käme insoweit ggf. auch ein erhöhter personeller Einsatz, mit dem sich die Deliktszahl weiter reduzieren ließe. Letztlich bedarf die Frage der Erforderlichkeit auch ggf. unter Berücksichtigung des Aspekts, ob fiskalische Interessen u.U. geeignet sein können, einen Vorrang von (kostengünstigeren) Videoüberwachungen gegenüber Maßnahmen der polizeilichen Präsenz zu begründenden,
61vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2012 - 6 C 9.11 -, BVerwGE 141, 329ff., zitiert nach juris Rn. 46
62aber keiner abschließenden Entscheidung.
63Denn die beabsichtigte Videoüberwachung stellt sich vor dem Hintergrund, dass diese nach dem klar erkennbaren Gesetzeszweck des § 15a Abs. 1 S. 1 PolG NRW alleine dazu dienen darf Straftaten vorzubeugen, nicht als verhältnismäßig im engeren Sinne dar.
64Dabei weißt die Kammer nochmals ausdrücklich darauf hin, dass die Bekämpfung rechtsextremistischer der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zuwiderlaufender Verhaltensweisen im öffentlichen Raum ein grundsätzlich berechtigtes Anliegen der Polizeibehörden ist. Auch ist es im Ansatz nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner bemüht ist, Verhaltensweisen entgegenzuwirken, die dazu führen, dass der Stadtteil F1. als „Angstraum“ zu betrachten ist. Angesichts des rein an den Zahlen gemessen insgesamt als niedrig zu bezeichnenden und sich im Wesentlichen durch Sachbeschädigungen bestimmten Kriminalitätsniveaus im zu überwachenden Bereich der F.-straße stehen die mit der Videoüberwachung einhergehenden erheblichen grundrechtlichen Beeinträchtigungen der Antragsteller als Anwohner dem aber außer Verhältnis.
652.
66Der erforderliche Anordnungsgrund für den Erlass der einstweiligen Anordnung ergibt sich daraus, dass es den Antragstellern nicht zugemutet werden kann, den für sie schwerwiegenden Eingriff in ihr allgemeines Persönlichkeitsrechts nach Aufschaltung der Kameras zumindest bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens hinzunehmen.
67III.
68Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung bemisst sich nach § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes. Angesichts des Umstandes, dass die insgesamt vier Antragsteller sich letztlich gegen eine einheitlich zu bewertende beabsichtigte Maßnahme des Antragsgegners wenden, hält die Kammer für das Hauptsacheverfahren den Auffangstreitwert für angemessen, der wegen der Vorläufigkeit der vorliegenden Entscheidung zu halbieren ist.
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