Beschluss vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 14 L 1095/21
Tenor
1. Frau T, wird beigeladen.
2. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Streckenführung des für Sonntag den 22. August 2021 angemeldeten Demonstrationszugs durch die Fstraße und Teile der Ustraße durch sofort vollziehbare geeignete Auflagen so zu gestalten, dass er nicht an dem Eckhaus UStraße # / Fstraße in E vorbeigeführt wird.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die nicht erstattungsfähig sind.
3. Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.
1
Gründe:
2Die Anmelderin der Versammlung, gegen deren Streckenführung sich der Antrag richtet, war beizuladen, da ihre Rechte durch den Beschluss unmittelbar betroffen werden. Aufgrund der Eilbedürftigkeit der Entscheidung und des Umstandes, dass die Personalien der Anmelderin dem Gericht erst kurz vor der Entscheidung bekannt wurden, war es dem Gericht nicht mehr möglich, die Beigeladene so rechtzeitig am Verfahren zu beteiligen, dass ihr noch Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden konnte.
3Der Antrag ist zulässig und begründet.
4Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese erforderlich ist, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern.
5Die den Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund tragenden Tatsachen sind durch den Antragsteller glaubhaft zu machen. Dieser Grundsatz schränkt den Amtsermittlungsgrundsatz zwar ein, setzt ihn jedoch nicht außer Kraft.
6Vorliegend sieht die Kammer den Erlass der tenorierten einstweiligen Anordnung trotz des von dem Antragsgegner in der Antragserwiderung geschilderten Sicherheitskonzepts als erforderlich an, um drohende Gewalt gegenüber dem Antragsteller zu verhindern.
7Bei dem Antragsteller handelt es sich um eine seit Jahrzehnten herausgehobene Figur der Eer „rechten Szene“ und der Partei „E S“, für die er kurzzeitig auch Mitglied im Rat der Stadt E war.
8Die Beigeladene, Anmelderin der in Rede stehenden Demonstration, ist gerichtsbekannt der linken Szene im weiteren Sinne zuzurechnen. Im Internet wird die in Rede stehende Versammlung unter dem Motto „Bringin it down“ als „Antifa-Demo am Sonntag gegen [die] Neonaziszene in E2“ geschildert. In einem Artikel des „Nordstadtbloggers“ heißt es:
9„Die Gefahr, die von der rechten Szene ausgehe, bestehe weiterhin, so die Antifaschist*innen. Es gelte an die Erfolge anzuknüpfen und klarzumachen: ‚Wir lassen Nazis keine Ruhe. Wir ziehen mit dem Motto „Bringin it down“ nach E2. Wir werden weitermachen, bis die Naziszene Geschichte ist.‘
10Die antifaschistische Demonstration startet am Sonntag um 13 Uhr an der U-Bahn-Haltestelle Westentor und soll durch den Stadtteil E2 führen. Die Veranstalter*innen rechnen mit mehreren hundert Demonstrierenden.“
11Vgl.: https://www.nordstadtblogger.de/[…] Stand 20.08.2021, 13.30 Uhr
12Auch die „B ###“ ruft über Twitter großräumig zur Teilnahme an der Versammlung auf.
13Vgl.: https://twitter.com/[…], Stand 20.08.2021, 13.30 Uhr
14Der Antragsgegner hat in der Vergangenheit, aus zahlreichen Verfahren gerichtsbekannt, das unmittelbare Aufeinandertreffen von Angehörigen der Partei „E S“ oder der „rechten Szene“ und Mitgliedern der linksextremen antifaschistischen Szene für so gefährlich gehalten, dass ein striktes räumliches Trennungskonzept, bis hin zum Verbot einer (Eil-)Versammlung,
15vgl. OVG NRW, Urteil vom 24. September 2019 - 15 A 3186/17,
16erforderlich war, um gewalttätige Auseinandersetzungen zu vermeiden.
17Bei der hier in Rede stehenden Fstraße handelt es sich um eine Straße in einem Wohngebiet mit beidseitig mehrgeschossiger Wohnbebauung. Die Fahrbahnbreite beträgt nach den in der Karte und dem Luftbild des Geodatenservers des Landes NRW abzugreifenden Maßen,
18www.tim-online.nrw.de, Kachelname: #########, Bildflugdatum: 29.06.2018, Bodenauflösung Originalbild [m/Pixel]: 0.10 Photometrie: RGBI Bit/Pixel/Kanal: 8,
19ca. 4,5m, die Breite der gesamten Straßenparzelle ca. 7,5 m.
20Im Haus UStraße # wohnen neben dem Antragsteller nicht nur - gerichtsbekannt - mehrere Mitglieder der Partei „E S“, sondern dort befindet sich auch deren Parteizentrale. Bei dem Gebäude handelt es sich seit Jahren um eines der zentralen Symbole der Eer rechten Szene, die nach den in mehreren Verfahren vorgetragenen Erkenntnissen des Antragsgegners einen „Territorialanspruch“ auf die umliegende Nachbarschaft behauptet. Dieser „Anspruch“ war auch bereits mehrfach Gegenstand der Berichterstattung in den Medien und ist, gerichtsbekannt, seit Jahren Objekt der politischen Auseinandersetzung mit rechtsradikalen Tendenzen und Bestrebungen in E.
21Zur Fstraße hin befinden sich im Erdgeschoss großflächige Fenster, im Obergeschoss dürften sich ebenfalls Wohnungsfenster befinden.
22Vgl. https://www.google.de/maps/[…]Stand 20.08.2021, 13.30 Uhr und Lichtbilder in den vom Antragsgegner übersandten Unterlagen.
23Der Antragsgegner geht auch für die hier in Rede stehende Versammlung von einem erheblichen Konfliktpotential aus. Zwar liegt die Versammlungsbestätigung dem Gericht nicht vor, obwohl dies durch den Vorsitzenden am heutigen morgen, aufgrund der Eilbedürftigkeit der Angelegenheit telefonisch, um 09.45 Uhr ausdrücklich erbeten wurde. Aus den übersandten Unterlagen folgt jedoch, dass der Antragsgegner eine Abgitterung in drei Metern Entfernung vor den Gebäuden entlang der kompletten Fstraße, sowie die Errichtung eines 6 m hohen Fangnetzes durch die Polizei für erforderlich hält, um Übergriffe aus der Versammlung heraus und aus den Häusern heraus auf die Versammlung zu unterbinden.
24Unabhängig davon, ob eine solche Maßnahme grundsätzlich verhältnismäßig, geeignet oder gar erforderlich ist, um im Licht des Art. 8 GG die friedliche Durchführung einer Versammlung unter Einsatz erheblicher öffentlicher Mittel überhaupt zu ermöglichen, oder ob hier bereits die Grenzen der aus der Verfassung gebotenen Neutralität der Versammlungsbehörde überschritten werden, belegt der Umfang der Maßnahmen, dass der Versammlung der Beigeladenen nicht nur ein erhebliches Gefahrenpotential zukommt, sondern dass sie auch geeignet ist, eine bedrohende Wirkung auf den Antragsteller auszuüben, die in der politischen Auseinandersetzung auch mit den Mitteln der auf die Straße getragenen Meinungsäußerung unter dem weiten Schutzbereich des Art. 8 GG, demokratischen Grundsätzen nicht mehr entspricht. Sie ist daher dem Antragsteller auch angesichts seiner politischen „Prominenz“ in dieser Form nicht mehr zuzumuten.
25Die Kammer sieht Veranlassung in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Antragsgegner in der Vergangenheit offenbar auch dieser Auffassung war. In dem vor dem erkennenden Gericht geführten Verfahren 14 L 1966/14 waren mehrere Versammlungsverbote Gegenstand, welche der Antragsgegner ausgesprochen hatte, als von den Veranstaltern aus dem rechten Spektrum als „Weihnachtskundgebungen“ bezeichnete Versammlungen in unmittelbarer Umgebung der Wohnsitze prominenter Eer Bürger abgehalten werden sollten. Das Verfahren endete ohne eine gerichtliche Entscheidung in der Sache, nachdem im Verfahren alternative Versammlungsorte durch den Antragsgegner mit dem seinerzeitigen Antragssteller kooperiert werden konnten.
26Aufgrund der Schwere des hier durch die Versammlung und ihre offenkundige Einschüchterungswirkung verursachten Grundrechtseingriffs, sieht die Kammer die Voraussetzungen für eine im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur ausnahmsweise mögliche Vorwegnahme der Hauptsache als gegeben an und das Ermessen des Antragsgegners so weit reduziert, dass nur die Verlagerung der Versammlung in eine Distanz, welche die Einschüchterungswirkung so weit abschwächt, dass sie als Folge einer - ihrem Adressaten möglicherweise unliebsamen - Meinungsäußerung hinzunehmen ist.
27Der „vorsorglich“ gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung,
28dem Antragsgegner aufzugeben, nicht dagegen einzuschreiten, wenn der Antragsteller am Sonntag, dem 22. August 2021 namentlich auch in der Zeit, in der eine linksgerichtete Demonstration möglicherweise durch die Ustraße zieht, aus den Fenstern seiner Wohnung in der UStraße # schwarz-weiß-rote Flaggen heraushänge,
29wird als Hilfsantrag aufgefasst. Da der Hauptantrag des Antragstellers Erfolg hatte, hat er keine Relevanz mehr und muss von der Kammer nicht mehr beschieden werden.
30Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, da sie bislang nicht am Verfahren beteiligt war.
31Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
32Rechtsmittelbelehrung:
33Der Beschluss zu 1. ist unanfechtbar (§ 65 Abs. 4 VwGO).
34Gegen den Beschluss zu 2. steht den Beteiligten die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu.
35Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV), bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen. Sie ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV, einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
36Im Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss zu 2. muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.
37Gegen den Beschluss zu 3. findet innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
38Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV, bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einzulegen. Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.
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Referenzen
- VwGO § 154 1x
- VwGO § 3 1x
- VwGO § 162 1x
- VwGO § 55a 1x
- VwGO § 123 1x
- § 52 Abs. 2 GKG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 65 1x
- VwGO § 67 1x
- 15 A 3186/17 1x (nicht zugeordnet)
- 14 L 1966/14 1x (nicht zugeordnet)