Beschluss vom Verwaltungsgericht Hamburg (2. Kammer) - 2 E 1319/15

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig von März 2015 bis September 2015, längstens bis zu einer bestandskräftigen oder klageabweisenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren, für ihr Studium im Studiengang Medizin mit dem Studienziel Staatsprüfung an der Universität A. Ausbildungsförderung nach Maßgabe des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zu gewähren.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.

Gründe

I.

1

Der Prozesskostenhilfeantrag und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, auf den er sich bezieht, werden nach §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO so ausgelegt, dass die Antragstellerin die Verpflichtung begehrt, ihr vorläufig von März 2015 bis September 2015, längstens bis zu einer bestandskräftigen oder klageabweisenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren, für ihr Studium im Studiengang Medizin mit dem Studienziel Staatsprüfung an der Universität A. Ausbildungsförderung nach Maßgabe des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zu gewähren. Einstweilige Anordnungen dienen der Behebung aktueller, d.h. gegenwärtig noch bestehender Notlagen und können grundsätzlich nur für die Gegenwart und Zukunft, nicht aber für im Zeitpunkt der Entscheidung bereits zurückliegende Zeiträume getroffen werden (OVG Hamburg, Beschl. v. 3.12.2012, 4 Bs 200/12; Beschl. v. 18.12.2006, 4 Bs 284/06). Nicht ersichtlich ist, dass die Antragstellerin darüber hinausgehen will. Im Wege der einstweiligen Anordnung bedarf es keiner vorläufigen Bewilligung durch Verwaltungsakt, hinreichend ist eine vorläufige Gewährung, die gegebenenfalls nach § 945 ZPO zurückverlangt werden kann (vgl. OVG Hamburg, V Bf 47/86, Urt. v. 1.11.1989, NVwZ 1990, 686).

II.

2

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Der Bewilligung von Prozesskostenhilfe bedarf es nicht, da sie für die Antragstellerin ohne Vorteil wäre. Die Wirkungen der Prozesskostenhilfe betreffen gemäß § 122 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 166 Abs. 1 VwGO allein die Gerichtskosten, die gemäß § 188 Satz 2 VwGO im vorliegenden Verfahren jedoch nicht anfallen, sowie die Kosten eines Rechtsanwalts, der jedoch nicht als Prozessbevollmächtigter bestellt ist.

III.

3

Der zulässige Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig von März 2015 bis September 2015, längstens bis zu einer bestandskräftigen oder klageabweisenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren, für ihr Studium im Studiengang Medizin mit dem Studienziel Staatsprüfung an der Universität A. Ausbildungsförderung nach Maßgabe des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zu gewähren, hat auch in der Sache Erfolg.

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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Vor-aussetzung hierfür ist gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO, dass die Antragstellerin Umstände glaubhaft macht, aufgrund derer sie dringend auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung angewiesen ist (Anordnungsgrund) und aus denen sie in der Hauptsache einen Anspruch herleitet (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund (1.) und Anordnungsanspruch (2.) sind gegeben.

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1. Ein Anordnungsgrund folgt aus der von der Antragstellerin dargelegten wirtschaftlichen Notlage. Ausgehend vom letzten positiven Bewilligungsbescheid vom 10. Dezember 2014 (Bl. F 46 der Förderungsakte) kann ein von den Eltern nicht gedeckter monatlicher Bedarf der Antragstellerin von 537,-- Euro angenommen werden. Eine lediglich begrenzte finanzielle Unterstützung der Antragstellerin durch ihre Eltern ist ausgehend von diesem Bescheid, in dem drei ebenfalls studierende Geschwister nachgewiesen sind, nachvollziehbar. Die Unterstützung in Höhe von 50,-- Euro durch den Patenonkel deckt die laufenden Ausgaben nicht. Weitere Einnahmen der Antragstellerin sind nicht ersichtlich. Die belegten Kontostände des Girokontos bei der B-Bank, des Kontos bei C und des Kontos bei D sind negativ.

6

2. Ein Anordnungsanspruch ist gegeben. Nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens kann die Antragstellerin für den geltend gemachten Zeitraum Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (i.d.F. der Bekanntmachung v. 7.12.2010, BGBl. I S. 1952, 2012 I S. 197, zuletzt geändert durch Gesetz v. 23.12.2014, BGBl. I S. 2475 – BAföG) beanspruchen.

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Gemäß § 1 BAföG besteht auf individuelle Ausbildungsförderung für eine der Neigung, Eignung und Leistung entsprechende Ausbildung ein Rechtsanspruch nach Maßgabe dieses Gesetzes, wenn dem Auszubildenden die für seinen Lebensunterhalt und seine Ausbildung erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Mit den bisherigen positiven Bewilligungsbescheiden ist davon auszugehen, dass das Studium der Antragstellerin im Studiengang Medizin mit dem Studienziel Staatsprüfung an der Universität A. dem Grunde nach förderungsfähig ist. Einer weiteren Förderung ab März 2015 bis September 2015 dürfte weder eine Studierunfähigkeit der Antragstellerin (a)) noch ein Überschreiten der Förderungshöchstdauer (b)) entgegenstehen.

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a) Der beanspruchten Förderung steht nicht bereits nach § 15 Abs. 2a BAföG die von der Antragstellerin vorgetragene Erkrankung entgegen. Nach dieser Vorschrift schließt eine Erkrankung, die den Auszubildenden über drei Kalendermonate hinaus hindert, die Ausbildung durchzuführen, eine Förderung aus. Nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens ist von einer hinreichenden, zumindest anteiligen, Studierfähigkeit der Antragstellerin jedenfalls ab dem Monat März 2015 auszugehen. Etwas anderes ist auch von der Antragstellerin nicht vorgetragen worden. Gleichwohl die Antragstellerin wegen der nach ihrem Vortrag im Sommer 2014 aufgetretenen Erkrankung vom Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung im Herbsttermin 2014 zurückgetreten ist und die Zulassung zum Frühjahrstermin der Prüfung nicht mehr erreichen kann, befindet sie sich nach ihren Darlegungen mit Telefax vom 25. März 2015 neben ihrer wöchentlichen Therapie „in der Examensvorbereitung“ und lernt „momentan ca. 4 Tage die Woche für vier bis fünf Stunden“.

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b) Der geltend gemachten Förderung steht auch nicht entgegen, dass die Antragstellerin die Förderungshöchstdauer überschritten hat.

10

Zwar wird grundsätzlich Ausbildungsförderung bei Studiengängen gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 BAföG nur bis zum Ende der Förderungshöchstdauer geleistet, die gemäß § 15a Abs. 1 BAföG der Regelstudienzeit entspricht. Die Regelstudienzeit im Studiengang der Antragstellerin beträgt gemäß §§ 2 Abs. 2, 11 Abs. 2 der Neufassung der Studienordnung für das Studium der Humanmedizin an der Medizinischen Fakultät der Universität A. vom 13. August 2014 (StO) einschließlich aller Prüfungen sechs Jahre und drei Monate. Diese Zeit endete ausgehend von einer Aufnahme des Studiums im Oktober 2008 mit dem Dezember 2014.

11

Doch kann die Antragstellerin eine Förderung über die Förderungshöchstdauer hinaus beanspruchen. Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG wird über die Förderungshöchstdauer für eine angemessene Zeit Ausbildungsförderung geleistet, wenn sie aus schwerwiegenden Gründen überschritten worden ist. Als schwerwiegender Grund ist insbesondere eine Erkrankung anzuerkennen (Lackner, in Ramsauer/Stallbaum, 5. Aufl. 2014, § 15 Rn. 23 m.w.N.). Nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens leidet die Antragstellerin an einer psychischen Erkrankung (Überforderungssyndrom, Burn-out-Zustand, Selbstunsicherheit und allgemeine hormonelle Dysfunktion), wie in einem dem Landesprüfungsamt für Heilberufe vorliegenden ärztlichen Attest beschrieben ist. Die von der Antragstellerin beanspruchte Verlängerung umfasst angesichts dieses schwerwiegenden Grundes eine angemessene Zeit i.S.d. § 15 Abs. 3 BAföG.

12

Angemessen ist eine Verlängerung der Förderung um eine Zeit, um die sich die Ausbildung aus dem jeweiligen in § 15 Abs. 3 BAföG anerkannten Grund verzögert hat. Der Begriff der Angemessenheit unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle (BVerwG, Beschl. v. 18.7.1986, 5 B 21/85, juris Rn. 2). Angemessen ist die Zeit, die dem Zeitverlust entspricht, der durch den die Überschreitung der Förderungshöchstdauer rechtfertigenden Grund entstanden ist (VG Hamburg, Urt. v. 5.11.2014, 2 K 373/12, n.v.; Urt. v. 4.2.2014, 2 K 3204/12, juris Rn. 39; durch VGH München, Beschl. v. 17.6.2013, 12 CE 13.999, 12 C 13.1000, 12 C 13.1001, juris Rn. 27, als allgemeine Auffassung bezeichnet, ebenso die Rechtsauffassung unter Tz. 15.3.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz, zuletzt geändert am 29.10.2013, GMBl. S. 1094 – BAföGVwV 1991; Fischer, in: Rothe/Blanke, BAföG, Stand: April 2012, § 15 Rn. 16; Lackner, in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 5. Aufl. 2014, § 15 Rn. 11).

13

Vorliegend ergibt sich ein Zeitverlust und damit eine angemessene Verlängerung der Förderung um zwölf Monate. Die Antragstellerin kann sich erst im Herbst 2015 dem Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung stellen. Ohne die Erkrankung hätte sich die Antragstellerin im Herbst 2014 oder im Frühjahr 2015 dem Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung unterziehen können. Die Erkrankung der Antragstellerin führte zunächst zu einer Genehmigung des Rücktritts vom Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung im Herbst 2014 durch Bescheid des Landesprüfungsamtes für Heilberufe vom 9. Dezember 2014. Eine Anmeldung zum Frühjahrstermin der Prüfung war der Antragstellerin nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens nicht zumutbar. Die Anmeldefrist dafür lief ausweislich des zur Gerichtsakte genommenen Auszugs aus der Homepage des Landesprüfungsamtes für Heilberufe am 10. Januar 2015 ab. Die Antragstellerin durchläuft auch gegenwärtig noch eine psychologische Therapie.

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Der Ursächlichkeit der Erkrankung für einen Zeitverlust von zwölf Monaten steht nicht entgegen, dass die Antragstellerin auch unter Hinwegdenken der Erkrankung ihre Ausbildung nicht in der Förderungsdauer bis Dezember 2014 abgeschlossen hätte und es insgesamt zu einem Zeitverlust von vierundzwanzig Monaten gekommen ist.

15

Zwar hätte die Antragstellerin ihre Ausbildung ohnehin frühestens im Dezember 2015 und damit zwölf Monate nach Ablauf der Förderungshöchstdauer abgeschlossen. Denn in die Regelstudienzeit und damit in die Förderungshöchstdauer von sechs Jahren und drei Monaten zählt gemäß § 2 Abs. 2 StO das gesamte Studium einschließlich aller Prüfungen, d.h. der Studienabschnitt Medizin I, der gemäß § 4 Abs. 2 StO zwei Studienjahre umfasst, sowie der Studienabschnitt Medizin II, der gemäß § 4 Abs. 3 StO drei Studienjahre und das Praktische Jahr umfasst. Der Erste bis Dritte Abschnitt der Ärztlichen Prüfung – und nicht lediglich der Erste und Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung – sind in dieser Zeit abzulegen.

16

Doch hätte die Antragstellerin ohne die Erkrankung im Dezember 2014 zumindest den Stand erreicht, um nach § 15 Abs. 3a BAföG Hilfe zum Studienabschluss zu erreichen. Nach Maßgabe des § 15 Abs. 3a BAföG wird für höchstens zwölf Monate auch nach dem Ende der Förderungsdauer nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG Hilfe zum Studienabschluss geleistet. Hätte die Antragstellerin den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung im Herbst 2014 bestanden, so hätte sie das Praktische Jahr und den Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung bis Dezember 2015 bestehen können. Dies muss genügen, um ihr für die auf der Erkrankung beruhende Verlängerungszeit von zwölf Monaten Förderung über die Förderungshöchstdauer hinaus zu gewähren, verbunden mit der Möglichkeit, danach Hilfe zum Studienabschluss zu beantragen. Es kann dahinstehen, ob § 15 Abs. 3 BAföG eine positive Prognose über den weiteren Studienverlauf voraussetzt (krit. dazu Lackner, in Ramsauer/Stallbaum, 5. Aufl. 2014, § 15 Rn. 15 f. m.w.N.). Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur früheren Rechtslage hing die Leistung von Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer von der Prognose ab, dass der Auszubildende die Ausbildung innerhalb der verlängerten Förderungszeit berufsqualifizierend abschließe (BVerwG, Urt. v. 16.11.1978, V C 34.77, BVerwGE 57, 75, juris Rn. 15). Dies ist nach Einführung des Instituts der Studienabschlusshilfe in § 15 Abs. 3a BAföG zumindest zu modifizieren. In die Prognose über den voraussichtlichen weiteren Ausbildungsverlauf und Ausbildungsabschluss ist jedenfalls die Möglichkeit der Studienabschlussförderung einzubeziehen und die Prognose nicht mehr auf die angemessene Förderungsdauer nach § 15 Abs. 3 BAföG beschränkt, weil sonst der Auszubildende, der nach § 15 Abs. 3 BAföG begünstigt werden soll, von der Inanspruchnahme der Studienabschlussförderung ausgeschlossen und damit erheblich benachteiligt würde (OVG Münster, Urt. v. 30.11.2005, 4 A 2571/02, ZfSH/SGB 2006, 690, juris Rn. 28).

IV.

17

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 188 Satz 2, 154 Abs. 1 VwGO.

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