Beschluss vom Verwaltungsgericht Karlsruhe - A 9 K 4825/19

Tenor

Nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache wird das Verfahren eingestellt.

Die Kosten des nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte.

Gründe

 
I.
Mit seiner – nunmehr übereinstimmend für erledigt erklärten – Klage wandte sich der Kläger gegen seine Überstellung nach Italien zum Zweck der Durchführung eines Asylverfahrens im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens. Nach Ablehnung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am 22.07.2019 erhobenen Klage gegen den am 16.07.2019 zugestellten Bescheid (VG Karlsruhe, Beschluss vom 25.10.2019 – A 9 K 4826/19 –, n.v.) hatte die Beklagte die Vollziehung des Bescheides vom 09.07.2019 mit auf den 31.03.2020 datierter Erklärung ausgesetzt und erklärt, dass Überstellungen im Hinblick auf die Entwicklung der „Corona-Krise“ bis auf weiteres nicht zu vertreten seien bzw. ein Vollzug der Überstellungsentscheidung vorübergehend nicht möglich sei. Mit Prozesserklärung vom 03.09.2020 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Bescheid vom 09.07.2019 aufgehoben, einer Erledigungserklärung des Klägers vorab zugestimmt und beantragt, dem Kläger die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, da der Kläger deutlich vor Beginn der Corona-bedingten Grenzschließungen habe ausreisen können. Mit Prozesserklärung vom 14.09.2019 hat der Bevollmächtigte des Klägers das Verfahren für erledigt erklärt und beantragt, der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
II.
Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, war das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen und nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens durch Beschluss zu entscheiden (§ 161 Abs. 2 VwGO).
Vorliegend entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des Verfahrens den Beteiligten jeweils zur Hälfte aufzuerlegen. Denn die Klage hatte im Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses, d.h. der Aufhebung des Bescheids durch die Beklagte (vgl. zur fortgesetzten Wirksamkeit der Unzulässigkeitsentscheidung bei Ablauf der Überstellungsfrist VG Karlsruhe, Urteil vom 18.08.2020 – A 9 K 4171/19 –, juris, Rn. 26), keine Aussicht auf Erfolg, soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten, zur Zuerkennung internationalen Schutzes und zur Feststellung von Abschiebungsverboten begehrte (unten III. 1. und 2.). Im Übrigen war die Klage zulässig (unten III. 3.) und spätestens mit Ablauf der Überstellungsfrist Ende April 2020 auch begründet (unten IV.), ohne dass die Beklagte hierauf mit einer sofortigen Abhilfeentscheidung reagiert hatte. Der Rechtsgedanke des § 156 VwGO, auf den die Beklagte ihren Kostenantrag in vergleichbaren Verfahren zum Teil gestützt hat, findet folglich keine Anwendung; vielmehr waren die Kosten des Verfahrens den Beteiligten jeweils zur Hälfte aufzuerlegen (unten V.).
III.
1. Die Klage war unzulässig, soweit der anwaltlich vertretene Kläger eine Verpflichtung der Beklagten begehrte, ihn als Asylberechtigte anzuerkennen, ihm die Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiären Schutz zuzuerkennen und das Vorliegen von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Nigeria festzustellen. Denn die Beklagte hat bislang nicht in der Sache über den Schutzantrag des Klägers entschieden, sondern ein Zuständigkeitsbestimmungsverfahren durchgeführt und den Asylantrag in diesem Rahmen für unzulässig erklärt, da die Republik Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Diese Trennung der Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung und zur materiellen Prüfung des Asylbegehrens darf nicht dadurch umgangen werden, dass das Verwaltungsgericht im Fall der Aufhebung der Zuständigkeitsentscheidung sogleich über die Begründetheit des Asylantrags entscheidet. Ein entsprechendes Verpflichtungsbegehren ist daher unstatthaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 – 1 C 32.14 –, BVerwGE 153, 162 = juris, Rn. 14; Urteil vom 01.07.2017 – 1 C 9.17 –, juris, Rn. 15).
2. Im Hinblick auf eine mögliche Feststellung von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Italien wäre die Klage jedenfalls in der hier bestehenden prozessualen Konstellation ebenfalls unzulässig gewesen, da neben der Aufhebung der Überstellungsentscheidung (vgl. hierzu unten IV.) kein Rechtsschutzinteresse an einer Feststellung von Abschiebungsverboten hinsichtlich des (nach Aufhebung der Überstellungsentscheidung nicht mehr in Betracht kommenden) Zielstaats besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 21). Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob der nicht näher konkretisierte Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten bei sachdienlicher Auslegung (§ 88 VwGO) auch als (hilfsweiser) Antrag auf Feststellung von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Italien verstanden werden kann (vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 14/2017 Anm. 1; VG Karlsruhe, Urteil vom 22.03.2018 – A 5 K 15921/17 –, juris, Rn. 17; a.A. BeckOK-MigR/Gräsel, Art. 27 Dublin III-VO, Rn. 4.1) und ein solcher Antrag aus materiell-rechtlichen Gründen jemals Erfolg haben kann, wenn nicht schon die Überstellungsentscheidung der Aufhebung unterliegt (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 [Jawo] –, juris, Rn. 91 ff. sowie Erwägungsgrund 5 der VO (EU) Nr. 604/2013 [Dublin-III-VO]).
3. a) Soweit der Kläger mit seiner innerhalb der Frist des § 74 Abs. 1 Hs. 2 AsylG erhobenen Klage die Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts (Ziffer 1 des Bescheides vom 09.07.2019), der Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Italien (Ziffer 2 des Bescheids), der Anordnung der Abschiebung nach Italien (Ziffer 3 des Bescheids) sowie der Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall einer Abschiebung (Ziffer 4 des Bescheids) begehrt, ist die Klage hingegen als Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 – 1 C 32.14 –, BVerwGE 153, 162 = juris, Rn. 14 zur Dublin II-VO sowie allgemein BVerwG, Urteil vom 01.06.2017 – 1 C 9.17 –, juris, Rn. 15). Auch gegen die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Italien ist in dieser Konstellation vorrangig Rechtsschutz im Wege der Anfechtungsklage zu gewähren (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 21).
b) Ziffer 1 und 3 des angegriffenen Bescheides haben sich auch nicht in Folge eines möglichen Ablaufs der Überstellungsfrist erledigt. Denn in der Rechtsprechung ist mittlerweile geklärt, dass die Entscheidung des Bundesamts, den Asylantrag wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit als unzulässig abzulehnen, in Folge des Ablaufs der in Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO geregelten Überstellungsfristen ihre Regelungswirkung weder verliert noch sich auf sonstige Weise erledigt (BVerwG, Urteil vom 27.04.2016 – 1 C 24.15 –, juris, Rn. 9; BayVGH, Beschluss vom 18.05.2020 – 3 ZB 20.50004, 3 ZB 20.50005 –, juris, Rn. 3; a.A. noch BayVGH, Beschluss vom 30.03.2015 – 21 ZB 15.50026 –, juris, Rn. 2 ff.). Ob die Überstellungsfrist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung verstrichen ist, ist daher im Rahmen einer Anfechtungsklage zu prüfen (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 18.08.2020 – A 9 K 4171/19 –, juris, Rn. 26).
IV.
Die im o.g. Umfang zulässige Klage war im Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses auch begründet. Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamts vom 09.07.2019 war rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten, da die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags des Klägers auf internationalen Schutz auf Beklagte übergegangen ist (sogleich 1.). In Folge der Rechtswidrigkeit der auf eine Zuständigkeit der Republik Italien gestützten Unzulässigkeitsentscheidung hätten auch die hieran anknüpfenden Folgeentscheidungen der Ziffern 2 – 4 des angegriffenen Bescheides im gerichtlichen Verfahren der Aufhebung unterlegen (unten 2.).
1. Die mit Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides ausgesprochene Unzulässigkeitsentscheidung war rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG im für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht mehr vorlagen. Denn im Zeitpunkt der Aufhebung des Bescheides war die Beklagte für die Prüfung des Antrags des Klägers auf Gewährung internationalen Schutzes zuständig geworden.
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a) Allerdings bestand ursprünglich eine Zuständigkeit der Republik Italien für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz, da die vorrangig zu prüfenden Zuständigkeitskriterien der Art. 8 – 12 Dublin III-VO nicht einschlägig sind und die Beklagte auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien festgestellt hatte, dass der Kläger im Jahr 2016 aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze der Republik Italien illegal überschritten hat. Die folglich nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO begründete Zuständigkeit der Republik Italien war am 02.08.2016, dem nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der ersten Asylantragstellung, auch noch nicht entfallen. Sie ist auch in der Folgezeit nicht gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO entfallen, da das Bundesamt innerhalb der durch Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO vorgegebenen Frist ein Wiederaufnahmegesuch an die Republik Italien gerichtet hat. Die Republik Italien war daher gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d) Dublin III-VO verpflichtet, den Kläger, dessen Asylantrag mit Entscheidung der Commissione Territoriale per il Reconoscimento della Protezione Internationale di Bergamo vom 08.02.2018 abgelehnt wurde, nach Maßgabe der Art. 23 – 25 sowie des Art. 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen.
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b) Die so begründete Zuständigkeit der Republik Italien für die Prüfung des Antrags des Klägers auf internationalen Schutz ist vorliegend jedoch nach Maßgabe des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Auf diesen Zuständigkeitsübergang nach Maßgabe der Dublin III-VO kann sich der Kläger auch berufen (vgl. EuGH, Urteil vom 07.06.2016 – C-63/15 [Ghezelbash] –).
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aa) Nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 lit. c) oder d) Dublin III-VO aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat. Diese Frist begann ursprünglich mit dem Ablauf der in Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO geregelten Antwortfrist, also mit Ende des 08.07.2019. Sie wurde jedoch mit Eingang des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der vorliegenden Klage beim Verwaltungsgericht, der gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO entfaltet, am 22.07.2019 unterbrochen und begann erst mit Ergehen der ablehnenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 25.10.2019 im Verfahren A 9 K 4826/19 erneut zu laufen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 17).
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bb) Die in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO geregelte Überstellungsfrist von sechs Monaten kann gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Eine Bestimmung, die in Fällen anderer allgemeiner oder einzelfallbezogener Überstellungshindernisse – wie etwa im Fall der im März 2020 vor dem Hintergrund der Ausbreitung der COVID-19-Epidemie unionsweit verhängten Reisebeschränkungen – eine Verlängerung ermöglichen würde, ist in den Bestimmungen der Dublin III-VO indes nicht vorgesehen; sie fallen daher in die Risikosphäre des ersuchenden Staates und sind nicht geeignet, einen Zuständigkeitsübergang zu verhindern oder für die Dauer des Überstellungshindernisses hinauszuzögern (vgl. Europäische Kommission, Communication from the Commission vom 16.04.2020 – C(2020) 2516 final – COVID-19: Guidance on the implementation of relevant EU provisions in the area of asylum and return procedures and on resettlement, S. 7 f.; VG Kassel, Beschluss vom 27.07.2020 – 1 L 3056/18.KS.A –, juris, Rn. 20; Pettersson, ZAR 2020, 230 [232]). Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf Fälle der höheren Gewalt oder andere, nicht vom Kläger zu vertretende Umstände widerspräche dem der Dublin III-VO zugrundeliegenden Beschleunigungsgedanken und kommt daher nicht in Betracht (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 33 ff.). Sie kann insbesondere nicht mit dem Effektivitätsgrundsatz oder der Gefahr einer faktischen Aussetzung des Dublin-Systems durch (rechtswidrige) Aufnahmeverweigerung einzelner Mitgliedsstaaten gerechtfertigt werden (vgl. hierzu aber VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – 1 K 1026/20 –, juris, Rn. 56). Denn insoweit sieht das geltende Unionsrecht in Form des Schlichtungsmechanismus nach Art. 37 Dublin III-VO und des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 259 AEUV Bewältigungsmechanismen auf Ebene der beteiligten Mitgliedsstaaten vor, ermächtigt aber nicht zur Selbsthilfe durch die Behörden einzelner Mitgliedsstaaten.
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cc) Die mithin geltende Sechsmonatsfrist wurde vorliegend auch nicht durch die dem Kläger mit Schreiben vom 30.03.2020 bekanntgegebene und der Republik Italien am 31.03.2020 mitgeteilte Entscheidung, die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO vorläufig auszusetzen, unterbrochen.
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aaa) In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist allerdings anerkannt, dass die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO durch die Behörde generell geeignet ist, die in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 19 sowie BVerwG, Urteil vom 09.08.2016 – 1 C 6.16 –, BVerwGE 156, 9 = juris, Rn. 18). Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit wird nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts im nationalen Recht durch § 80 Abs. 4 VwGO eröffnet (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = ZAR 2019, 198 [200] mit beachtlichen Einwänden Pfersich [202 f.]). Zwar nimmt Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO, der die Voraussetzungen eines Neubeginns der Überstellung abschließend regelt, lediglich auf die in Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO geregelten Fallgruppen Bezug. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Frage des Fristneubeginns nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO jedoch alleine entscheidend, dass ein Rechtsbehelf im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat und eine Überstellung daher nicht durchgeführt werden kann. Dementsprechend erweitert die in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO den Mitgliedstaaten eröffnete Möglichkeit, dass auch die zuständigen Behörden die Durchführung der Überstellungsentscheidung aussetzen können, lediglich die Fallgruppen, in denen einem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO zukommt, und stellt folglich kein aliud zu den in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO ausschließlich in Bezug genommenen Fällen des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO dar. Diese erweiternde Auslegung des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der – wenngleich in einer zu Art. 28 Abs. 3 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO ergangenen Entscheidung – ein entsprechendes Verständnis des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO mit dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit gerechtfertigt hat (vgl. EuGH, Urteil vom 13.09.2017 – C-60/16 [Khir Amayry] –, juris, Rn. 71).
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bbb) Allerdings beruht die oben zitierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs neben dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit zentral auf der Annahme, dass sich die betroffene Person im Fall einer behördlichen Aussetzung der Vollziehung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO in einer Situation befindet, die in jeder Hinsicht mit der Situation einer Person vergleichbar ist, deren Rechtsbehelf oder von ihr beantragter Überprüfung gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. EuGH, Urteil vom 13.09.2017 – C-60/16 [Khir Amayry] –, juris, Rn. 68). Diese Grundannahme trifft jedoch nicht in allen Anwendungsfällen, die § 80 Abs. 4 VwGO nach nationalem Recht eröffnet, zu. Insbesondere würde dem Bundesamt so die Möglichkeit eröffnet, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in Fällen selbst herbeizuführen, in denen die Dublin III-VO eine Verlängerung der Überstellungsfrist gerade nicht vorsieht. Zudem würde so die – durch Art. 27 Abs. 3 lit. a) - c) Dublin III-VO ausdrücklich eröffnete – Entscheidung des Bundesgesetzgebers unterlaufen, grundsätzlich dem Kläger die Entscheidung zu überlassen, ob er in Folge der Klageerhebung eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in Kauf nehmen will (vgl. zu diesem Aspekt BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 32). Das Unionsrecht setzt der behördlichen Aussetzung der Vollziehung daher – jedenfalls, soweit hieran eine Unterbrechung der Überstellungsfrist anknüpfen soll – engere Grenzen als das nationale Verwaltungsverfahrens- und Prozessrecht. Diese Beschränkungen ergeben sich daraus, dass die behördliche Aussetzungsentscheidung den Betroffenen nicht nur begünstigt, indem aufenthaltsbeendende Maßnahmen auf der Grundlage der Abschiebungsanordnung zunächst nicht mehr erfolgen können, sondern mittelbar auch belastet, weil sie die Überstellungsfrist unterbricht und so dazu führen kann, dass ein vom Antragsteller möglicherweise erstrebter Zuständigkeitsübergang nicht erfolgt. Weitere Grenzen folgen aus den Belangen des zuständigen Mitgliedstaats, die ebenfalls zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 25).
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ccc) Nicht abschließend geklärt sind indes die Voraussetzungen, unter denen eine behördliche Vollziehungsaussetzung auf Grundlage des § 80 Abs. 4 VwGO eine Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeiführen kann. Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt (BVerwG, a.a.O., Rn. 27 f.):
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Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist, dass der Antragsteller einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat (Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO). Weitere Grenzen folgen aus dem von Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO angestrebten Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits dem Ziel zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration) (BVerwG, Urteil vom 27. April 2016 - 1 C 24.15 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 82 Rn. 13). Der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist soll verhindern, dass Asylanträge monate- oder gar jahrelang nicht geprüft werden, zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind (EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 - Rn. 43 ff.) oder der Beschleunigungsgedanke zulasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird (vgl. § 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO).
19 
Eine behördliche Aussetzungsentscheidung darf hiernach auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen (so bereits BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 - 1 C 6.16 - BVerwGE 156, 9 Rn. 18); dann haben die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes (s.a. Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ) erlaubt eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind. Das vorliegende Verfahren gibt dabei keinen Anlass zur abschließenden Klärung dieser Willkür- oder Missbrauchsschwelle; sie wird aber dann überschritten sein, wenn bei klarer Rechtslage und offenkundig eröffneter Überstellungsmöglichkeit die behördliche Aussetzungsentscheidung allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte.
20 
ddd) Hieraus folgt nach Auffassung des Berichterstatters zunächst, dass die bloße Anhängigkeit eines Rechtsbehelfs, dessen aufschiebende Wirkung durch behördliche Vollziehungsaussetzung herbeigeführt werden könnte, keine hinreichende Bedingung für eine Unterbrechung der Überstellungsfrist darstellt. Ebenso wenig genügt es aber, dass zum Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung ein objektiver Anlass dafür bestand, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung zu hegen [vgl. hierzu allerdings unten IV. 1. b) cc) ggg)]. Zwar darf – im Sinne eines behördlichen Verfahrensermessens – in diesen Fällen eine behördliche Aussetzungsentscheidung ergehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 27); eine Fristunterbrechung folgt hieraus jedoch nur dann, wenn bei willkürfreier Betrachtung objektiv bestehende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung auch tatsächlich handlungsleitend für die behördliche Aussetzungsentscheidung sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 27, 34: „aus sachlich vertretbaren Erwägungen“, „zum Anlass nimmt“). Dies entspricht auch dem Verständnis der vorgenannten Maßstäbe in weiten Teilen der Rechtsprechung (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 9 ff.; ähnlich VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 21 f. m.w.N.). Denn Art. 29 Abs. 2 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 und Abs. 4 Dublin III-VO sieht eine neuerliche Unterbrechung der Überstellungsfrist nur vor, um die praktische Wirksamkeit des nach Art. 27 Dublin III-VO zur Verfügung zu stellenden Rechtsmittels zu gewährleisten. Unter diesen Vorzeichen entspricht regelmäßig auch nur eine auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerichtete Aussetzungsentscheidung dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung des § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO (§ 40 VwVfG, § 114 Satz 1 VwGO). Ob anderes dann gelten muss, wenn der Betroffene sich selbst rechtsmissbräuchlich verhält (so – in einem obiter dictum – möglicherweise VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2019 – A 4 S 749/19 –, juris, Rn. 123 f.; a.A. mit beachtlichen Argumenten VG Regensburg, Beschluss vom 06.08.2020 – RN 14 E 20.50264 –, juris, Rn. 34 f.) bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedenfalls dient Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht dem Zweck, dem ersuchenden Staat unilateral eine Möglichkeit zur Verschiebung der grundlegenden Risikoverteilung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten und dem Betroffenen zu eröffnen.
21 
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass sich eine solche finale Verknüpfung aus dem Wortlaut jedenfalls der englischen und französischen Sprachfassung nicht ergebe und auch der Wortlaut der deutschen Sprachfassung („um … zu“) lediglich einen zeitlichen Gleichlauf zwischen Rechtsbehelf und Aussetzungsentscheidung impliziere (so aber VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – 1 K 1026/20 –, juris, Rn. 48). Denn die Notwendigkeit einer finalen Verknüpfung im o.g. Sinne ergibt sich nicht in erster Linie aus dem Wortlaut der – in der Tat nicht eindeutigen – gesetzlichen Bestimmung, sondern aus deren normativer Einbettung in den Kontext des Art. 27 Abs. 1 – 3 Dublin III-VO, der ersichtlich auf die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsmittels abzielt, und dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, der eine Verlängerung der Überstellungsfrist nur in den dort abschließend benannten Fällen vorsieht. Sie ergibt sich letztlich auch schon aus der Beschränkung, dass eine Aussetzung der Vollziehung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO – anders als nach nationalem Verfahrensrecht – nur dann in Betracht kommt, wenn der Betroffene einen Rechtsbehelf im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eingelegt hat (der im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung noch anhängig ist). Denn auch mit dem Recht auf ein effektives Rechtsmittel (Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO i.V.m. Art. 47 GRC) wäre es nicht vereinbar, dem Mitgliedstaat eine Möglichkeit zur unilateralen Verlängerung bzw. Unterbrechung der Überstellungsfrist aus nicht rechtsschutzbezogenen und nicht in der Verantwortungssphäre des Betroffenen liegenden Gründen gerade (nur) dann einzuräumen, wenn der Betroffene Rechtsschutz gegen die Überstellungsentscheidung sucht (vgl. zu diesem Wertungswiderspruch auch Deutscher Bundestag (PE 6: Fachbereich Europa), Ausarbeitung zur Aussetzung von Überstellungsfristen nach der Dublin-III-Verordnung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vom 02.06.2020, PE 6 – 3000 – 031/20, S. 14 f.).
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eee) Im Hinblick auf die Frage nach einer Unterbrechung der Überstellungsfrist durch die von der Beklagten getroffene Aussetzungsentscheidung vom 30.03.2020 ist daher zunächst zu prüfen, ob diese Aussetzungsentscheidung der Verwirklichung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf diente (so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 15, 21 f. sowie – stellvertretend für viele –VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 24; VG Würzburg, Urteil vom 11.08.2020 – W 8 K 19.50795 –, juris, Rn. 32 ff. m.w.N.). Eine bloße Willkürkontrolle entspräche insoweit nicht den unionsrechtlichen Vorgaben, da nach den gegenüber § 80 Abs. 4 VwGO enger gefassten Vorgaben des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO nicht jeder sachliche Aussetzungsgrund genügt, um eine Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeizuführen (Missbrauchskontrolle). Die vom Bundesverwaltungsgericht weiterhin geforderte Willkürkontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 27) bezieht sich demgegenüber nur auf die logisch nachgelagerte Frage, ob das Bundesamt in sachlich vertretbarer Weise annehmen konnte, dass im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung bestanden, die eine Aussetzung der Vollziehung bis zu einer gerichtlichen Hauptsacheentscheidung rechtfertigen können (a.A. im Hinblick auf eine bloße Willkürkontrolle z.B. VG Cottbus, Beschluss vom 04.08.2020 – 5 L 327/20.A –, juris, Rn. 12; VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2020 – 28 L 203/20 A –, juris, Rn. 17 ff.; VG Minden, Beschluss vom 06.07.2020 – 12 L 485/20.A –, juris, Rn. 25).
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fff) Unter Anwendung dieser Maßstäbe war die behördliche Aussetzungsentscheidung vom 30.03.2020 nicht geeignet, eine erneute Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeizuführen, weil sie nicht der Ermöglichung eines wirksamen Rechtsbehelfs diente. Dies ergibt sich schon unmittelbar aus dem – insoweit mit der individuellen Aussetzungsentscheidung vom 30.03.2020 identischen – Schreiben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe vom 18.03.2020, in dem die Beklagte mitgeteilt hatte, dass angesichts der Corona-Krise in Europa inzwischen die meisten Grenzen geschlossen und Reiseverbote ausgesprochen worden seien, so dass „vor diesem Hintergrund derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten“ seien. Mit der Bezugnahme auf die tatsächliche Unmöglichkeit einer Überstellung hatte die Beklagte dabei nicht auf Umstände Bezug genommen, die – wie etwa eine epidemiebedingte individuelle Gefährdung der zu Überstellenden oder eine kurzfristige Verschlechterung der Aufnahmebedingungen – die Zuständigkeit des jeweiligen Zielstaates in Frage stellen, sondern lediglich die Durchführbarkeit der Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist betreffen [vgl. hierzu auch unten IV. 1. b) cc) ggg)]. Auch aus dem zweiten Absatz des Schreibens, der sich mit den vermeintlichen Rechtsfolgen einer solchen Aussetzungsentscheidung befasst, wird deutlich, dass die Aussetzungsentscheidung nicht der Ermöglichung eines wirksamen Rechtsbehelfs, sondern – im o.g. Sinne rechtsmissbräuchlich bzw. nicht dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechend – der Herbeiführung einer Unterbrechung der Überstellungsfrist diente. Soweit der Erwähnung der „Vertretbarkeit“ entsprechender Überstellungen demgegenüber eine eigenständige Bedeutung zukommen sollte, beziehen sich entsprechende Überlegungen ersichtlich nicht auf die Vereinbarkeit einer Überstellung mit den in der Rechtsprechung entwickelten – tendenziell strengen – Maßstäben (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2019 – A 4 S 749/19 –, juris, Rn. 38 ff.), sondern auf die politische Vertretbarkeit einer Überstellung in Ansehung einer sich ausbreitenden globalen Pandemie.
24 
Bekräftigt wird dieser Eindruck einer ausschließlich auf eine Unterbrechung der Überstellungsfrist abzielenden Aussetzungsentscheidung durch den Umstand, dass die Beklagte entsprechende Aussetzungsentscheidung weder spezifisch im Hinblick auf die Überstellung des Klägers noch im Hinblick auf sämtliche vor Gericht anhängigen Überstellungsentscheidung nach Italien, sondern – soweit ersichtlich – im Hinblick auf alle in Betracht kommenden Dublin-Staaten unabhängig davon getroffen hat, ob gegen die jeweiligen Überstellungsverfahren noch Rechtsbehelfe anhängig waren (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Amtsberg, Brantner, Polat, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 23.06.2020, BT-Drs. 19/20299, S. 3 f.).
25 
Schon die Außerachtlassung der in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fest etablierten Mindestvoraussetzung der Anhängigkeit eines Rechtsbehelfs, im Hinblick auf den die Aussetzung der Vollziehung angeordnet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn.26), macht dabei deutlich, dass die insoweit einheitliche Entscheidungspraxis des Bundesamts nicht auf die Ermöglichung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, sondern alleine auf eine unilaterale Verlängerung der Überstellungsfrist abzielte (so auch VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 22 f.). Die Einheitlichkeit der Aussetzungspraxis sowohl im Hinblick auf stark von der Corona-Pandemie betroffene Staaten – wie Italien und Spanien – einerseits und im maßgeblichen Zeitpunkt kaum betroffene Staaten – wie Bulgarien, Griechenland oder Ungarn – andererseits (BT-Drs. 19/20299, S. 4) legt ebenfalls den Schluss nahe, dass die Aussetzungsentscheidungen nicht auf eine Ermöglichung der Überprüfung der Aufnahmebedingungen gerichtet waren, sondern alleine eine Reaktion auf die tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung darstellte. Dass das Bundesamt im Zeitpunkt der Aussetzung Zweifel an der Zumutbarkeit von Überstellungen in sämtliche Dublin-Staaten gehegt oder die Auswirkungen der Pandemie auf die jeweiligen Aufnahmebedingungen ernstlich geprüft hätte, hat das Bundesamt schließlich ebenfalls nicht behauptet. Hiergegen spricht zudem, dass entsprechende Aussetzungsentscheidungen im Hinblick auf Abschiebungsandrohungen in Fällen der Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG für die entsprechenden Zielstaaten nicht bekannt geworden sind (vgl. Pettersson, ZAR 2020, 230 [232 f.]).
26 
Schließlich entfaltet auch der Umstand Indizwirkung, dass das Bundesamt die Aussetzung der Vollziehung nicht bis zur Rechtskraft einer etwaigen Hauptsacheentscheidung, sondern lediglich auf Widerruf erklärt hat. Zwar war das Bundesamt nicht von Rechts wegen verpflichtet, eine entsprechende Befristung ausdrücklich auszusprechen (VG Cottbus, Beschluss vom 04.08.2020 – 5 L 327/20.A –, juris, Rn. 14 m.w.N.; a.A. insoweit OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 28 f.; VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 26), da sich diese unmittelbar aus § 80b Abs. 1 VwGO ergibt; der ausdrückliche Hinweis auf die Möglichkeit eines jederzeitigen Widerrufs, die alleine mit dem Hinweis auf die vorübergehende Unmöglichkeit der Überstellung begründet wurde, spricht jedoch gegen die Annahme, dass die Aussetzung zum Zweck der Ermöglichung eines wirksamen Hauptsacherechtsschutzes erfolgt sein könnte (so auch VG Kassel, Beschluss vom 27.07.2020 – 1 L 3056/18.KS.A –, juris, Rn. 19).
27 
Abgerundet werden diese Gesamtumstände schließlich durch den Umstand, dass das Bundesamt die im Zeitraum von März bis Juni 2020 getroffenen Aussetzungsentscheidungen mittlerweile in einer Vielzahl von Verfahren widerrufen, hierbei maßgeblich auf die weitgehende Aufhebung der Reisebeschränkungen Bezug genommen und diese als Grund für die Aussetzungserklärung benannt hat. Zwar verweisen diese Erklärungen parallel auch darauf, dass die Ausbreitung des Virus habe eingedämmt werden können; Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesamt auch die Auswirkungen der Pandemie auf die Aufnahmebedingungen, die die Kammer bis zuletzt zu Zweifeln an der Zulässigkeit einer Überstellung nach Italien veranlasst haben (vgl. exemplarisch VG Karlsruhe, Beschluss vom 03.08.2020 – A 9 K 779/20 –, juris, Rn. 15 ff.), in den Blick genommen und als geklärt erachtet haben könnte, sind indes nicht ersichtlich. Insofern deutet auch die Aufhebung der Aussetzung vor Ergehen einer Hauptsacheentscheidung in diesen Verfahren darauf hin, dass die ursprüngliche Aussetzung nicht der Ermöglichung wirksamen Rechtsschutzes gedient hat. Hierauf deutete schließlich auch schon der Hinweis auf die jederzeitige Widerruflichkeit der Erklärung in der ursprünglichen Aussetzungsentscheidung hin.
28 
Schließlich kann eine Unterbrechung der Überstellungsfrist vorliegend auch nicht mit dem Einwand begründet werden, dass die Aussetzung der Vollziehung der unmittelbaren Gewährung effektiven Rechtsschutzes durch die zuständige Behörde selbst gedient habe (so aber z.B. VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – A 1 K 1026/20 –, Rn. 48 ff.; VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2020 – 28 L 203/20 A –, juris, Rn. 22). Denn unabhängig davon, dass Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO auf ein Rechtsmittel bzw. eine Überprüfung durch eine organisatorisch verselbstständigte, gerichtsähnlich organisierte und insbesondere unabhängige Einrichtung Bezug nimmt (deutsche Sprachfassung: „wirksames Rechtsmittel […] in Form einer […] Überprüfung durch ein Gericht“; englische Sprachfassung: „an effective remedy, in the form of an appeal or a review […] before a court or tribunal“; französische Sprachfassung: „de recours effectif, sous la forme d’un recours contre la décision de transfert ou d’une révision […] de cette décision devant une juridiction.“), sehen Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO jedenfalls keine Fristunterbrechung für den Fall einer rein behördeninternen Überprüfung vor (vgl. VG Osnabrück, Beschluss vom 08.07.2020 – 5 B 151/20 –, juris, Rn. 11). Überdies sind vorliegend jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die vorliegende Aussetzungsentscheidung einem solchen Zweck gedient haben könnte. Insbesondere lag vorliegend kein Fall vor, in dem etwaige Überstellungshindernisse etwa durch Einholung einer individuellen Zusicherung kurzfristig hätten ausgeräumt werden können (vgl. etwa BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17.09.2014 – 2 BvR 1795/14 –, juris, Rn. 10, 13 f.) oder die Aussetzung der Wahrung der Effektivität einer Verfassungsbeschwerde diente (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 31). Vielmehr stand die Unmöglichkeit der Überstellung für einen unübersehbaren Zeitraum im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung fest, so dass für eine weitere inhaltliche Prüfung durch das Bundesamt schon gar kein Raum verblieben wäre. Vielmehr stand auch insoweit – wie ausgeführt – die bloße Unterbrechung der Überstellungsfrist im Vordergrund. Ein Erst-Recht-Schluss, der eine fristunterbrechende Aussetzungsentscheidung auch in Fällen ermöglicht, in denen die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung feststeht (so in der Sache VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – A 1 K 1026/20 –, juris, Rn. 48), wäre mit der rechtsschutzsichernden Funktion der Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO nicht vereinbar und liegt weit außerhalb der Konstellationen, in denen die obergerichtliche Rechtsprechung bislang eine Aussetzungsentscheidung mit fristunterbrechender Wirkung angenommen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01. 2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 31; Urteil vom 09.08.2016 – 1 C 6.16 –, BVerwGE 156, 9 = juris, Rn. 18).
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ggg) Im Übrigen wäre selbst eine Aussetzung der Vollziehbarkeit mit dem Ziel, eine gerichtliche Klärung hinsichtlich der tatsächlichen Durchführbarkeit der Überstellung herbeizuführen, nicht geeignet gewesen, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeizuführen. Denn die Möglichkeit der Überstellung gehört – anders als nach der nationalen Ausgestaltung des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG – nach Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO nicht zu den unionsrechtlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Überstellungsentscheidung (überzeugend VG Düsseldorf, Urteil vom 13.02.2019 – 15 K 15396/17.A –, juris, Rn. 29). Vielmehr geht der Unionsgesetzgeber ausweislich der in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO getroffenen Regelung davon aus, dass sich eine praktische Überstellungsmöglichkeit in der Regel innerhalb einer Frist von sechs Monaten ergeben wird (vgl. Deutscher Bundestag (PE 6: Fachbereich Europa), PE 6 – 3000 – 031/20, S. 15). Dementsprechend handelt es sich auch bei einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, die nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG lediglich mit einer Abschiebungsandrohung verbunden wird, um eine Überstellungsentscheidung im Sinne des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO (i.V.m. Art. 27 Abs. 3 lit. a) Dublin III-VO). Die tatsächliche Möglichkeit der Überstellung gehört daher zu den Überstellungsmodalitäten, zu deren Regelung dem jeweiligen Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO eine Regelfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht (vgl. EuGH, Urteil vom 29.01.2009 – C-19/08 [Petrosian] –, juris, Rn. 40 ff.; BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 17, 26). Die behördliche Aussetzung der Vollziehung im Hinblick auf Zweifel an der Möglichkeit der tatsächlichen Durchführung der Überstellung ist daher aus Sicht des Unionsrechts strukturell ungeeignet, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist zu bewirken (ähnlich OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 17 f.; VG Düsseldorf, Urteil vom 13.02.2019 – 15 K 15396/17.A –, juris, Rn. 40; a.A. VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2020 – 28 L 203/20 A –, juris, Rn. 14). Von der Möglichkeit, die nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG sofort vollziehbare Abschiebungsanordnung durch eine Abschiebungsandrohung nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG zu ersetzen, hat das Bundesamt vorliegend indes bewusst keinen Gebrauch gemacht.
30 
hhh) Vor diesem Hintergrund verbietet sich auch eine Umdeutung der Abschiebungsanordnung vom 09.07.2019 in Verbindung mit der Aussetzungsentscheidung vom 30.03.2020 in eine Abschiebungsandrohung nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG. Denn eine entsprechende Umdeutung nach Maßgabe des § 47 Abs. 1 VwVfG in Form eines Akts der richterlichen Rechtserkenntnis (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.01.2017 – 8 C 1.16 –, BVerwGE 157, 187 = juris, Rn. 17) widerspräche der erkennbaren Absicht des Bundesamts, das ausweislich der Begründung der Aussetzungsentscheidung bewusst davon abgesehen hat, die Abschiebungsanordnung aufzuheben und durch eine Abschiebungsandrohung zu ersetzen. Es widerspräche zudem den bei Anwendung und Auslegung der Art. 27 ff. Dublin III-VO maßgeblich zu berücksichtigenden Interessen der Republik Italien als aufnehmender Mitgliedsstaat, Rechtssicherheit hinsichtlich der zeitlichen Grenzen seiner Verpflichtung zu erhalten.
31 
c) Da die gesetzliche Überstellungsfrist in Folge der Aussetzungsentscheidung vom 30.03.2020 mithin nicht erneut unterbrochen ist, ist sie im April 2020 verstrichen. Die Republik Italien ist folglich gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme des Klägers verpflichtet, so dass die Zuständigkeit auf die Beklagte als ersuchender Mitgliedsstaat übergegangen ist. Die Voraussetzungen einer Unzulässigkeitsentscheidung auf Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG liegen im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung daher nicht mehr vor, so dass die hierauf gestützte Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts aufzuheben ist.
32 
2. Mit der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung unterliegt auch die mit Ziffer 2 des angegriffenen Bescheides ausgesprochene Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Italien der Aufhebung, weil sie verfrüht ergangen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 21). Auch die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung (Ziffer 3 des angegriffenen Bescheids) teilt das rechtliche Schicksal der Unzulässigkeitsentscheidung, weil eine Zuständigkeit der Republik Italien nicht mehr gegeben ist. Mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung entfällt zugleich die Grundlage für die Anordnung eines auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall der Abschiebung (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).
V.
33 
Da die Klage im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses mithin zum Teil unzulässig bzw. unbegründet, zum Teil aber begründet war, orientiert sich die nach § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu treffende Kostenentscheidung an § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO. Der Rechtsgedanke des § 156 VwGO findet keine Anwendung, da der Aufhebungsanspruch des Klägers jedenfalls seit April 2020 besteht und die Beklagte diesen mit Aufhebung des Bescheids im September 2020 folglich nicht „sofort“ anerkannt hat. Dass der Kläger sich bis zum Ablauf der Überstellungsfrist freiwillig nach Italien hätte überstellen lassen können, rechtfertigt keine andere Entscheidung, da hierfür jedenfalls seit April 2020 kein Anlass mehr bestand.
34 
Da das Verwaltungsgericht den Anfechtungs- und Verpflichtungsanträgen des Klägers mangels abweichender Anhaltspunkte einen gleichen Stellenwert zumisst, waren die Kosten des Verfahrens den Beteiligten jeweils zur Hälfte aufzuerlegen.
35 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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