Urteil vom Verwaltungsgericht Koblenz (4. Kammer) - 4 K 694/08.KO

Tenor

Der Vorausleistungsbescheid vom 15. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Mai 2008 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Erschließungsbeitrags-Vorausleistungsbescheids.

2

Die Klägerin war bis zum 18. Januar 2008 Eigentümerin des bebauten Grundstücks im Ortsteil G., Gemeinde W., Flur 14, Parzelle 3. Das 1.576 qm große Grundstück grenzt an den L.-Weg, die K.-Straße (Ortsdurchfahrt der K ...) und an den A.-Weg.

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Mit Schreiben vom 25. September 2006 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass sie ihre Tochter M. M. und ihren Schwiegersohn U. M. zur Vertretung in der Erschließungsangelegenheit G. bevollmächtige. Gleichzeitig bat sie darum, künftige Schriftsätze an M. und U. M. zu senden.

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In einer Anliegerversammlung vom 9. Oktober 2006 wurden die Anwohner des L.-Wegs zu den beabsichtigten Straßenbaumaßnahmen angehört.

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Am 6. Februar 2007 beschloss der Gemeinderat das Bauprogramm für die niveaugleiche Herstellung des L.-Wegs von der K.-Straße bis zur Kreuzung mit den Wirtschaftswegen. Gleichzeitig beschloss er die Erhebung von Vorausleistungen in Höhe des voraussichtlichen Erschließungsbeitrags.

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Mit einem ersten Bescheid vom 15. August 2007 zog die Beklagte den Schwiegersohn der Klägerin, U. M., zu Erschließungsbeitrags-Vorausleistungen in Höhe von 7.610,46 € heran. Unter dem 22. August 2007 hob sie diesen Bescheid wegen überhöhter Gesamtkosten auf und fügte einen zweiten Vorausleistungsbescheid vom 21. August 2007 in Höhe von 6.116,79 € bei. Auch dieser Bescheid war an den Schwiegersohn gerichtet, der hiergegen Widerspruch einlegte. Die Beklagte half dem Widerspruch mit Bescheid vom 15. November 2007 ab, weil sie inzwischen festgestellt hatte, dass der Schwiegersohn der falsche Adressat ist. Im Abhilfebescheid heißt es ferner, dass ein neuer Bescheid gegen Frau G. H. erlassen werde und dass mit dem Widerspruchsführer abgesprochen sei, den von ihm bereits gezahlten Betrag mit der Forderung gegen die Klägerin zu verrechnen.

7

Mit einem weiteren Bescheid vom 15. November 2007 zog die Beklagte sodann die Klägerin zu Erschließungsbeitrags-Vorausleistungen von 6.116,79 € heran. Darin hieß es, der L.-Weg werde derzeit hergestellt. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 26. November 2007 Widerspruch ein. Sie trug im Wesentlichen vor, der L.-Weg sei eine vorhandene Innerortsstraße gewesen und die angrenzenden Grundstücke hätten Baulandqualität gehabt. Die Bauklasse V sei nur wegen des illegalen Schleichverkehrs gewählt worden. Außerdem wies sei darauf hin, dass sie das Grundstück zum 1. Januar 2008 auf ihr Tochter M. M. übertragen habe.

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Der Eigentumsübergang wurde am 18. Januar 2008 im Grundbuch eingetragen.

9

Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2008 wies der Kreisrechtsausschuss des Landkreises Neuwied den Widerspruch der Klägerin zurück. In den Gründen heißt es, die Klägerin sei Eigentümerin der Parzelle 98/1. Sie sei mit Bescheid vom 21. August 2007 zu Vorausleistungen veranlagt worden. Ferner wird im Einzelnen dargestellt, weshalb der L.-Weg nach Auffassung des Kreisrechtsausschusses keine vorhandene Erschließungsanlage sei. Die Kosten seien mit einer Ausnahme allesamt erforderlich und angemessen. Lediglich die Beweissicherungskosten müssten bei der endgültigen Abrechnung herausgerechnet werden. Der Widerspruchsbescheid wurde am 23. Mai 2008 zugestellt.

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Am 16. Juni 2008 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie verweist erneut darauf, dass sie nicht mehr Grundstückseigentümerin ist und wiederholt ihre Auffassung, wonach der L.-Weg eine vorhandene Straße nach preußischem Recht sei und schon vor dem 29. Juni 1961 dem inneren Verkehr und dem Anbau gedient habe. Unabhängig von alledem fehle es auch an einem ordnungsgemäßen Abwägungsbeschluss nach § 125 Abs. 2 BauGB, denn die entgegenstehenden privaten Belange der Anlieger seien überhaupt nicht abgewogen worden. Hinsichtlich der Höhe rügt die Klägerin verschiedene Positionen.

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Die Klägerin beantragt,

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den Erschließungsbeitrags-Vorausleistungsbescheid vom 15. November 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Mai 2008 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie trägt vor, der Eigentumswechsel sei im Hinblick auf § 133 Abs. 3 Satz 2 BauGB unbeachtlich. Der L.-Weg sei keine vorhandene Erschließungsanlage. Vor 1961 habe es nicht nur an einer generellen Anbaubestimmung, sondern auch an den Herstellungsmerkmalen der Satzung vom 22. November 1957 gefehlt. Auf die planungsrechtlichen Voraussetzungen komme es bei Vorausleistungen nicht an. Im Übrigen seien die privaten Belange sehr wohl gesehen worden, denn es habe eine Anliegerversammlung gegeben. Die Beweissicherungskosten seien zwar nicht beitragsfähig, aber sie würden von den bis jetzt noch nicht berücksichtigten Angleichungskosten kompensiert. Ferner nimmt die Beklagte zu den übrigen Kosten Stellung.

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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift und auf die Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Vorausleistungsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

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Die Rechtswidrigkeit folgt jedoch nicht daraus, dass der streitgegenständliche Vorausleistungsbescheid trotz vorgelegter Vollmacht an die Klägerin persönlich und nicht an ihre damaligen Bevollmächtigen gerichtet wurde. Nach § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 1 KAG und § 122 Abs. 1 Satz 3 AO steht es im Ermessen der Beklagten, an wen sie in solchen Fällen den Bescheid richtet. Es lag auch nicht der Sonderfall vor, dass die Beklagte zunächst die Bevollmächtigten und dann ohne erkennbaren Grund die Klägerin herangezogen hätte (vgl. hierzu BFH, Urteil vom 22. Juli 1987 – I R 180/84 -). Denn die Bescheide vom 15. und 21. August 2007 waren nicht an die beiden Empfangsbevollmächtigten als Vertreter der Klägerin gerichtet, sondern nur an den Schwiegersohn als vermeintlichen Vorausleistungspflichtigen.

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Die Rechtswidrigkeit folgt auch nicht daraus, dass der Gemeinderat keinen Beschluss zur Herstellungs- oder Genehmigungsalternative nach § 133 Abs. 3 Satz 1 BauGB gefasst hat. Denn im Zeitpunkt des Ratsbeschlusses waren alle Grundstücke mit Ausnahme der Parzelle 7/1 bebaut und die einzelnen Baugenehmigungen lagen teilweise so lange zurück, dass der erforderliche zeitliche Zusammenhang zwischen Baugenehmigung und Vorausleistung nicht mehr gewahrt war (vgl. Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeitragsrecht, 7. Aufl., § 21, Rdn. 24 mit weiteren Nachweisen). Deshalb spricht hier alles dafür, dass das Auswahlermessen des Gemeinderats zugunsten der Herstellungsalternative beschränkt war.

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Der Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids ist jedoch schon deshalb rechtswidrig, weil die Klägerin im maßgebenden Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids nicht mehr Grundstückseigentümerin war.

21

Nach § 133 Abs. 3 Satz 1 BauGB in Verbindung mit § 10 EBS vom 23. März 1988 in der Fassung der 2. Änderungssatzung vom 11. August 2000 können unter den dort genannten Voraussetzungen Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag erhoben werden. Weder das Gesetz noch die Satzung bestimmen ausdrücklich, wer vorausleistungspflichtig ist. Es bestehen aber keine Bedenken dagegen, den Vorausleistungsbescheid in entsprechender Anwendung des § 134 Abs. 1 BauGB an denjenigen zu richten, der im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids Grundstückseigentümer ist. Dies ist umso eher gerechtfertigt, als die Vorausleistung ihrem Wesen nach eine vorweggenommene (Abschlags-)Zahlung „auf den Erschließungsbeitrag“ ist (Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 7. Aufl., § 21 Rdn. 6). Hinzu kommt, dass die Vorausleistungspflicht - anders als die endgültige Beitragspflicht - erst durch den entsprechenden Abgabenbescheid begründet wird, so dass auch insoweit die Eigentümerstellung im Zeitpunkt des (konstitutiven) Vorausleistungsbescheids maßgebend ist.

22

Schließt sich jedoch an den Vorausleistungsbescheid ein Widerspruchsverfahren an, wird der maßgebende Zeitpunkt - anders als bei einem endgültigen Beitragsbescheid, bei dem der Zeitpunkt der Beitragsentstehung gesetzlich festgelegt ist - auf den Erlass des Widerspruchsbescheids verschoben. Der Vorausleistungsbescheid wird durch den Widerspruchsbescheid auch dann „gestaltet“, wenn der Widerspruch lediglich zurückgewiesen wird. Denn ein zurückweisender Widerspruchsbescheid bekräftigt den verfügenden Teil des Vorausleistungsbescheids und bezieht ihn auf den Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids, indem er feststellt, dass die Forderung trotz des Zeitablaufs und etwa eingetretener Umstände fort gilt oder dass sie jedenfalls ab jetzt erstmals gilt (BVerwG, Beschluss vom 30. April 1996, NVwZ-RR 1997, 132).

23

Da dem so ist, hatte das OVG Rheinland-Pfalz entschieden, dass die Gemeinde einen Vorausleistungsbescheid bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids „unter Kontrolle halten“ muss (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. Februar 1981 - 6 A 56/78 -).

24

Im maßgebenden Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids war der Vorausleistungsbescheid - ungeachtet anderer Gründe - jedenfalls insoweit rechtswidrig (geworden), als jetzt in der Person der Klägerin die endgültige Beitragspflicht nicht mehr entstehen konnte. Denn die Klägerin hatte das Grundstück am 18. Januar 2008 auf ihre Tochter grundbuchmäßig übertragen. Deshalb hätte der Kreisrechtsausschuss den Vorausleistungsbescheid aufheben müssen. Indem er dies nicht tat, bekräftigte er den insoweit rechtswidrig gewordenen Vorausleistungsbescheid.

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Dem steht nicht entgegen, dass eine Vorausleistung gemäß § 133 Abs. 3 Satz 2 BauGB mit der endgültigen Beitragsschuld zu verrechnen ist, „auch wenn der Vorausleistende nicht beitragspflichtig ist“. Hieraus lässt sich nicht ableiten, dass ein Eigentumswechsel zwischen Vorausleistungsbescheid und Widerspruchsbescheid seit Einführung dieser Vorschrift unbeachtlich sei. Die kraft Gesetzes angeordnete Verrechnung, d.h. die unabhängig von § 387 BGB stattfindende „ipso-facto-Tilgung“ des endgültigen Beitrags in Höhe der erbrachten Vorausleistung, gehört zum so genannten Erhebungsverfahren. Sie berührt nicht das Festsetzungsverfahren. Folglich kann die Verrechnung auch nicht zur Heilung eines fehlerhaften Festsetzungsbescheids führen. Hinzu kommt, dass die genannte Vorschrift die Reaktion des Gesetzgebers auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. September 1981 – 8 C 1.81 – war, wonach das alte Bundesbaugesetz der Gemeinde keine Möglichkeit eingeräumt hatte, die vom Veräußerer erbrachte Vorausleistung zu behalten und mit der späteren Beitragspflicht des Erwerbers zu verrechnen (vgl. BT-Drucks. 10/4630 S. 116). Außerdem betraf jene Rechtsprechung einen unanfechtbar gewordenen Vorausleistungsbescheid, der seine Deckungskraft zum Behaltendürfen der Vorausleistung verlor, wenn sich herausstellte, dass die endgültige Beitragspflicht – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr entstehen konnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Januar 1997 – 8 C 42.95 – und Driehaus, a.a.O., § 21 Rdn. 41 ff).). Deshalb setzt auch § 133 Abs. 3 Satz 2 BauGB begriffsnotwendig einen bestandskräftigen Vorausleistungsbescheid voraus. Denn eine Tilgung durch Verrechnung ist nur denkbar, wenn die Vorausleistung, die verrechnet werden soll, unanfechtbar feststeht. Dies alles trifft auf angefochtene Vorausleistungsbescheide nicht zu. Insoweit kann die Gemeinde nicht schutzwürdig darauf vertrauen, dass sie die Vorausleistung behalten dürfe, denn sie weiß, dass die Zahlung zunächst nur deshalb erfolgte, weil der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat. Sie muss deshalb damit rechnen, dass der Bescheid später aufgehoben wird und die erbrachte Leistung zu erstatten ist. Im Übrigen kann die Gemeinde entweder einen neuen Vorausleistungsbescheid oder einen endgültigen Beitragsbescheid gegen den Erwerber erlassen (vgl. Bay VGH, Urteil vom 23. Juni 1994, NVwZ-RR 1995, 218, 220).

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Selbst wenn § 133 Abs. 3 Satz 2 BauGB - entgegen der hier vertretenen Auffassung – die Kassation eines rechtswidrig gewordenen Vorausleistungsbescheids wegen eines Eigentumswechsels während des Widerspruchsverfahrens verhindern könnte, dann allenfalls im Verhältnis zwischen dem Vorausleistenden und dem Grundstückserwerber. Vorausleistender war hier der Schwiegersohn der Klägerin. Grundstückserwerberin ist ihre Tochter. Da die Klägerin nichts geleistet hat, gibt es zwischen ihr und ihrer Tochter auch nichts zu verrechnen. Folglich gibt es auch nichts, was einer Aufhebung des Bescheids entgegenstehen könnte, wenn § 133 Abs. 3 Satz 2 BauGB diese Fallkonstellation erfassen würde.

27

Es bedarf deshalb auch keiner Entscheidung, welche Folgerungen sich daraus ergeben, dass die Beklagte im Abhilfebescheid vom 15. November 2007 ausdrücklich erklärt hat, dass sie die vom Schwiegersohn erbrachte Vorausleistung bereits zum damaligen Zeitpunkt „mit der Forderung gegen Frau H.“ (d.h. offenbar mit dem angekündigten Vorausleistungsbescheid gegen die Klägerin) verrechne. Was bereits im Vorausleistungsverfahren verrechnet worden ist, kann nicht bei der endgültigen Beitragserhebung erneut verrechnet werden.

28

Unabhängig von alledem ist der streitgegenständliche Bescheid auch deshalb rechtswidrig, weil es sich bei der abgerechneten Maßnahme in Wahrheit um Ausbau und nicht um Erschließung handelt. Insoweit wird auf das den Beteiligten bekannte Urteil vom heutigen Tage in dem Parallelverfahren 4 K 693/08.KO verwiesen. Die dortigen Ausführungen werden ausdrücklich zum Gegenstand des vorliegenden Urteils gemacht.

29

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

30

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.

31

Die Berufung war nicht nach § 124 a Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO zuzulassen, da das Urteil nicht nur auf den Eigentumswechsel während des Widerspruchsverfahrens sondern auch auf die fehlende Erstmaligkeit der Herstellung gestützt ist. Letzteres ist eine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung und ohne Abweichung von einer Entscheidung des OVG Rheinland-Pfalz oder des Bundesverwaltungsgerichts.

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Beschluss

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Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 6.116,79 € festgesetzt (§§ 52, 63 Abs. 2 GKG).

34

Die Festsetzung des Streitwertes kann nach Maßgabe des § 68 Abs. 1 GKG mit der Beschwerde angefochten werden.

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