Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 7 K 5436/13
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
Tatbestand:
2Der am 00.00.0000 in Ust-Kamyschta (Russische Föderation) geborene Kläger beantragte am 10.06.1996 seine Aufnahme als Spätaussiedler nach dem BVFG und die Einbeziehung seiner Ehefrau und seiner drei Kinder in den Aufnahmebescheid. Ausweislich seiner 1970 ausgestellten Geburtsurkunde sind die Eltern des Klägers, J. und F. C. , deutsche Volkszugehörige. Nach den Angaben des Klägers im Aufnahmeantrag gehörten auch die Großeltern mütterlicherseits und väterlicherseits der deutschen Nationalität an. Dem Aufnahmeantrag war ein 1986 ausgestellter Inlandspass der ehemaligen UdSSR beigefügt, in dem der Kläger ebenfalls mit deutscher Nationalität geführt wurde.
3Zu seinen Sprachkenntnissen gab der Kläger im Aufnahmeantrag an, er habe bereits als Kind im Elternhaus die deutsche Sprache gesprochen. Die Sprache habe er von seinen Eltern, den Großeltern und anderen Verwandten gelernt. Jetzt spreche er im Familienkreis häufig Russisch. Mit den Eltern spreche er auch häufig deutsch. Er könne im Dialekt alles verstehen und ein einfaches Gespräch führen.
4Am 05.10.1998 wurde der Kläger im Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Nowosibirsk angehört. Vor Beginn des Sprachtests erklärte er, er habe die deutsche Sprache als Kind erlernt. Sie sei ihm von den Eltern und der Großmutter mütterlicherseits vermittelt worden. Außerdem habe er 1 Jahr Deutschunterricht in der Schule gehabt. Der Sprachtester kam zu dem Ergebnis, dass eine Verständigung kaum möglich gewesen sei. Der Kläger habe nur einzelne Wörter verstanden und gesprochen.
5Mit einem Schreiben des Bundesverwaltungsamts vom 15.03.2001 wurde dem Kläger mitgeteilt, dass er die Voraussetzungen für die Aufnahme als Spätaussiedler in eigener Person nicht erfülle. Er könne jedoch als Abkömmling in den Aufnahmebescheid seiner Mutter F. einbezogen werden und mit dieser sogleich ausreisen. Falls er einen förmlichen Ablehnungsbescheid wünsche, so solle er dies mitteilen. Der Einbeziehungsbescheid vom 15.03.2001 war dem Schreiben beigefügt.
6Am 15.07.2001 reiste der Kläger mit seiner Familie, seinen Eltern und seinen Geschwistern K. , W. und B. C. in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Am 30.07.2001 beantragte er bei der seinerzeit zuständigen Behörde des Freistaats Bayern die Ausstellung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG als Abkömmling einer Spätaussiedlerin. Am selben Tag wurde bei der Landesaufnahmestelle in Nürnberg ein Sprachtest durchgeführt. Hierbei gab der Kläger an, er habe ab Geburt bis 1983 die deutsche Sprache von seiner Mutter und seiner Großmutter gelernt. Die Großmutter sei 1983 verstorben. Mit der Familie und den Eltern habe er nur Russisch gesprochen. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass der Kläger nur einzelne Wörter spreche und verstehe. Unter dem 06.08.2002 wurde dem Kläger eine Bescheinigung als Abkömmling einer Spätaussiedlerin gemäß § 15 Abs. 2 BVFG ausgestellt.
7Mit Schreiben vom 22.02.2013 beantragte der Kläger die Anerkennung der Spätaussiedlereigenschaft nach § 4 BVFG bei dem Bundesverwaltungsamt. Er habe nach der Einreise sämtliche Behördengänge für die Familie allein, ohne fremde Hilfe erledigt und über ausreichende Deutschkenntnisse für den täglichen Gebrauch verfügt. Seinen eigenen Status habe er damals nicht weiterverfolgt, weil die seinerzeitige Anfangssituation zu einer völligen psychischen Überforderung geführt habe. Der Vater habe während des Fluges nach Deutschland einen Schlaganfall erlitten. Er sei bald nach der Einreise verstorben. Er habe danach die ganze Verantwortung für seine Familie sowie für seine schwer kranke Mutter und seinen behinderten Bruder übernehmen und eine Arbeitsstelle suchen müssen.
8Mit Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 31.05.2013 wurde der Antrag abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger sei im Zeitpunkt der Einreise kein deutscher Volkszugehöriger gewesen. Es habe an der familiären Vermittlung der deutschen Sprache gefehlt. Durch die Sprachtests vor der Ausreise am 05.10.1998 in Nowosibirsk und nach der Einreise am 30.07.2001 in Nürnberg sei festgestellt worden, dass er nur einzelne Wörter in der deutschen Sprache beherrsche, also kein einfaches Gespräch in deutscher Sprache haben führen können. Zwischenzeitlich verbesserte oder fremdsprachlich erlernte Sprachkenntnisse seien nicht von Bedeutung, weil sie nicht familiär vermittelt seien.
9Hiergegen legte der Kläger am 28.06.2013 Widerspruch ein. Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 07.08.2013 zurückgewiesen, nachdem der Kläger eine Begründung des Widerspruchs bis zu diesem Zeitpunkt nicht eingereicht hatte.
10Am 05.09.2013 hat der Kläger Klage erhoben, mit der er zunächst die Aufhebung der genannten Bescheide und die Erteilung eines Aufnahmebescheides beantragt hat.
11Zur Begründung der Klage wird vorgetragen, die Feststellungen der Beklagten zu den Sprachkenntnissen des Klägers im Zeitpunkt der Einreise seien unzutreffend. Der Kläger habe ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache führen können. Bei den Sprachtests in den Jahren 1998 und 2001 sei jedoch ein flüssiges Gespräch in deutscher Sprache erwartet worden. Die Gesetzesänderung im Jahr 2001 sei nicht berücksichtigt worden.
12Bei dem Sprachtest in Nowosibirsk habe der Kläger fast alle Fragen verstanden und in deutscher Sprache beantwortet. Einen Teil der Fragen habe er nicht verstanden, weil diese nicht in dem gewohnten Dialekt bzw. Sprechweise der Russlanddeutschen gestellt worden seien. Auch seien nicht verstandene Fragen weder wiederholt, noch umformuliert oder übersetzt worden. Vielmehr sei der Sprachprüfer direkt zur nächsten Frage übergegangen.
13Auch beim Sprachtest in der Landesaufnahmestelle in Nürnberg im Jahr 2001 habe der Kläger alle Fragen verstanden und beantwortet. Auch hier seien die Fragen weder wiederholt noch umformuliert worden. Er sei auch nicht gebeten worden, ausführlicher zu antworten. Der Kläger habe sich außerdem wegen der schwierigen Situation in seiner Familie nicht konzentrieren können.
14Die Beklagte habe nicht berücksichtigt, dass der Kläger nach der Einreise in der Lage gewesen sei, sämtliche Behördengänge und den Schriftverkehr mit den Behörden für die ganze Familie in deutscher Sprache zu bewältigen. Dies könnten die Zeugen K1. I. (Betreuer im Übergangswohnheim) und I1. T. (Sprachkursleiterin) bestätigen. Auch sei in einem Aktenvermerk der zuständigen Vertriebenenbehörde vom 31.08.2001 anlässlich einer Vorsprache des Klägers festgehalten worden, dass dieser „ganz gut“ deutsch spreche (Bl. 35 BA 2).
15Außerdem sei der Kläger durch das Amtsgericht Augsburg als Betreuer seiner Eltern und seines behinderten Bruders K. C. eingesetzt worden. Dies könne nur dann erfolgen, wenn die als Betreuer eingesetzte Person der deutschen Sprache ausreichend mächtig sei. Hierzu werden ein Betreuungsbeschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 01.09.2003 sowie eine Niederschrift über die Betreuerbestellung vom 25.09.2003 eingereicht.
16Der Kläger habe zudem im Jahr 2002 Lehrgänge zur beruflichen Qualifikation erfolgreich absolviert, was ohne gute deutsche Sprachkenntnisse nicht möglich gewesen wäre. Hierzu werden Bescheinigungen der DEKRA vom 14.01.2003, vom 09.12.2002, vom 20.06.2002, vom 17.12.2002 und verschiedene Ausweise als Fahrzeugführer aus dem Jahr 2002 vorgelegt (Bl. 34 d. A.).
17Auf Anforderung des Gerichts ist ein Sprachzertifikat des Berufsbildungszentrums Augsburg vom 08.03.2002 über das Ergebnis eines 6-monatigen Intensiv-Sprachlehrgangs vorgelegt worden (Bl. 74).
18Ferner sind die Betreuungsakten des Amtsgerichts Augsburg für den Bruder des Klägers, K. C. , sowie die Aufnahme- und Bescheinigungsakten der Eltern und Geschwister des Klägers, K. , W. und B. C. , beigezogen worden.
19In der mündlichen Verhandlung ist der Kläger angehört worden, und die Zeugen B. C. , K1. I. und I1. T. sind zu den Sprachkenntnissen des Klägers im Zeitpunkt seiner Einreise vernommen worden. Der geladene Zeuge W. C. ist unentschuldigt nicht zum Termin erschienen.
20Der Kläger beantragt nunmehr,
21die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31.05.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.08.2013 zu verpflichten, dem Kläger eine Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG auszustellen.
22Die Beklagte beantragt,
23die Klage abzuweisen.
24Sie trägt vor, der Erteilung eines Härtefallaufnahmebescheides nach § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG stehe schon entgegen, dass der Kläger seinen Spätaussiedlerwillen nicht zeitnah zur Einreise zum Ausdruck gebracht habe, sondern erst 11 Jahre nach Begründung des Aufenthalts in der Bundesrepublik. Er habe nämlich nach der Einreise nur die Ausstellung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG als Abkömmling eines Spätaussiedlers beantragt und akzeptiert.
25Auch eine Spätaussiedlerbescheinigung könne nicht erteilt werden. Maßgeblich für die Beurteilung des Anspruchs auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung sei nach § 100 a BVFG die nach dem 07.09.2001 geltende Rechtslage.
26Danach sei der Kläger kein deutscher Volkszugehöriger, weil er nach dem übereinstimmenden Ergebnis der durchgeführten Sprachtests kein einfaches Gespräch in deutscher Sprache habe führen können. Ablauf und Protokollierung beider Sprachprüfungen seien nicht zu beanstanden. Eine nervliche Anspannung des Klägers könne nicht berücksichtigt werden, da ein Gespräch in deutscher Sprache auch in Belastungssituationen abrufbar sein müsse. Im Übrigen sei protokolliert worden, dass der Kläger ruhig und sicher aufgetreten sei. Dass der Kläger sich innerhalb kurzer Zeit die für eine Verständigung nötigen Deutschkenntnisse nach seiner Einreise habe aneignen können, ändere an der rechtlichen Bewertung nichts.
27Das nur „ausreichende“ Ergebnis des 6-monatigen Sprachkurses im Fach „mündliche Ausdrucksfähigkeit spreche dafür, dass der Kläger im Zeitpunkt seiner Einreise gerade nicht die erforderlichen Sprachkenntnisse gehabt habe. Auch die sprachlichen Fähigkeiten des Klägers im Zeitpunkt seiner Bestellung zum Betreuer seines Bruders K. im September 2003 sage nichts über seine Sprachkenntnisse zum Zeitpunkt der Einreise aus.
28Die Geschwister des Klägers hätten im Zeitpunkt der Einreise ebenfalls kein einfaches Gespräch in deutscher Sprache führen können.
29Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten eingereichten Verwaltungsvorgänge des Klägers, seiner Eltern, seiner Geschwister K. , B. und W. sowie auf die Betreuungsakte des Amtsgerichts Augsburg Bezug genommen.
30Wegen der Einzelheiten der Anhörung des Klägers und der Vernehmung der Zeugen wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
31E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
32Die Klage ist mit dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 31.05.2013 und vom 07.08.2013 zur Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung zu verpflichten, zulässig.
33Zwar hat der Kläger ursprünglich neben der Aufhebung der oben genannten Bescheide nur eine Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung eines Aufnahmebescheides beantragt. Unter Berücksichtigung des eigentlichen Rechtsschutzzieles des Klägers, das bereits in dem ursprünglichen Antrag an das Bundesverwaltungsamt vom 22.02.2013 zum Ausdruck kam und auf die Anerkennung der Spätaussiedlereigenschaft gerichtet ist, kann der ursprünglich gestellte Klageantrag jedoch mit dem in der mündlichen Verhandlung klargestellten Inhalt ausgelegt werden, § 88 VwGO.
34Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Bescheid vom 31.05.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG.
35Zwar steht der Einwand der Beklagten, dass der Kläger seinen Spätaussiedlerwillen nicht zeitnah zu seiner Aufenthaltnahme im Bundesgebiet zum Ausdruck gebracht habe, sondern erst ca. 11 Jahre nach seiner Einreise, dem Anspruch nicht entgegen. Es kann hier offen bleiben, ob diese Voraussetzung, die das Bundesverwaltungsgericht für die Stellung von Härtefallaufnahmeanträgen nach § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG ergänzend zu den gesetzlichen Merkmalen aufgestellt hat, auch für die - Jahre nach der Ausreise erfolgende - Stellung von Anträgen nach § 15 Abs. 1 BVFG Geltung haben kann. Denn im vorliegenden Verfahren hat der Kläger seinen Spätaussiedlerwillen bereits durch die Stellung des Aufnahmeantrages vor der Aussiedlung zum Ausdruck gebracht,
36vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2012 – 5 C 23.11 – BVerwGE 145, 248, 252; OVG NRW, Beschluss vom 12.03.2014 – 11 E 124/14 – und Beschluss vom 19.08..2014 – 11 A 926/14 - .
37Jedoch liegen die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG nicht vor. Die Ausstellung der Bescheinigung setzt nach dieser Vorschrift voraus, dass der Kläger in dem für den Erwerb des Spätaussiedlerstatus maßgeblichen Zeitpunkt die Spätaussiedlereigenschaft erworben hat. Das ist nicht der Fall, weil der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der ständigen Aufenthaltnahme in Deutschland im Juli 2001 kein deutscher Volkszugehöriger war.
38Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts richtet sich der Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft nach der materiell-rechtlichen Vorschrift des § 4 BVFG, die als maßgeblichen Zeitpunkt grundsätzlich den Zeitpunkt der Aufenthaltnahme im Bundesgebiet bestimmt. Abweichend davon ergibt sich aber aus der Übergangsvorschrift des § 100 a BVFG, dass für die Spätaussiedlereigenschaft von Personen, die vor dem 07.09.2001 eingereist sind, die nach diesem Zeitpunkt geltende Rechtslage nach dem Spätaussiedlerstatusgesetz vom 30.08.2001 (BGBl. I S. 2266), im Folgenden: BVFG 2001, maßgeblich ist,
39BVerwG, Urteil vom 16.07.2015 – 1 C 30.14 – juris, Rn. 34 ff..
40Für den Kläger, der am 15.07.2001 ausgesiedelt ist, sind also nach § 100a BVFG die Vorschriften der §§ 4 und 6 BVFG 2001 für die Beurteilung der Spätaussiedlereigenschaft anzuwenden.
41Spätere Rechtsänderungen, insbesondere das 10. Änderungsgesetz vom 06.09.2013 (BGBl. I S. 3554), sind nicht zugunsten des Klägers zu berücksichtigen. Es entfaltet keine Rückwirkung für Fälle, bei denen die Aufnahme in das Bundesgebiet bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits erfolgt war; eine dem § 100 a BVFG vergleichbare Übergangsregelung hat der Gesetzgeber gerade nicht geschaffen. Vielmehr sollte die Erteilung des Aufnahmebescheides nur für noch in den Aussiedlungsgebieten befindliche Aufnahmebewerber erleichtert werden,
42vgl. BVerwG, Urteile vom 28.05.2015 – 1 C 24.14 – und vom 16.07.2015 – 1 C 30.14 – juris, Rn. 38.
43Nach der somit anzuwendenden Vorschrift des § 4 Abs. 1 BVFG 2001 kann Spätaussiedler in der Regel nur ein deutscher Volkszugehöriger sein.
44Der Kläger war jedoch im Zeitpunkt seiner Übersiedlung nicht deutscher Volkszugehöriger im Sinne des § 6 Abs. 2 BVFG 2001. Zwar stammt er von deutschen Volkszugehörigen ab und gehörte nach dem Recht der ehemaligen Sowjetunion zur deutschen Nationalität, da beide Eltern Deutsche waren. Die rechtliche Zuordnung zur deutschen Nationalität wurde jedoch nicht durch eine ausreichende familiäre Vermittlung der deutschen Sprache bestätigt.
45Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG 2001 ist die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache nur festgestellt, wenn der Antragsteller aufgrund dieser Vermittlung im Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung oder der Aussiedlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen kann. Für den Kläger ist der Zeitpunkt der Aussiedlung im Juli 2001 maßgeblich, weil eine Verwaltungsentscheidung über die Aufnahme vor der Einreise nicht getroffen wurde.
46Das Gericht hat aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung, der Vernehmung der Zeugen und aufgrund des Inhalts der vorliegenden Akten nicht die Überzeugung gewinnen können, dass der Kläger im Zeitpunkt seiner Einreise ein einfaches Gespräch auf Deutsch aufgrund familiärer Vermittlung führen konnte.
47Für die Fähigkeit, ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen, muss sich der Antragsteller über einfache Lebenssachverhalte aus dem familiären Bereich (z.B. Kindheit, Schule, Sitten und Gebräuche), über alltägliche Situationen und Bedürfnisse (Wohnverhältnisse, Einkauf, Freizeit, Reisen, Wetter u. ä.) oder die Ausübung eines Berufs oder einer Beschäftigung unterhalten, d.h. sprachlich verständigen können. Dabei reicht ein nur punktuelles Sich-Verständlich-Machen nicht aus, sondern erforderlich ist ein, wenn auch einfacher und begrenzter, Gedankenaustausch mit dem Gesprächspartner zu bestimmten Themen. In formeller Hinsicht genügt den Anforderungen des Gesetzes eine einfache Gesprächsform. Erforderlich ist zum einen die Fähigkeit zu einem sprachlichen Austausch über die oben genannten Sachverhalte in grundsätzlich ganzen Sätzen, wobei begrenzter Wortschatz und einfacher Satzbau genügen und Fehler in Satzbau, Wortwahl und Aussprache nicht schädlich sind, wenn sie nach Art oder Zahl dem richtigen Verstehen nicht entgegenstehen. Erforderlich ist zum anderen ein einigermaßen flüssiger Austausch in Rede und Gegenrede. Ein durch Nichtverstehen bedingtes Nachfragen, Suchen nach Worten oder stockendes Sprechen, also ein langsameres Verstehen und Reden als zwischen in Deutschland angewachsenen Personen, steht dem erst entgegen, wenn Rede und Gegenrede so weit oder so oft auseinander liegen, dass von einem Gespräch als mündlicher Interaktion nicht mehr gesprochen werden kann. Nicht ausreichend sind demgemäß Aneinanderreihungen einzelner Worte ohne Satzstruktur oder insgesamt nur stockende Äußerungen. Der Antragsteller muss aber weder über einen umfassenden deutschen Wortschatz verfügen noch in grammatikalisch korrekter Form sprechen können noch eine deutlich über fremdsprachlich erworbene Kenntnisse hinausgehende Sprachfähigkeit besitzen,
48vgl. BVerwG, Urteile vom 04.09.2003 - 5 C 33.02 - , BVerwGE 119, 6 und - 5 C 11.03 - DVBl. 2004, 448.
49Das Gericht konnte nicht feststellen, dass der Kläger diese Anforderungen im Zeitpunkt seiner Einreise erfüllte. Das folgt allerdings hier nicht aus den Ergebnissen der beiden Sprachtests, die der Kläger am 05.10.1998 in Nowosibirsk und am 30.07.2001 in Nürnberg absolvierte. Denn die hierbei angefertigten Protokolle bieten keine hinreichende Grundlage für die Feststellung der Sprachkenntnisse des Klägers im maßgeblichen Zeitpunkt der Einreise im Juli 2001,
50vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.06.2007 – 2 A 4861/05 – juris, Rn. 31 ff..
51Dem Sprachtestprotokoll vom 05.10.1998 ist nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, ob hierbei die Anforderungen eines einfachen Gesprächs beachtet worden sind und die Erschwernisse für deutsch-sprachige Antragsteller aus den Aussiedlungsgebieten hinreichend berücksichtigt worden sind. Diese Anforderungen waren seinerzeit noch nicht Grundlage der Befragung, da nach der anzuwendenden Vorschrift des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG in der Fassung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes vom 21.12.1992 (BGBl. I S. 2094) die Verwendung der deutschen Sprache als Muttersprache oder bevorzugte Umgangssprache geprüft wurde,
52vgl. BVerwG, Urteil vom 17.06.1997 – 9 C 10/96 – juris, Rn. 15 ff.; Änderung der Rechtsprechung durch BVerwG, Urteil vom 19.10.2000 – 5 C 37/99 – juris, Rn. 29 ff.
53Dies schließt zwar die Verwertung des Sprachtests bei einem aussagekräftigen Protokoll nicht grundsätzlich aus. Im vorliegenden Fall bestehen jedoch Zweifel daran, ob der Test die tatsächlichen Sprachkenntnisse des Klägers tatsächlich widerspiegelt und damit eine hinreichende Aussagekraft zur Beurteilung der Fähigkeit zur Führung eines einfachen Gespräches in deutscher Sprache hat. Der Sprachtest war mit 10 Fragen insgesamt nur sehr kurz. Von diesen 10 Fragen hat der Kläger 5 Fragen nach dem Protokoll überhaupt nicht verstanden. Die anderen Fragen wurden aber in sehr kurzen, wenn auch nicht fehlerfreien Sätzen, beantwortet. Dieses unklare Ergebnis wurde jedoch nicht zum Anlass genommen, den Kläger intensiver zu befragen.
54Aus dem Protokoll kann insbesondere nicht entnommen werden, ob Fragen wiederholt oder umformuliert wurden und ob dem Kläger ausreichend Zeit für die Beantwortung eingeräumt wurde. Auch ist nicht erkennbar, ob der Kläger die Antworten zeitnah und flüssig gegeben hat oder ob es sich insgesamt nur um stockende Äußerungen ohne zeitlichen Zusammenhang zur Fragestellung gehandelt hat. Schließlich ist nicht protokolliert, ob der Kläger nach Dialektkenntnissen gefragt worden oder ob er im Dialekt angesprochen worden ist. Dies hätte aber nahe gelegen, weil der Kläger – ebenso wie seine zeitgleich angehörten Verwandten - verschiedene Wörter im Dialekt benutzt hat. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger möglicherweise einige Fragen wegen seiner fehlenden Kenntnisse der hochdeutschen Sprache nicht verstanden hat und deshalb nicht beantworten konnte.
55Auch ist die Bewertung des Sprachtests, dass der Kläger nur einige wenige Wörter in der deutschen Sprache verstehe und spreche, mit dem Inhalt des Protokolls nicht vereinbar. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Kläger die verstandenen Fragen in satzähnlichen Strukturen beantwortet hat und nicht in einzelnen Wörtern (z.B.: „Weiße Bär leben, wo viel schneit und kalt.“ Oder „Ich habe drei Kinder. Ein Sohn und zwei Töchter.“
56Auch das Sprachtestprotokoll vom 30.07.2001 aus Nürnberg lässt eine eindeutige Feststellung der deutschen Sprachkenntnisse des Klägers nicht zu. Bei dieser Befragung wurde offenbar immer noch der Maßstab der Beherrschung der deutschen Sprache als Muttersprache oder bevorzugte Umgangssprache angewendet, wie der Feststellungsvermerk vom 05.03.2002 zeigt. Zu bemängeln ist wiederum der sehr geringe Umfang des Sprachtests von 6 Fragen, die insgesamt nur eine Zeitdauer von 10 Minuten beansprucht haben. Hier hat der Kläger alle Fragen verstanden, zwei – unklar formulierte – Fragen erst nach Wiederholung und Verdeutlichung. Er hat allerdings nur in wenigen, einzelnen Worten geantwortet.
57Das Protokoll lässt jedoch nicht erkennen, ob der Kläger zu einer ausführlicheren Antwort aufgefordert worden ist, ob hierfür Zeit eingeräumt worden ist und ob er zu einer Beantwortung der Fragen im Dialekt ermuntert worden ist. Jedenfalls ist die Bewertung des Sprachtests, dass der Kläger nur einzelne Wörter verstehe, offensichtlich nicht richtig, da er alle Fragen verstanden und inhaltlich richtig beantwortet hat.
58Bei einem Vergleich der beiden Protokolle vom 05.10.1998 und vom 30.07.2001 zeigt sich also ein widersprüchliches Ergebnis. Während der Kläger beim ersten Sprachtest viele Fragen nicht verstand, aber durchaus in Sätzen bzw. satzähnlichen Strukturen antworten konnte, hat er beim zweiten Sprachtest zwar alle Fragen verstanden, aber nur in einzelnen Worten geantwortet. Diesem Befund wird die übereinstimmende Bewertung, der Kläger verstehe und spreche nur einzelne Wörter offensichtlich nicht gerecht. Vielmehr ist eine eindeutige Beurteilung der Sprachkenntnisse auf dieser Basis nicht möglich.
59Das Gericht hat daher in Wahrnehmung seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung den Kläger in der mündlichen Verhandlung angehört, drei Zeugen vernommen und den Inhalt der vorgelegten Verwaltungsvorgänge sowie der durch den Kläger vorgelegten Urkunden und sonstigen Unterlagen ausgewertet. Hierbei konnte das Gericht nicht zu der Überzeugung gelangen, dass der Kläger im Zeitpunkt der Übersiedlung zur Führung eines einfachen Gesprächs in deutscher Sprache in der Lage war. Vielmehr blieb der Umfang der Sprachkenntnisse des Klägers unklar, auch wenn angenommen werden kann, dass der Kläger mehr als einzelne Wörter verstanden und gesprochen hat.
60Unklarheiten oder Ungewissheiten über die Voraussetzungen für die Anerkennung als Spätaussiedler gehen aber nach allgemeinen Grundsätzen zu Lasten desjenigen, der sich auf sie beruft, also zu Lasten des Antragstellers bzw. Klägers,
61vgl. OVG NRW, Urteil vom 03.11.2014 - 11 A 2320/13 - .
62Die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zeigte zwar, dass der Kläger sich heute in deutscher Sprache mit eindeutiger Dialektfärbung fließend unterhalten kann. Über die Sprachfähigkeiten des Klägers bei seiner Einreise vor 14 Jahren konnten aber keine klaren Erkenntnisse gewonnen werden.
63Der Kläger hat zwar bestätigt, dass er auch auf Deutsch gesprochen hat. Er hat gleichzeitig aber große Schwierigkeiten eingeräumt. Ob er sich zu Beginn seines Aufenthaltes einigermaßen flüssig in einfacher Rede und Gegenrede unterhalten konnte, wird nicht klar. Auch die Gespräche, die er in deutscher Sprache mit dem Betreuer von der Caritas, Herrn T1. , geführt hat, belegen dies nicht. Zum einen ging es dort in erster Linie um Schreiben von Behörden oder anderen Stellen, die der Kläger nicht vollständig verstanden hatte und sich von dem Betreuer erklären ließ. Wie der Zeuge I. bestätigt hat, war in diesen Gesprächen naturgemäß der Betreuer derjenige, der gesprochen hat und der Kläger derjenige, der zugehört hat. Zum anderen war bei diesen Gesprächen teilweise auch der Zeuge I. anwesend. Der Zeuge I. , der selbst aus den Aussiedlungsgebieten stammt, spricht nach eigenem Bekunden auch fließend Russisch. Der Kläger hatte also die Möglichkeit, bei den Gesprächen mit Herrn T1. notfalls auf die Hilfe von Herrn I. in russischer Sprache zurückzugreifen, wenn es Probleme mit der Verständigung gab. Aus diesen Gesprächen kann also nur abgeleitet werden, dass der Kläger ein vorhandenes Problem – ggfs. mit Hilfe eines vorgelegten Schreibens - ansprechen konnte. Damit war zwar eine punktuelle Verständigung möglich. Die Fähigkeit zur Führung eines einfachen Gesprächs ergibt sich daraus jedoch noch nicht.
64Es kann auch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass sich der Kläger in seiner Familie, also mit den Eltern und Geschwistern, bis zur Ausreise in deutscher Sprache unterhalten hat. Dies wäre ein Indiz dafür, dass der Kläger auch nach seiner Einreise ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache führen konnte. Soweit der Kläger und die Schwester des Klägers dies in ihren Aussagen behauptet haben, ist dieser Vortrag nicht glaubhaft.
65Glaubhaft ist, dass dem Kläger die deutsche Sprache in seiner Kindheit familiär vermittelt worden ist. Insbesondere kann davon ausgegangen werden, dass er mit den Großeltern, die bis zu seinem 13. Lebensjahr (1983) bei der Familie lebten, deutsch gesprochen hat. Andernfalls wären die auch jetzt noch vorhandenen Dialektkenntnisse und die Tatsache, dass der Kläger nach seiner Einreise sehr schnell zur Alltagsbewältigung ausreichende Sprachfähigkeiten erworben hat, nicht erklärbar.
66Es ist aber bereits fraglich, ob der Kläger mit den Eltern im Alltag Deutsch gesprochen hat, ob die Geschwister untereinander Deutsch gesprochen haben und ob diese Sprachübung bis zur Ausreise angedauert hat. Zweifel ergeben sich daraus, dass die Mutter bei ihrer Anhörung am 30.07.2001 in Nürnberg angegeben hat, sie habe nur mit ihren Eltern, also den Großeltern des Klägers, bis 1983 (Tod des Großvaters) deutsch gesprochen, mit ihren Kindern - also auch dem Kläger - aber nur russisch. Bei der Anhörung des Klägers am selben Tag, die mit Hilfe der Mutter durchgeführt wurde (vgl. handschriftlicher Vermerk Bl. 29 Beiakte 2), hat dieser in Übereinstimmung hiermit angegeben, er habe die deutsche Sprache bis 1983 von der Großmutter erlernt, mit den Eltern nie deutsch gesprochen, sondern nur Russisch. Dies hat der Kläger bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung auch indirekt bestätigt, indem er angegeben hat, er sei bei seinen Großeltern aufgewachsen. Die Eltern hätten gearbeitet und seien erst spät abends nach Hause gekommen.
67Auch die beiden Brüder des Klägers, K. und W. , gaben bei ihren Befragungen am 03.09.2001 (K. ) und am 30.07.2001 (W. ) an, sie hätten mit den Eltern nie deutsch gesprochen. Allein die ältere Schwester des Klägers, die Zeugin B. C. , erklärte bei ihrer Anhörung am 22.08.2001, sie habe die deutsche Sprache von den Eltern erlernt und bis zur Ausreise mit den Eltern häufig Russisch gesprochen.
68Aus diesen Aussagen kann entnommen werden, dass es keinen einheitlichen oder regelmäßigen deutschen Sprachgebrauch in der Zeit vor der Ausreise in der Familie gegeben hat. Dies ist auch plausibel, da die älteren Geschwister (K. , B. ) die deutsche Sprache noch in einem größeren Umfang von den Großeltern gelernt haben müssen als die jüngeren Geschwister (der Kläger, W. ). Dies hat der Bruder des Klägers, W. C. , bei seiner Anhörung in Nowosibirsk im Oktober 1998 bestätigt (Ziff. 2.2 des Sprachtestformulars).
69Dass die Mutter des Klägers, die auch bei den Anhörungen ihrer Kinder in Nürnberg im Jahr 2001 anwesend war, hier falsche Angaben gemacht hat, ist unwahrscheinlich. Die Erklärung des Klägers in der mündlichen Verhandlung, seine Mutter habe nach der Einreise in Deutschland kein einziges Wort mehr auf Deutsch gesprochen, ist nicht zutreffend. Vielmehr wurde beim Sprachtest der Mutter am 30.07.2001 festgestellt, dass die Mutter gut deutsch verstehe und spreche, und zwar im Dialekt. Beim Sprachtest des Klägers war sie – im Gegensatz zum Kläger – in der Lage, seine Tätigkeit bei der „Fischpolizei“ zu beschreiben: „hat aufgepaßt, dass niemand die Fisch mitnimmt“.
70Diese Formulierung zeigt, dass es durchaus möglich gewesen wäre, in einfachen Worten die Arbeit des Klägers zu erklären. Hierzu war der Kläger aber nicht imstande.
71Der unglückliche Umstand, dass bei beiden Sprachtests eine außerordentlich belastende Situation für den Kläger bestanden hat, weil sein Vater wegen eines akuten Schlaganfalls in Lebensgefahr war, kann seine sprachlichen Schwierigkeiten bei den beiden Sprachtests nicht allein erklären. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass familiär vermittelte Deutschkenntnisse auch in Belastungssituationen abrufbar sein müssen,
72vgl. OVG NRW, Beschluss vom 31.01.2008 – 12 A 3497/06 – juris Rn. 12, Beschluss vom 21.04.2011 – 12 A 667/10 – juris, Rn. 9.
73Diese Annahme wird durch den vorliegenden Fall bestätigt, da die einzelnen Familienmitglieder bei ihrer gleichzeitigen Anhörung in Nowosibirsk und in Nürnberg (gleicher Zeitraum) grundsätzlich derselben emotionalen Belastungssituation ausgesetzt waren, jedoch völlig unterschiedliche Sprachkenntnisse gezeigt haben. Die Mutter des Klägers sprach bei beiden Sprachtests fließend Deutsch, sodass ihre Aussage nicht protokolliert wurde. Bei dem ältesten Bruder K. konnte trotz seiner schweren Kopfverletzung, die offensichtlich auch das russische Sprachvermögen beeinträchtigt hatte, im Jahr 1998 noch die Fähigkeit zur Bildung von Sätzen in deutscher Sprache beobachtet werden, auch wenn diese teilweise unverständlich waren (Ziff. 1.2.2, Ziff. 2.1 und 2.2 des Sprachtestformulars). Die ältere Schwester B. konnte bei beiden Tests mit einiger Mühe ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache führen. Der ältere Bruder W. verstand und sprach bei beiden Anhörungen nur einzelne Wörter in deutscher Sprache. Der Kläger konnte sich bei beiden Sprachtests jedenfalls in deutscher Sprache teilweise verständigen.
74Diese unterschiedlichen Sprachfähigkeiten deuten zusammen mit den Angaben der Mutter darauf hin, dass in der Familie des Klägers vor der Ausreise eben keine regelmäßigen Gespräche in deutscher Sprache stattgefunden haben.
75Dies ist auch unter Berücksichtigung des Lebensweges des Klägers und seiner Geschwister nachvollziehbar. Der Kläger selbst ist nach seinen Angaben bereits mit 15 Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen. In diesem Zeitpunkt lebten seine älteren Geschwister bereits längere Zeit in anderen Orten. Der Kläger hatte dann während seiner Ausbildung, seiner Militärzeit und später nach seiner Heirat nur noch bei gelegentlichen Besuchen im Elternhaus oder seltenen Besuchen seines Vaters bei seiner Familie die Gelegenheit, die deutsche Sprache zu sprechen. Da der Kläger – ebenso wie seine Geschwister W. und B. - russische Volkszugehörige geheiratet haben und der älteste Bruder K. nach seinem Arbeitsunfall erhebliche Probleme mit dem Sprachvermögen hatte, ist anzunehmen, dass der deutsche Sprachgebrauch in der Familie nach dem Tod bzw. Wegzug der Großeltern im Jahr 1983 immer weiter zurückgegangen ist.
76Vor diesem Hintergrund konnte sich das Gericht nicht davon überzeugen, dass der Kläger bei seiner Einreise zu einem einfachen Gespräch in deutscher Sprache in der Lage war.
77Dies kann auch den Aussagen der Zeugen B. C. , I1. T. und K1. I. nicht entnommen werden.
78Zwar hat die Zeugin B. C. bekundet, dass sie mit den Eltern und den Brüdern im Aussiedlungsgebiet Deutsch und Russisch gesprochen habe. Sie könne sich erinnern, dass ihr Bruder B1. , also der Kläger, immer ganz schnell auf Deutsch geredet habe. Auch nach der Ausreise nach Deutschland habe er sich auf Deutsch unterhalten können. Er habe ja auch alles mit den Behörden erledigt.
79Ihre Aussage bleibt jedoch hinsichtlich des Zeitpunktes und des Umfangs der Sprachfähigkeiten vage. Die schnelle Redeweise des Klägers kann sich auch auf die Kindheit des Klägers beziehen. Es kann der Aussage nicht entnommen werden, dass der Kläger im Zeitpunkt der Ausreise ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache in grundsätzlich ganzen Sätzen und in einigermaßen flüssiger Rede und Gegenrede führen konnte. Vor dem Hintergrund, dass die gemeinsame Ausreise 14 Jahre zurückliegt, kann auch kaum erwartet werden, dass noch eine klare Erinnerung an die Sprachfähigkeiten des Bruders exakt im Zeitpunkt der Aussiedlung besteht. Offenbar schließt die Zeugin ihre Annahme, dass der Bruder sich in deutscher Sprache unterhalten konnte, in erster Linie aus der Tatsache, dass dieser die Behördenangelegenheiten erledigt hat.
80Insgesamt erscheint ihre Behauptung, dass in der Familie vor und nach der Ausreise deutsch und russisch gesprochen worden ist, nicht glaubhaft. Dagegen spricht schon, dass die Zeugin bei ihrem Sprachtest in Nowosibirsk selbst einige Probleme hatte, ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache zu führen. Auch bei ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung bewegte sich ihr Sprachvermögen trotz ihres langen Aufenthalts in Deutschland auf einem sehr einfachen Niveau. Zudem ist ihre Aussage, dass ihr Bruder W. auch Deutsch gesprochen habe, nachweislich nicht zutreffend. Dieser hatte laut eigenem Bekunden in seinem Sprachtest vorwiegend passive Sprachkenntnisse und sprach nur einzelne Wörter. Auch der Bruder K. hatte aufgrund seines Schädel-Hirn-Traumas ganz erhebliche Sprachprobleme. Für einfache Alltagsgespräche in der deutschen Sprache bestanden daher unter den Geschwistern des Klägers, wie bereits ausgeführt, keine ausreichenden Grundlagen.
81Das Gericht konnte schließlich auch aus den Aussagen der Zeugen T. und I. nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Kläger bei seiner Einreise ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen konnte.
82Die Bekundungen der Zeugin T. , die den Sprachkurs des Klägers geleitet hat, sind insgesamt zurückhaltend, ausweichend und manchmal auch widersprüchlich. Zwar hat sie bekundet, „sie würde“ die Frage, ob der Kläger zu Beginn des Kurses sich auf Deutsch unterhalten konnte, bejahen. Sie führte dann aus, der Kläger habe – zumindest auf eine Ansprache im Dialekt – alles verstanden und habe einfache Antworten geben können. Ob dies eine einigermaßen flüssige Unterhaltung in Rede und Gegenrede und ganzen Sätzen beinhaltet, bleibt jedoch unklar.
83Dagegen spricht, dass sie im späteren Verlauf der Befragung die Sprachkompetenz des Klägers mit dem Niveau des Standardsprachtests der Stufe A1 verglich. Dieses Sprachniveau liegt jedoch unter dem eines einfachen Gesprächs. Die weitere Erläuterung, sie habe dem Kläger zu Beginn des Kurses im Dialekt einfache Fragen zu seinem Leben, seiner Arbeit oder seiner Familie gestellt und die Antworten darauf seien verständlich gewesen, deutet eher auf die Fähigkeit hin, „sich punktuell zu verständigen“. Ein „Gespräch“ kann darin nicht gesehen werden. Eine präzise Beschreibung seiner Sprachfähigkeiten im Sinne eines einfachen Gesprächs lassen sich auch aus der schriftlichen Einlassung der Zeugin vom 07.12.2014 (Bl. 62 d. A.) nicht entnehmen.
84Auch ihre Aussage zum Ergebnis und den Anforderungen des 6-monatigen Intensiv-Sprachlehrgangs „Deutsch für Aussiedler und Asylberechtigte“, den der Kläger in der Zeit vom 10.09.2001 bis zum 08.03.2002 absolvierte, war widersprüchlich und wenig überzeugend. Am Ende des Sprachkurses erhielt der Kläger ausweislich des Sprachzertifikats vom 08.03.2002 (Bl. 74 d. A.) die Note „ausreichend“ im Fach „Mündliche Ausdrucksfähigkeit“. Die nahe liegende Schlussfolgerung, dass die aktiven Sprachkenntnisse zu Beginn des Sprachkurses schlechter und damit für ein Gespräch nicht ausreichend gewesen sein müssen, konnte sie nicht entkräften.
85Insbesondere war ihre Erklärung zu den Anforderungen des Abschlusstests an die „mündliche Ausdrucksfähigkeit“ stark widersprüchlich. Während sie zunächst relativ hohe Anforderungen (fließend und korrekt auf Hochdeutsch, richtige Satzstellung, richtige Partizipform) beschrieb, wurden die Erwartungen später in einer deutlich reduzierten Form beschrieben (nur Hilfe zur Selbsthilfe; ausreichend, wenn sich der Betroffene bei Behörden gut verständlich machen kann, kein komplettes Hochdeutsch erforderlich). Die Erklärung, dass eine Verbesserung der „mündlichen Ausdrucksfähigkeit“ schon vorliege, wenn ein Teilnehmer zu Beginn des Kurses nur Fragen im Dialekt verstehe, am Ende aber auch Fragen in Hochdeutsch, sagt gerade nichts zum aktiven Sprachvermögen, sondern allein zum Hörverständnis aus. Auch die Erklärung, eine Verbesserung der Sprachkenntnisse zeige sich manchmal erst nach dem Ende des Kurses, ist nicht geeignet, die nur ausreichenden mündlichen Sprachkenntnisse nach 6 Monaten Sprachkurs zu begründen.
86Die Bekundungen des Zeugen I. , der den Kläger im Übergangswohnheim betreut hat, lassen den Umfang der Sprachkenntnisse des Klägers zu Beginn seines Aufenthaltes in Deutschland ebenfalls nicht klar erkennen. Seine Aussage, der Kläger habe zu diesem Zeitpunkt in seinem Dialekt in einfacher Form kommunizieren können bzw. sich ausreichend artikulieren können, deutet auf ein Niveau unterhalb eines einfachen Gesprächs hin.
87Zwar kann dem Zeugen insoweit gefolgt werden, als bei dem Kläger ohne weiteres erkennbar ist, dass er in einer deutschsprachigen, dialektgeprägten Familie aufgewachsen ist. Doch dies sagt nichts zum Umfang seines mündlichen Sprachvermögens im Zeitpunkt seiner Einreise aus. Ebenso wenig ist der Umstand, dass der Zeuge den Kläger als Mitglied für die Landsmannschaft geworben hat, ein Beweis dafür, dass der Kläger schon nach der Übersiedlung ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen konnte. Der Zeuge hat später selbst relativiert, dass auch bei der Landsmannschaft keineswegs ständig deutsch gesprochen wird, sondern dass lediglich die offiziellen Abläufe und Themen in deutscher Sprache gehalten sind, die anwesenden Personen sich aber durchaus auch in russischer Sprache unterhalten.
88Schließlich wird aus der Befragung deutlich, dass der Zeuge I. es hauptsächlich als seine Aufgabe angesehen hat, selbst mit dem Kläger deutsch zu sprechen, wobei der Kläger den deutschen Ausführungen in ausreichender Weise folgen konnte. Dies ist auch der schriftlichen Einlassung des Zeugen vom 29.10.2015 (Bl. 155 d. A.) zu entnehmen. In wie weit bei diesen Gesprächen aber auch der Kläger die deutsche Sprache benutzt hat und welcher Anteil der Gespräche auf Russisch geführt worden ist, bleibt letztlich unklar. Der Umstand, dass der Zeuge I. den Kläger gelegentlich bei seinen Gesprächen mit dem deutschsprachigen Betreuer von der Caritas, Herrn T1. , begleitet hat, deutet eher darauf hin, dass der Zeuge bei diesen Gesprächen auch wegen seiner russischen Sprachkenntnisse anwesend war. Andernfalls hätte der Kläger diese Gespräche auch allein führen können.
89Auch die weiteren Indizien über die Sprachfähigkeiten des Klägers im weiteren Verlauf seines Aufenthalts sind nicht geeignet, die Fähigkeit zur Führung eines einfachen Gesprächs zum Zeitpunkt der Aussiedlung festzustellen. Vielmehr belegen sie lediglich, dass der Kläger seinerzeit gewisse passive Sprachkenntnisse hatte und seine aktiven Sprachkenntnisse – auch mit Hilfe des Sprachkurses – schnell verbessern bzw. wiederherstellen konnte.
90Dies gilt insbesondere für den Umstand, dass der Kläger im September 2003 als Betreuer seines Bruders K. bestellt wurde und die Kurse zur Berufsqualifikation bei der DEKRA in der zweiten Jahreshälfte 2002, also nach der Absolvierung des Sprachkurses, bestanden hat. Damit belegen diese Ereignisse zwar die Sprachfähigkeiten des Klägers nach Ablauf von einem Jahr bzw. von zwei Jahren nach der Einreise. Sie sagen jedoch nichts über den Umfang der Sprachkenntnisse im Juli 2001 aus.
91Letztlich kann auch der Aktenvermerk vom 31.08.2001, der dem Kläger attestiert, dass er „ganz gut“ deutsch spricht (Bl. 35 Beiakte 2), nichts über die Fähigkeit zur Führung eines einfachen Gesprächs im Juli 2001 aussagen. Aus dem Aktenvermerk lassen sich keine Hinweise auf die Bedingungen dieses Gesprächs und die Maßstäbe für die Bewertung der Deutsch-Kenntnisse entnehmen. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Sprachkenntnisse des Klägers zunächst mit „spricht leidlich deutsch“ bewertet wurden, also auf demselben Niveau wie die des anwesenden Bruders W. , und erst später auf „spricht ganz gut deutsch“ korrigiert wurden. Dies spricht dafür, dass der Kläger besser Deutsch konnte als sein Bruder W. . Da W. aber in den beiden durchgeführten Sprachtests nur einige Worte deutsch verstand und sprach und damit von allen Geschwistern die schlechtesten Sprachkenntnisse hatte, sind bessere Sprachkenntnisse des Klägers kein Nachweis für die Fähigkeit, ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache zu führen.
92Die Klage konnte daher keinen Erfolg haben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.
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