Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 7 K 7983/17
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
Tatbestand
2Die am 00.00.1958 in Kustanaj/Kasachstan geborene Klägerin begehrt das Wiederaufgreifen ihres Verfahrens auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung. Nach der vorgelegten Übersetzung ihrer am 12.08.1975 ausgestellten Geburtsurkunde stammt sie von den deutschen Volkszugehörigen G. C. und N. L. ab. Nach den Eintragungen im Registerportal des Bundesverwaltungsamts ist ein Antrag der Klägerin auf Erteilung eines Aufnahmebescheid durch einen Bescheid vom 17.08.1992 wegen mangelnder deutscher Sprachkenntnisse abgelehnt worden. Die Aufnahmeakte ist jedoch nicht mehr vorhanden.
3Die Klägerin reiste am 31.03.1996 in das Bundesgebiet ein, nachdem sie in den Aufnahmebescheid ihrer Mutter durch Bescheid vom 07.09.1995 als Abkömmling einbezogen worden war. Am 02.05.1996 beantragte sie beim Landratsamt Bodenseekreis die Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG. Sie erhielt mit Bescheid vom 04.12.1996 zunächst eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG als Abkömmling eines Spätaussiedlers.
4Mit „Widerspruchsschreiben“ vom 07.01.1997 beantragte sie die Ausstellung einer Bescheinigung als Spätaussiedlerin nach § 15 Abs. 1 BVFG. Zur Begründung trug sie vor, die Eltern und Großeltern seien Deutsche nach Geburt. In der Familie sei Deutsch gesprochen worden und sie sei in christkatholischen Sitten erzogen worden. Man habe die deutschen Traditionen und Gebräuche beachtet. Wegen der feindlich gesonnenen russischen Umgebung, des Unterrichts in der russischen Schule und des Fehlens von deutschen Familien in der Umgebung habe sie keine Möglichkeit gehabt, die deutsche Sprache zu lernen. Auch auf der Arbeit sei es so gewesen. Seit der Ankunft in Deutschland lerne sie verstärkt die deutsche Sprache.
5Mit Bescheid vom 17.05.1998 wurde der Antrag abgelehnt. In der Begründung wurde ausgeführt, nach der Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg vom 15.08.1997
6– 16 S 2771/96 – seien bei fehlenden deutschen Sprachkenntnissen die Voraussetzungen der deutschen Volkszugehörigkeit im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG nicht erfüllt. Die dort genannten Bestätigungsmerkmale müssten zum Zeitpunkt der Ausreise erfüllt sein. Es sei erforderlich, dass dem Deutschstämmigen durch die Eltern oder andere Verwandte deutsche Sprachkenntnisse vermittelt worden seien. Das sei nur der Fall, wenn dieser die deutsche Sprache als Muttersprache beherrsche oder als bevorzugte Umgangssprache genutzt habe. Die Antragstellerin habe jedoch bei ihrer Ankunft im Bodenseekreis nur sehr wenige Wörter Deutsch verstehen können und auch gesprochen. Daher seien auch die Merkmale „Erziehung“ und „Kultur“ nicht erfüllt. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass die Vermittlung der deutschen Sprache während der ersten 16 Lebensjahre der Klägerin nicht möglich oder zumutbar gewesen sei. Dies könne nur bei Personen angenommen werden, die bis einschließlich 1956 geboren worden seien, was auf die Klägerin nicht zutreffe.
7Der Bescheid wurde der Klägerin mit PZU am 29.05.1998 zugestellt. Rechtsmittel wurden nicht eingelegt.
8Mit Schreiben vom 01.02.2014 stellte die Klägerin unter Berufung auf das 10. Änderungsgesetz zum BVFG vom 14.09.2013 einen Antrag auf Wiederaufnahme ihres Verfahrens zur Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung beim Bundesverwaltungsamt.
9Mit Bescheid vom 15.01.2016 wurde der Antrag abgelehnt. In der Begründung hieß es, ein Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens liege nicht vor. Die Rechtslage habe sich durch das 10. Änderungsgesetz zum BVFG nicht zugunsten der Antragstellerin geändert. Denn für die Frage, ob diese Spätaussiedlerin sei, komme es auf den Zeitpunkt der Übersiedlung an. Maßgeblich sei allein die Rechtslage in diesem Zeitpunkt. Dies habe das Bundesverwaltungsgericht in den Entscheidungen vom 28.05.2015
10– 1 C 24/14 – und vom 16.07.2015 – 1 C 29.14 – und – 1 C 30.14. – ausdrücklich festgestellt.
11Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach allgemeinen Grundsätzen im Sinne des § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG komme ebenfalls nicht in Betracht. Im Rahmen der Abwägung der beteiligten Interessen überwiege das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung des Bescheides nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Der ablehnende Bescheid sei vor vielen Jahren in einem Massenverfahren ergangen, sodass die maßgebenden Tatsachen kaum noch feststellbar seine. Umstände, die zu einer Ermessensreduzierung auf Null führten, seien nicht vorgetragen und nicht erkennbar. Die Aufrechterhaltung des Bescheides sei nicht schlechthin unerträglich. Insbesondere sei der ursprüngliche Bescheid nicht offensichtlich fehlerhaft.
12Der Bescheid wurde am 01.02.2016 per Einwurfeinschreiben abgesandt. Mit Rechtsanwaltsschreiben vom 26.02.2016 ließ die Klägerin am gleichen Tag Widerspruch gegen den Bescheid einlegen. In den Begründungsschreiben vom 31.03.2016 und vom 18.04.2016 wurde vorgetragen, die Klägerin habe im Jahr 1996 einen Antrag auf Aufnahme als Spätaussiedlerin gestellt, der nicht abgelehnt worden sei. Sie habe einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens. Sämtliche Familienmitglieder hätten eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG bekommen. Der Anspruch stehe ihr schon auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 1 GG zu. Die Anerkennung als Abkömmling eines Spätaussiedlers beruhe auf einem offensichtlichen Fehler. Als Nachweis werden Spätaussiedlerbescheinigungen von Cousinen und einer Tante der Klägerin vorgelegt.
13Durch Widerspruchsbescheid vom 26.04.2017 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. In der Begründung wurden im Wesentlichen die Gründe des Ausgangsbescheides wiederholt und ergänzend ausgeführt, die Anerkennung von Familienangehörigen als Spätaussiedler sei rechtlich unerheblich. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Feststellung der Spätaussiedlereigenschaft sei in jedem Einzelfall zu prüfen und könne somit auch bei Familienangehörigen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Der Bescheid wurde den Rechtsanwälten der Klägerin am 03.05.2017 zugestellt.
14Hiergegen hat sie am 30.05.2017 Klage erhoben, mit der sie den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG weiterverfolgt.
15Zur Begründung der Klage wird vorgetragen, die Klägerin erfülle nach dem Inkrafttreten des 10. Gesetzes zur Änderung des BVFG am 14.09.2013 alle Voraussetzungen für die Anerkennung als Spätaussiedlerin. Eine familiäre Vermittlung der deutschen Sprache sei nicht mehr erforderlich. Es genüge, wenn das Bekenntnis bestätigt werde durch die Fähigkeit, ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache zu führen. Die Klägerin habe ihre Sprachkenntnisse enorm verbessert und sei jetzt in der Lage, fließend deutsch zu sprechen. Eine Wiederholung der Anhörung sei nun ohne weitere Voraussetzungen zulässig.
16Es sei nicht zutreffend, dass die Rechtsstellung als Spätaussiedler nur im Zeitpunkt der Übersiedlung erworben werden könne. Das OVG NRW habe mit Urteil vom 26.05.2014 – 11 A 1250/12 – entschieden, dass die am 14.09.2013 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen sich auch auf die in Deutschland lebenden Deutschstämmigen aus der ehemaligen UdSSR erstreckten, die das Aussiedlungsgebiet ohne Aufnahmebescheid verlassen hätten und im Zeitpunkt der Ausreise die Voraussetzungen nicht erfüllt hätten.
17Die Klägerin beantragt,
18die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15.01.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.04.2017 zu verpflichten, ihr unter Wiederaufgreifen des Verfahrens eine Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG auszustellen.
19Die Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Sie beruft sich auf die Begründung der streitgegenständlichen Bescheide.
22Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
23E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
24Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 15.01.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.04.2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens und Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung.
25Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des bestandskräftig abgeschlossenen Bescheinigungsverfahrens nach § 51 Abs. 1 oder nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG sind nicht erfüllt.
26Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung und Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Dies ist im vorliegenden Verfahren nicht der Fall.
27Die Klägerin kann sich insbesondere nicht auf eine Änderung der Rechtslage durch das am 14.09.2013 in Kraft getretene 10. Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vom 06.09.2013 (BGBl. I S. 3554) berufen. Diese Änderung wirkt sich nicht zugunsten der Klägerin aus. Für ihren Anspruch auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG ist nämlich weiterhin die Rechtslage im Zeitpunkt ihrer Einreise in das Bundesgebiet am 31.03.1996 maßgeblich.
28Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für den Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Einreise zum dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet abzustellen,
29BVerwG, Urteil vom 10.10.2018 – 1 C 26/17 – juris, Rn. 24,
30Urteile vom 16.07.2015 – 1 C 30.14 und 1 C 29.14 – .
31Dies ergibt sich aus der Regelung in § 4 Abs. 1 BVFG, die definiert, wer ein Spätaussiedler ist. Spätaussiedler ist ein deutscher Volkszugehöriger, der das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach dem 31.12.1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen und innerhalb von 6 Monaten in Deutschland seinen ständigen Aufenthalt genommen hat, wenn er seit 1945, 1952 oder seit seiner Geburt seinen Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten hatte. Die Eigenschaft als Spätaussiedler entsteht also erst mit der dauerhaften Übersiedlung in das Bundesgebiet. Deshalb ist dies der maßgebliche Zeitpunkt, in dem alle Voraussetzungen für die Entstehung der Spätaussiedlereigenschaft vorliegen müssen. Welche Voraussetzungen dies sind, richtet sich nach der zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtslage. Das bedeutet, dass günstige Rechtsänderungen, die erst nach der Übersiedlung in Kraft treten, einem Antragsteller grundsätzlich nicht mehr zugutekommen. Dies gilt auch für das 10. BVFG-Änderungsgesetz. Dieses entfaltet mangels einer ausdrücklichen Regelung keine Rückwirkung auf Übersiedlungen vor seinem Inkrafttreten,
32vgl. BVerwG, Urteil vom 10.10.2018 – 1 C 26/17 – juris Rn. 25 f.
33In der hiermit verbundenen Privilegierung der in den Aussiedlungsgebieten verbliebenen Deutschstämmigen gegenüber denjenigen, die bereits vorher eingereist sind, liegt keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Entscheidung des Gesetzgebers, bereits übergesiedelte Personen nicht an der Lockerung der rechtlichen Anforderungen an die deutsche Volkszugehörigkeit teilhaben zu lassen, beruht auf einem sachlichen Grund. Bezweckt war die Erleichterung der Übersiedlung für noch im Aussiedlungsgebiet wohnende Personen. Diese sollte die Anforderungen an einen Spätaussiedler an eine im Lauf der Zeit eingetretene Veränderung der Lebensumstände in den Aussiedlungsgebieten anpassen. Durch den vermehrten Wegzug deutscher Familien war es immer schwieriger geworden, die deutsche Sprache in den Familien weiterzugeben. Außerdem wurde in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion die Nationalität nicht mehr regelmäßig in die Inlandspässe und Personenstandsurkunden eingetragen. Hierdurch wurde es praktisch unmöglich, noch ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abzugeben. Mit den Erleichterungen für den Spracherwerb und das Bekenntnis sollte der Zuzug von Spätaussiedlern wieder gefördert werden,
34vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zum Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 17/13937 vom 12.06.2013 und VG Köln, Urteil vom 03.07.2020 – 7 K 7199/19 – juris, Rn. 21 ff.
35Zweck des Gesetzes war es dagegen nicht, den bereits in Deutschland lebenden Personen einen besseren Zugang zu den mit dem Spätaussiedlerstatus verbundenen Vergünstigungen, insbesondere zu den Ansprüchen nach dem Fremdrentengesetz, zu ermöglichen,
36vgl. BVerwG, Urteil vom 10.10.2018 – 1 C 26/17 – juris, Rn. 28.
37Auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 26.05.2014 – 11 A 1250/12 –, in dem eine andere Rechtsauffassung vertreten wurde, kann sich die Klägerin nicht mehr berufen. Dieses Urteil wurde durch das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 16.07.2015 – 1 C 30.14 – aufgehoben. Das Oberverwaltungsgericht hält auch in aktuellen Entscheidungen an seiner früheren Meinung zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht mehr fest.
38Auch die Sachlage hat sich nicht zugunsten der Klägerin verändert. Zwar hat die Klägerin seit ihrer Einreise im Jahr 1996 ihre deutschen Sprachkenntnisse erkennbar verbessert, wie auch bei ihrer Anhörung in der mündlichen Verhandlung am 18.08.2020 deutlich wurde. Diese Änderung kommt ihr jedoch nicht zugute, weil es auch bei der Feststellung der Sprachkenntnisse, die Voraussetzung für den Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft nach der Rechtslage im Jahr 1996 waren, auf den Zeitpunkt der Einreise ankommt, und nicht auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung.
39Andere Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG sind nicht geltend gemacht worden. Ein Anspruch auf Aufhebung der bestandskräftigen Ablehnungsentscheidung vom 17.05.1998 kann somit nur noch bei Anwendung der allgemeinen Vorschriften über die Aufhebung von bestandskräftigen Verwaltungsakten nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG in Betracht kommen. Danach steht die Entscheidung über die Aufhebung im Ermessen der Behörde.
40Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die nachträgliche Aufhebung des bestandskräftigen Ablehnungsbescheides vom 17.05.1998.
41Das Bundesverwaltungsamt hat den Antrag auf Erlass einer neuen Sachentscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung ermessensfehlerfrei abgelehnt. Die Behörde hat hierbei zutreffend auf die Abwägung der grundsätzlich gleichwertigen Belange des Schutzes der Bestandskraft der ablehnenden Entscheidung und damit der Belange des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit auf der einen und auf das Interesse der Klägerin an einer erneuten Sachentscheidung auf der anderen Seite abgehoben. Es ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, dass sie im Ergebnis dem öffentlichen Interesse an Rechtsfrieden und Rechtssicherheit den Vorzug gegeben hat. Das Ermessen der Behörde zu Gunsten des Betroffenen verdichtet sich lediglich dann, wenn das Festhalten an dem bestandskräftigen Verwaltungsakt schlechthin unerträglich wäre,
42vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2011 – 5 C 9/11 –, Urteil vom 10.10.2018
43– 1 C 26/17 – juris Rn. 31.
44Ob dies der Fall ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte ab. Die Ablehnung des Wiederaufgreifens eines Verfahrens ist insbesondere dann schlechthin unerträglich, wenn die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als ein Verstoß gegen die guten Sitten, Treu und Glauben oder den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz zu bewerten wäre oder eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Entscheidung gegeben ist. Diese Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung sind nicht erfüllt.
45Insbesondere ist die Ablehnung der Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung durch den Bescheid vom 17.05.1998 nicht offensichtlich rechtswidrig. Die Rechtmäßigkeit des Bescheides richtet sich nach der im Zeitpunkt der Übersiedlung der Klägerin im März 1996 geltenden Rechtslage,
46vgl. BVerwG, Urteile vom 16.07.2015 – 1 C 29.14 – und vom 10.10.2018
47– 1 C 26.17 – ,
48also nach der Fassung der §§ 4 und 6 Abs. 2 BVFG 1993. Danach konnte Spätaussiedler nur ein deutscher Volkszugehöriger sein. Für die deutsche Volkszugehörigkeit war erforderlich, dass der Antragsteller von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammte (Nr. 1), ihm die Eltern oder andere Verwandte bestätigende Merkmale wie Sprache, Erziehung und Kultur vermittelt hatten (Nr. 2) und der Antragsteller sich bis zum Verlassen des Aussiedlungsgebietes zum deutschen Volkstum bekannt hatte (Nr. 3).
49Diese Anforderungen erfüllte die Klägerin nicht vollständig. Denn das für die Prüfung zuständige Vertriebenenamt des Landratsamtes Bodenseekreis konnte seinerzeit nicht feststellen, dass der Klägerin bestätigende Merkmale wie Sprache, Erziehung und Kultur durch die Eltern oder andere Verwandte vermittelt worden waren. Die Klägerin habe bei ihrer Ankunft im Bodenseekreis nur sehr wenige Wörter Deutsch verstehen und sprechen können. Das hat die Klägerin nicht bestritten. Sie hat auch heute in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass sie zwar einige deutsche Wörter habe verstehen können, dass sie aber nicht Deutsch habe sprechen können.
50Möglicherweise hat die Behörde hierbei überzogene Anforderungen an die Sprachvermittlung gestellt, indem sie verlangt hat, dass der Antragsteller die deutsche Sprache als Muttersprache oder als bevorzugte Umgangssprache beherrscht. Dieser Maßstab war jedoch nicht offensichtlich rechtswidrig, weil er im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides im Mai 1998 der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur entsprach,
51vgl. BVerwG, Urteile vom 12.11.1996 – 9 C 8.96 – und vom 17.06.1997
52– 9 C 10.96 - ; von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht,
53Loseblattkommentar, Stand März 2018, § 6 BVFG n.F. Rn. 185.
54Aber auch, wenn man die geringeren Anforderungen an die Sprachvermittlung heranzieht, die nach der späteren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Auslegung des § 6 Abs. 2 Nr. 2 BVFG 1993 entwickelt worden sind, lässt sich eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der Ablehnung nicht feststellen. Danach war erforderlich, dass die Eltern oder andere Verwandte die deutsche Sprache neben der Landessprache vom Säuglingsalter bis zur Selbständigkeit „mit Gewicht“ vermittelten, d.h. dem Kind so beibrachten, wie sie sie selbst beherrschten. Der Kenntnis der deutschen Sprache zur Zeit der Aussiedlung kam hierbei Bedeutung als Indiz für die in der Kindheit erfolgte Sprachvermittlung zu,
55vgl. BVerwG, Urteil vom 19.10.2000 – 5 C 44.99 – , Beschluss vom 10.08.2016
56– 1 B 83.99 – , OVG NRW, Urteil vom 23.06.2017 – 11 A 3043/15 – .
57Eine derartige nachhaltige Vermittlung der deutschen Sprache im Sinne einer mehrsprachigen Erziehung hat aber bei der Klägerin nach ihren eigenen Angaben nicht stattgefunden. Sie hat auch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass sie zwar in der Kindheit häufig die deutsche Sprache gehört und auch verstanden habe. Sie habe jedoch auf Russisch geantwortet. Dies stimmt mit ihren Erklärungen im Widerspruchsschreiben vom 07.01.1997 überein, in dem sie geltend macht, sie habe wegen
58des russischen Schulunterrichts und des Fehlens deutscher Familien in der Umgebung und an ihrem Arbeitsplatz keine Möglichkeit gehabt, die deutsche Sprache zu lernen.
59Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit lässt sich auch nicht daraus herleiten, dass andere Verwandte der Klägerin als Spätaussiedler anerkannt wurden. Denn die Spätaussiedlereigenschaft ist für jeden Antragsteller individuell zu beurteilen. Dies gilt insbesondere für die Vermittlung der Sprachkenntnisse, die sich auch innerhalb einer (Groß)-Familie unterschiedlich entwickeln können. Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz ergibt sich aus der unterschiedlichen Einstufung von Familienangehörigen nicht, da es sich bei den individuellen Sprachkenntnissen der einzelnen Personen um unterschiedliche Sachverhalte handelt, die auch unterschiedlich bewertet werden dürfen.
60Es lässt sich auch nicht feststellen, dass das Festhalten des Bundesverwaltungsamtes an der bestandskräftigen Ablehnung aus anderen Gründen unerträglich ist.
61Insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte durch eine unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt. Es sind dem Gericht keine Fälle bekannt, in denen eine bestandskräftige Ablehnung der Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG aufgehoben worden ist.
62Das private Interesse der Klägerin an einer Aufhebung der Ablehnungsentscheidung überwiegt auch nicht deshalb, weil sie wegen des Fehlens der Spätaussiedlereigenschaft keine Ansprüche auf eine Fremdrente hat und deshalb die Höhe der Rentenzahlungen niedriger ausfallen als bei anerkannten Spätaussiedlern. Dass es sich hierbei um einen erheblichen Nachteil handelt, der die Klägerin sehr belastet, kann nachvollzogen werden. Es ist jedoch gleichwohl nicht unerträglich, an der bestandskräftigen Entscheidung festzuhalten. Denn der Gesetzgeber hat den Anspruch auf Fremdrente im Rahmen seines Gestaltungsspielraums nur solchen Personen zugestanden, die nach der Einreise eine Spätaussiedlerbescheinigung erhalten. Das ist bei der Klägerin nicht der Fall. Denn die Klägerin hatte bei der Einreise wegen unzureichender deutscher Sprachkenntnisse keinen Anspruch auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung.
63Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 Nr. 11 ZPO.
64Rechtsmittelbelehrung
65Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
66- 67
1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
- 68
2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
- 69
3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
- 70
4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
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5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
73Statt in Schriftform kann die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
74Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
75Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
76Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
77Beschluss
78Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
795.000,00 €
80festgesetzt.
81Gründe
82Der festgesetzte Streitwert entspricht dem gesetzlichen Auffangstreitwert im Zeitpunkt der Klageerhebung (§ 52 Abs. 2 GKG).
83Rechtsmittelbelehrung
84Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.
85Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
86Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
87Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
88Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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