Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 7 K 9608/17
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
Tatbestand
2Der am 00.00.1963 im Gebiet Pawlodar, Kasachstan, geborene Kläger begehrt das Wiederaufgreifen des Verfahrens und die Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG.
3Er stellte am 01.06.1991 einen Antrag auf Aufnahme als Aussiedler gemäß § 27 Abs. 1 BVFG. In seiner am 11.04.1980 ausgestellten Geburtsurkunde werden die Eltern I. S. und B. S. als deutsche Volkszugehörige bezeichnet. Nach den Angaben im Aufnahmeantrag waren auch die Großeltern Deutsche.
4Im vorgelegten Inlandspass aus dem Jahr 1980 war der Kläger mit deutscher Nationalität eingetragen. Im Antragsformular gab der Kläger an, seine Muttersprache sei Deutsch, die jetzige Umgangssprache in der Familie sei russisch. Er könne die deutsche Sprache verstehen und sprechen. In der Familie werde überhaupt nicht deutsch gesprochen. Die Frage nach der Pflege des deutschen Volkstums wurde verneint.
5Auf Anforderung des Bundesverwaltungsamts wurden am 24.11.1992 ergänzende Angaben zu den Sprachkenntnissen gemacht. Der Kläger erklärte, er habe von Geburt an Deutsch gesprochen. Er habe von den Eltern und den Großeltern sowie in der Schule die deutsche Sprache gelernt. Zurzeit besuche er einen privaten deutschen Sprachkurs, weil er von den Eltern einen deutschen Dialekt gelernt habe. In der Familie werde selten Deutsch gesprochen. Der Kläger könne in deutscher Sprache alles verstehen und ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache führen. Er kenne die deutschen Sitten und Gebräuche von den Eltern und Großeltern.
6Dem Kläger wurde am 14.01.1994 ein Aufnahmebescheid erteilt. Am 17.06.1994 reiste er mit seinen Eltern und seiner Familie in das Bundesgebiet ein. Am 29.06.1994 wurde er als Spätaussiedler registriert und in das Verteilverfahren einbezogen. Am 25.07.1994 stellte er bei der Landeshauptstadt Kiel einen Antrag auf Ausstellung einer Bescheinigung als Spätaussiedler gemäß § 15 Abs. 1 BVFG. Anlässlich der Vorsprache wurde festgestellt und vermerkt, dass der Kläger fast kein Deutsch verstehe und kein Deutsch spreche. Eine Verständigung sei nur über den Vater als Sprachmittler möglich gewesen. Der Kläger gab an, er habe nur ganz wenig Deutsch von den Eltern gelernt.
7Am 17.11.1994 wurde der Kläger in Begleitung seines Vaters erneut angehört und es wurde ihm mitgeteilt, dass ihm wegen mangelnder Sprachkenntnisse nur eine Bescheinigung als Abkömmling eines Spätaussiedlers, seines Vaters, ausgestellt werden könne. Auf die Frage an den Vater des Klägers, warum er seinem Sohn die deutsche Sprache nicht vermittelt habe, erklärte dieser, sein Sohn habe sich dafür nicht interessiert. Am 31.12.1994 wurde die Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG ausgestellt und dem Kläger am 10.01.1995 ausgehändigt.
8Am 09.02.1995 legte der Verein „Migration e.V. – Beratungsstelle für Spätaussiedler“ für den Kläger Widerspruch gegen die „Anerkennung nach § 7 Abs. 2 BVFG“ ein. Der Kläger habe einen Aufnahmebescheid als Spätaussiedler erhalten und sei bei der Einreise als Spätaussiedler registriert worden. Der Kläger habe sich bei der Beratung ohne Dolmetscher verständigen können und müsse schon bei der Einreise deutsche Sprachkenntnisse gehabt haben.
9Am 16.02.1995 fand auf Vorladung des Vertriebenenamts ein erneutes Gespräch mit dem Kläger statt. Das Gespräch wurde ohne Dolmetscher geführt. In dem darüber angefertigten Vermerk wurde festgehalten, dass der Kläger im Gegensatz zu seinen Eltern hochdeutsch spreche. Ein Gespräch sei mühsam und verlaufe stockend. Viele Fragen müssten mehrmals wiederholt werden. Er habe seit dem 26.09.1994 einen deutschen Sprachkurs besucht. Auf Befragen erklärte der Kläger, er habe seit seinem 3. Lebensjahr einen russischen Kindergarten besucht. Seit diesem Zeitpunkt sei in der Familie nur noch Russisch gesprochen worden. Deutsch habe er nur in der Schule gelernt. Auch die Schwester habe Deutsch nur in der Schule gelernt, sei aber als Spätaussiedlerin anerkannt worden.
10Am 02.06.1995 wurde der Widerspruch zurückgenommen.
11Mit Schreiben vom 25.11.2013 beantragte die Prozessbevollmächtigte des Klägers, die ablehnende Entscheidung zu überprüfen und den Kläger als Spätaussiedler anzuerkennen. Er erfülle nun alle Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 BVFG in der Fassung des 10. Änderungsgesetzes zum BVFG. Aus den Gesprächsprotokollen der Behörde vom 16.02.1995 ergebe sich, dass ein Gespräch mit dem Kläger ohne Dolmetscher möglich gewesen sei.
12Mit Bescheid vom 18.07.2016 wurde der Antrag als Antrag auf Wiederaufgreifen des Bescheinigungsverfahrens ausgelegt und abgelehnt. In der Begründung wurde ausgeführt, ein Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liege nicht vor. Die Änderung der Rechtslage durch das 10. Änderungsgesetz sei nicht zugunsten des Klägers erfolgt. Denn die Voraussetzungen für den Erwerb des Spätaussiedlerstatus richteten sich nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers. Diese Rechtslage werde durch das Änderungsgesetz nicht berührt.
13Auch ein Wiederaufgreifen nach allgemeinen Grundsätzen gemäß § 51 Abs. 5 i.V.m.
14§§ 48, 49 VwVfG komme nicht in Betracht. Selbst bei einer Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Bescheides bestünde kein Anspruch auf eine Aufhebung der Entscheidung. Das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit habe kein größeres Gewicht als der Grundsatz der Rechtssicherheit. Eine Aufrechterhaltung der Ablehnung sei auch nicht schlechthin unerträglich.
15Der Kläger legte gegen den Bescheid mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 10.08.2016 am gleichen Tag Widerspruch ein. In der Begründung hieß es, der Ablehnungsbescheid widerspreche der allgemeinen Linie, nach der das BVA die Neuregelung kommentiert habe. Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 06.06.2017 zurückgewiesen.
16Hiergegen hat der Kläger am 28.06.2017 Klage erhoben, mit der sein Begehren auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung weiterverfolgt.
17Mit der Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, der Kläger erfülle nach der Änderung des § 6 Abs. 2 BVFG durch das 10. Änderungsgesetz die Voraussetzungen als Spätaussiedler. Er stamme von deutschen Eltern ab. Die Nichtanwendung der neuen Rechtslage auf Nachkommen von Spätaussiedlern, die vor der Gesetzesänderung eingereist seien, sei willkürlich und verstoße gegen Art. 3 GG. Ein vernünftiger Grund für diese Differenzierung liege nicht vor. Das Ziel der Gesetzesänderung, die Zahl der Spätaussiedler zu erhöhen, könne durch eine Einbeziehung von Personen, die schon länger in Deutschland lebten, besser erreicht werden, als durch einen Ausschluss.
18Es sei zwar zutreffend, dass dem Kläger durch seine Eltern und Verwandten keine bestätigenden Merkmale wie die deutsche Sprache vermittelt worden seien. Dem Kläger stehe aber wegen einer Änderung der Rechtslage ein Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens zu. Die Kenntnisse der deutschen Sprache könnten nach der neuen Rechtslage durch einen Sprachtest nachgewiesen werden. Dass es auf den Zeitpunkt der Einreise ankomme, ergebe sich lediglich aus allgemeinen Verwaltungsvorschriften der Beklagten und sei für das Gericht nicht verbindlich.
19Der Kläger beantragt,
20die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.06.2017 zu verpflichten, das Bescheinigungsverfahren des Klägers wiederaufzugreifen und dem Kläger eine Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG auszustellen,
21hilfsweise,
22die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.06.2017 zu verpflichten, dem Kläger eine Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG auszustellen.
23Die Beklagte beantragt,
24die Klage abzuweisen.
25Sie hält an der Auffassung fest, dass der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung habe. Zwar sei der Antrag des Klägers auf Ausstellung der Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG nicht ausdrücklich beschieden worden. Den Widerspruch gegen die Anerkennung als Abkömmling eines Spätaussiedlers habe der Kläger seinerzeit zurückgenommen. Deshalb liege möglicherweise keine bestandskräftige Ablehnung der Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung vor.
26Falls dies aber der Fall sei, stehe dem Kläger kein Grund für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zu, da das 10. Änderungsgesetz keine Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Einreise des Klägers entfalte. Zweck des Gesetzes sei allein die Erleichterung der Aussiedlung für noch in den Aussiedlungsgebieten wohnende Personen gewesen. Eine Erstreckung auf die bereits im Bundesgebiet lebenden Angehörigen von Spätaussiedlern sei nicht vorgesehen gewesen (BVerwG, Urteil vom 16.07.2015 – 1 C 29/14 –). Daher liege auch kein Verstoß gegen Art. 3 GG vor.
27Selbst wenn es sich nicht um ein Wiederaufgreifen, sondern um eine erstmalige Entscheidung über die Anerkennung als Spätaussiedler handele, könne der Kläger diesen Rechtsstatus nicht erhalten. Im Zeitpunkt der Einreise des Klägers sei maßgeblich für die Beurteilung der Spätaussiedlereigenschaft § 6 Abs. 2 BVFG in der ab dem 02.01.1993 geltenden Fassung gewesen. Dessen Voraussetzungen habe der Kläger nicht erfüllt, da ihm seine Eltern keine bestätigenden Eigenschaften wie Sprache, Erziehung und Kultur im Sinne des § 6 Abs. 2 Nr. 2 BVFG vermittelt hätten. Dies hätten der Kläger und sein Vater im seinerzeitigen Bescheinigungsverfahren selbst angegeben. Mit dem Kläger sei in der Familie kein Deutsch gesprochen worden.
28Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
29E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
30Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 18.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.06.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens und auf die Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung.
31Es kann offen bleiben, ob der am 25.07.1994 gestellte Antrag auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung bestandskräftig abgelehnt wurde oder nicht. In beiden Fällen kann dem Kläger heute keine Spätaussiedlerbescheinigung ausgestellt werden.
32Falls eine bestandskräftige konkludente Ablehnung des Antrags vom 25.07.1994 in der Gestalt der Ausstellung der Bescheinigung gemäß § 15 Abs. 2 BVFG vorliegen sollte, kommt die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung nur in Betracht, wenn die Bestandskraft des Bescheides vorher durch ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß
33§ 51 VwVfG beseitigt wurde. Der Kläger hat jedoch keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Bescheinigungsverfahrens.
34Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Wiederaufgreifen eines bestandskräftig abgeschlossenen Bescheinigungsverfahrens nach § 51 Abs. 1 oder nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG sind nicht erfüllt.
35Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung und Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Dies ist im vorliegenden Verfahren nicht der Fall.
36Der Kläger kann sich insbesondere nicht auf eine Änderung der Rechtslage durch das am 14.09.2013 in Kraft getretene 10. Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vom 06.09.2013 (BGBl. I S. 3554) berufen. Diese Änderung wirkt sich nicht zugunsten des Klägers aus. Für seinen Anspruch auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG ist nämlich weiterhin die Rechtslage im Zeitpunkt seiner Einreise in das Bundesgebiet am 17.06.1994 maßgeblich.
37Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für den Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Einreise zum dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet abzustellen,
38BVerwG, Urteil vom 10.10.2018 – 1 C 26/17 – juris, Rn. 24,
39Urteile vom 16.07.2015 – 1 C 30.14 und 1 C 29.14 – .
40Dies ergibt sich nicht nur aus Verwaltungsvorschriften, sondern unmittelbar aus der Regelung in § 4 Abs. 1 BVFG, die definiert, wer ein Spätaussiedler ist. Spätaussiedler ist ein deutscher Volkszugehöriger, der das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach dem 31.12.1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen und innerhalb von 6 Monaten in Deutschland seinen ständigen Aufenthalt genommen hat, wenn er seit 1945, 1952 oder seit seiner Geburt seinen Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten hatte. Die Eigenschaft als Spätaussiedler entsteht also erst mit der dauerhaften Übersiedlung in das Bundesgebiet. Deshalb ist dies der maßgebliche Zeitpunkt, in dem alle Voraussetzungen für die Entstehung der Spätaussiedlereigenschaft vorliegen müssen. Welche Voraussetzungen dies sind, richtet sich nach der zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtslage. Das bedeutet, dass günstige Rechtsänderungen, die erst nach der Übersiedlung in Kraft treten, einem Antragsteller grundsätzlich nicht mehr zugutekommen. Dies gilt auch für das 10. BVFG-Änderungsgesetz. Dieses entfaltet mangels einer ausdrücklichen Regelung keine Rückwirkung auf Übersiedlungen vor seinem Inkrafttreten,
41vgl. BVerwG, Urteil vom 10.10.2018 – 1 C 26/17 – juris Rn. 25 f.
42In der hiermit verbundenen Privilegierung der in den Aussiedlungsgebieten verbliebenen Deutschstämmigen gegenüber denjenigen, die bereits vorher eingereist sind, liegt keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Entscheidung des Gesetzgebers, bereits übergesiedelte Personen nicht an der Lockerung der rechtlichen Anforderungen an die deutsche Volkszugehörigkeit teilhaben zu lassen, beruht auf einem sachlichen Grund. Bezweckt war die Erleichterung der Übersiedlung für noch im Aussiedlungsgebiet wohnende Personen. Diese sollte die Anforderungen an einen Spätaussiedler an eine im Lauf der Zeit eingetretene Veränderung der Lebensumstände in den Aussiedlungsgebieten anpassen. Durch den vermehrten Wegzug deutscher Familien war es immer schwieriger geworden, die deutsche Sprache in den Familien weiterzugeben. Außerdem wurde in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion die Nationalität nicht mehr regelmäßig in die Inlandspässe und Personenstandsurkunden eingetragen. Hierdurch wurde es praktisch unmöglich, noch ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abzugeben. Mit den Erleichterungen für den Spracherwerb und das Bekenntnis sollte der Zuzug von Spätaussiedlern wieder gefördert werden,
43vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zum Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 17/13937 vom 12.06.2013 und VG Köln, Urteil vom 03.07.2020 – 7 K 7199/19 – juris, Rn. 21 ff.
44Zweck des Gesetzes war es dagegen nicht, den bereits in Deutschland lebenden Familienangehörigen, die mit dem Spätaussiedler eingereist waren, einen besseren Zugang zu den mit dem Spätaussiedlerstatus verbundenen Vergünstigungen, insbesondere zu den Ansprüchen nach dem Fremdrentengesetz, zu ermöglichen,
45vgl. BVerwG, Urteil vom 10.10.2018 – 1 C 26/17 – juris, Rn. 28.
46Auch die Sachlage hat sich nicht zugunsten des Klägers verändert. Möglicherweise kann der Kläger jetzt ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache führen. Es wurde vorgetragen, der Kläger erfülle jetzt alle Anforderungen des § 6 Abs. 2 BVFG 2013. Nachgewiesen ist dies bisher allerdings nicht. Aber auch wenn der Kläger jetzt bessere deutsche Sprachkenntnisse hätte, würde sich dies nicht zu seinen Gunsten auswirken. Denn es kommt auch bei der Feststellung der Sprachvermittlung durch die Eltern, die Voraussetzung für den Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft nach der Rechtslage im Jahr 1994 waren, auf den Zeitpunkt der Einreise an, und nicht auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Verfahren.
47Andere Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG sind nicht geltend gemacht worden. Ein Anspruch auf Aufhebung einer bestandskräftigen Ablehnungsentscheidung kann somit nur noch bei Anwendung der allgemeinen Vorschriften über die Aufhebung von bestandskräftigen Verwaltungsakten nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG in Betracht kommen. Danach steht die Entscheidung über die Aufhebung im Ermessen der Behörde.
48Der Kläger hat keinen Anspruch auf die nachträgliche Aufhebung eines möglicherweise bestandskräftigen Ablehnungsbescheides vom 31.12.1994.
49Das Bundesverwaltungsamt hat den Antrag auf Erlass einer neuen Sachentscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung ermessensfehlerfrei abgelehnt. Die Behörde hat hierbei zutreffend auf die Abwägung der grundsätzlich gleichwertigen Belange des Schutzes der Bestandskraft der ablehnenden Entscheidung und damit der Belange des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit auf der einen und auf das Interesse des Klägers an einer erneuten Sachentscheidung auf der anderen Seite abgehoben. Es ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, dass sie im Ergebnis dem öffentlichen Interesse an Rechtsfrieden und Rechtssicherheit den Vorzug gegeben hat. Das Ermessen der Behörde zu Gunsten des Betroffenen verdichtet sich lediglich dann, wenn das Festhalten an dem bestandskräftigen Verwaltungsakt schlechthin unerträglich wäre,
50vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2011 – 5 C 9/11 – , Urteil vom 10.10.2018
51– 1 C 26/17 – juris Rn. 31.
52Ob dies der Fall ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte ab. Die Ablehnung des Wiederaufgreifens eines Verfahrens ist insbesondere dann schlechthin unerträglich, wenn die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als ein Verstoß gegen die guten Sitten, Treu und Glauben oder den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz zu bewerten wäre oder eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Entscheidung gegeben ist. Diese Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung sind nicht erfüllt.
53Insbesondere ist die Ablehnung der Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung durch die Vertriebenenbehörde der Stadt Kiel nicht offensichtlich rechtswidrig. Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung richtet sich nach der im Zeitpunkt der Übersiedlung des Klägers im Juni 1994 geltenden Rechtslage,
54vgl. BVerwG, Urteile vom 16.07.2015 – 1 C 29.14 – und vom 10.10.2018
55– 1 C 26.17 – ,
56also nach der Fassung der §§ 4 und 6 Abs. 2 BVFG 1993. Danach konnte Spätaussiedler nur ein deutscher Volkszugehöriger sein. Für die deutsche Volkszugehörigkeit war erforderlich, dass der Antragsteller von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammte (Nr. 1), ihm die Eltern oder andere Verwandte bestätigende Merkmale wie Sprache, Erziehung und Kultur vermittelt hatten (Nr. 2) und der Antragsteller sich bis zum Verlassen des Aussiedlungsgebietes zum deutschen Volkstum bekannt hatte (Nr. 3).
57Diese Anforderungen erfüllte der Kläger nicht vollständig. Denn das für die Prüfung zuständige Vertriebenenamt konnte seinerzeit nicht feststellen, dass dem Kläger bis zu seiner Aussiedlung bestätigende Merkmale wie Sprache, Erziehung und Kultur durch die Eltern oder andere Verwandte vermittelt worden waren. Der Kläger habe bei seiner Vorsprache zum Zweck der Beantragung der Spätaussiedlerbescheinigung fast kein Deutsch verstanden und kein Deutsch gesprochen. Eine Verständigung sei nur über den Vater als Sprachmittler möglich gewesen. Der Kläger sowie der ihn begleitende Vater bestätigten seinerzeit, dass der Kläger nur ganz wenig Deutsch von seinen Eltern gelernt habe. Seit seinem 3. Lebensjahr habe er einen russischen Kindergarten besucht und die Familie habe seit diesem Zeitpunkt nur noch Russisch mit ihm gesprochen.
58Der Kläger bestreitet auch heute nicht, dass er bei seiner Einreise kaum Deutsch gesprochen habe. Seine Prozessvertreterin trägt jedoch vor, der Kläger habe jedenfalls bei seiner Anhörung im Vertriebenenamt am 16.02.1995 ein Gespräch in deutscher Sprache ohne Dolmetscher führen können. Eine Verbesserung der Sprachkenntnisse 8 Monate nach der Einreise war jedoch seinerzeit für die Feststellung des Merkmals der Sprachvermittlung durch die Eltern nicht relevant. Dieses Merkmal musste im Zeitpunkt der Einreise vorliegen. Denn bei späteren Sprachprüfungen konnte nicht mehr ermittelt werden, ob die Sprachfähigkeiten auf der Vermittlung durch die Eltern beruhten oder auf einem nachträglichen Erlernen im Bundesgebiet durch Sprachkurse.
59Möglicherweise hat die Behörde hierbei überzogene Anforderungen an die Sprachvermittlung gestellt. Seinerzeit wurde in der Verwaltungspraxis verlangt, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Einreise die deutsche Sprache als Muttersprache oder als bevorzugte Umgangssprache beherrscht. Dieser Maßstab war jedoch nicht offensichtlich rechtswidrig, weil er im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag im Dezember 1994 der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur entsprach,
60vgl. BVerwG, Urteile vom 12.11.1996 – 9 C 8.96 – und vom 17.06.1997
61– 9 C 10.96 - ; von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht,
62Loseblattkommentar, Stand März 2018, § 6 BVFG n.F. Rn. 185.
63Aber auch, wenn man die geringeren Anforderungen an die Sprachvermittlung heranzieht, die nach der späteren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Auslegung des § 6 Abs. 2 Nr. 2 BVFG 1993 entwickelt worden sind, lässt sich eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der Ablehnung nicht feststellen. Danach war erforderlich, dass die Eltern oder andere Verwandte die deutsche Sprache neben der Landessprache vom Säuglingsalter bis zur Selbständigkeit „mit Gewicht“ vermittelten, d.h. dem Kind so beibrachten, wie sie sie selbst beherrschten. Der Kenntnis der deutschen Sprache zur Zeit der Aussiedlung kam hierbei Bedeutung als Indiz für die in der Kindheit erfolgte Sprachvermittlung zu,
64vgl. BVerwG, Urteil vom 19.10.2000 – 5 C 44.99 – , Beschluss vom 10.08.2016
65– 1 B 83.99 – , OVG NRW, Urteil vom 23.06.2017 – 11 A 3043/15 –.
66Eine derartige nachhaltige Vermittlung der deutschen Sprache im Sinne einer mehrsprachigen Erziehung hat aber bei dem Kläger nach seinen eigenen Angaben nicht stattgefunden. Vielmehr ist in der Familie seit dem Eintritt des Klägers in den Kindergarten im Alter von 3 Jahren nur noch Russisch gesprochen worden. Eine Pflege des deutschen Volkstums wurde ebenso wie der deutsche Sprachgebrauch in der Familie im Aufnahmeantrag verneint.
67Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit lässt sich auch nicht daraus herleiten, dass die Schwester des Klägers als Spätaussiedlerin anerkannt wurde. Vielmehr bestätigen die beigezogenen Auszüge aus der Vertriebenenakte der Schwester, dass auch diese kaum Deutsch sprach und somit eine nachhaltige familiäre Vermittlung von deutscher Sprache und Kultur in der Familie nicht stattgefunden hat. Die Schwester wurde allein deshalb als Spätaussiedlerin anerkannt, weil eine nachträgliche Einbeziehung in den Aufnahmebescheid der Eltern nicht möglich war und die Schwester mit ihrer Familie sonst hätte ausreisen müssen. Das sollte vermieden werden. Es kann dahinstehen, ob diese Verfahrensweise rechtswidrig war. Denn der Kläger kann jedenfalls keine Gleichbehandlung im Unrecht verlangen.
68Die Ablehnung der Spätaussiedlerbescheinigung war auch nicht deshalb offensichtlich rechtswidrig, weil dem Kläger zuvor ein Aufnahmebescheid erteilt worden war. Denn die damals zuständige Vertriebenenbehörde traf eine eigenständige Entscheidung über die Spätaussiedlereigenschaft und war an den Aufnahmebescheid, der nur eine vorläufige Einschätzung vornahm, nicht gebunden. Auf den Aufnahmebescheid kann der Kläger sich auch deshalb nicht berufen, weil dieser offenbar durch unrichtige Angaben im Aufnahmeantrag erwirkt worden war. Denn der Kläger hatte erklärt, er könne ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache führen. Dies war aber im Zeitpunkt der Einreise nicht zutreffend.
69Es lässt sich auch nicht feststellen, dass das Festhalten des Bundesverwaltungsamtes an der bestandskräftigen Ablehnung aus anderen Gründen unerträglich ist.
70Das private Interesse des Klägers an einer Aufhebung der Ablehnungsentscheidung überwiegt auch nicht deshalb, weil er wegen des Fehlens der Spätaussiedlereigenschaft keine Ansprüche auf eine Fremdrente hat und deshalb die Höhe der Rentenzahlungen niedriger ausfallen als bei anerkannten Spätaussiedlern. Dass es sich hierbei um einen erheblichen Nachteil handelt, ist nachvollziehbar. Es ist jedoch gleichwohl nicht unerträglich, an der bestandskräftigen Entscheidung festzuhalten. Denn der Gesetzgeber hat den Anspruch auf Fremdrente im Rahmen seines Gestaltungsspielraums nur solchen Personen zugestanden, die nach der Einreise eine Spätaussiedlerbescheinigung erhalten. Das ist bei dem Kläger nicht der Fall. Denn der Kläger hatte bei der Einreise wegen unzureichender deutscher Sprachkenntnisse keinen Anspruch auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung.
71Falls man davon ausgeht, dass keine bestandskräftige Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung in den Jahren 1994, 1995 vorliegt, bedarf es keines Wiederaufgreifens des Verfahrens. Auch wenn erstmalig über die Erteilung der Spätaussiedlerbescheinigung zu entscheiden ist, hat der Kläger jedoch keinen Anspruch auf die Erteilung.
72Denn die Frage, ob der Kläger Spätaussiedler ist, beurteilt sich auch in diesem Fall nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Einreise und damit nach § 6 Abs. 2 BVFG in der Fassung vom 02.01.1993. Es kann aber – wie bereits ausgeführt – nicht festgestellt werden, dass dem Kläger bis zu seiner Selbständigkeit bestätigende Merkmale wie Sprache, Erziehung und Kultur durch seine Eltern mit Gewicht vermittelt worden sind.
73Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 Nr. 11 ZPO.
74Rechtsmittelbelehrung
75Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
76- 77
1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
- 78
2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
- 79
3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
- 80
4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
- 81
5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
83Statt in Schriftform kann die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
84Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
85Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
86Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
87Beschluss
88Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
895.000,00 €
90festgesetzt.
91Gründe
92Der festgesetzte Streitwert entspricht dem gesetzlichen Auffangstreitwert im Zeitpunkt der Klageerhebung (§ 52 Abs. 2 GKG).
93Rechtsmittelbelehrung
94Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.
95Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
96Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
97Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
98Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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