Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 14 K 6380/18.A
Tenor
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 2 bis 4 des Bescheids vom 30. August 2018 verpflichtet festzustellen, dass in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG bezogen auf Griechenland vorliegt.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
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Tatbestand
2Der Kläger ist staatenloser Palästinenser, stammt aus Syrien und wendet sich mit seiner Klage gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig wegen der Gewährung internationalen Schutzes in Griechenland.
3Der im Jahr 1994 in Damaskus geborene Kläger reiste im Juli 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte im August 2018 einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erhielt über einen EURODAC-Treffer Kenntnis davon, dass dem Kläger im Mai 2017 in Griechenland internationaler Schutz gewährt worden war.
4Der Kläger bestätigte gegenüber dem Bundesamt, in Griechenland als Flüchtling anerkannt worden zu sein und einen Aufenthaltstitel für drei Jahre erhalten zu haben. Er habe sich insgesamt für ca. ein Jahr und drei bis vier Monate in Griechenland aufgehalten. Während dieser Zeit habe er auf der Insel Chios, in Athen und in Thessaloniki jeweils in Flüchtlingsunterkünften gelebt und habe zunächst Sozialleistungen vom griechischen Staat erhalten. In den letzten vier Monaten seien ihm die Leistungen gestrichen worden, weil ihm vorgeworfen worden sei, die Flüchtlingsunterkunft freiwillig verlassen zu haben. Während dieser vier Monate sei er von seiner in Frankreich lebenden Schwester unterstützt worden. Er könne sich nicht vorstellen nach Griechenland zurückzukehren. Als er Syrien verlassen habe, sei sein Ziel Deutschland gewesen. Zudem lebe seine Lebensgefährtin, die er offiziell heiraten wolle, in Deutschland und sei als Flüchtling anerkannt.
5Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 30. August 2018 den Antrag als unzulässig ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Es forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist drohte das Bundesamt dem Kläger die Abschiebung nach Griechenland an. Das Bundesamt stellte fest, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfte. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete das Bundesamt auf einen Monat ab dem Tag der Abschiebung. Der Bescheid wurde dem Kläger am 11. September 2018 ausgehändigt.
6Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass der Asylantrag des Klägers wegen der Gewährung internationalen Schutzes in Griechenland unzulässig sei. Abschiebungsverbote lägen nicht vor, weil die humanitären Bedingungen in Griechenland auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Antragstellers nicht zu der Annahme führten, dass bei einer Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege.
7Der Kläger hat am 17. September 2018 Klage erhoben. Er führt aus, ihm drohe bei einer Rückkehr nach Griechenland eine gegen Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) bzw. Art. 3 EMRK verstoßende erniedrigende Behandlung. Seine jetzige Ehefrau, die er im April 2019 in Mainz standesamtlich geheiratet hat, lebe in Deutschland und ihr sei der Flüchtlingsstatus durch das Bundesamt zuerkannt worden. Sie sei nun im vierten Monat schwanger.
8Der Kläger hat ursprünglich sinngemäß die Aufhebung des Bescheids beantragt. Er beantragt nunmehr unter Klagerücknahme im Übrigen,
9den Bescheid des Bundesamtes vom 30. August 2018 in den Ziffern 2 bis 4 mit der Ausnahme der Feststellung, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden darf, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dass in der Person des Klägers zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezogen auf Griechenland vorliegen,
10hilfsweise,
11den Bescheid des Bundesamtes vom 30. August 2018 mit der Ausnahme der Feststellung, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden darf, aufzuheben.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie verweist auf die Begründung des angegriffenen Bescheids.
15Das Gericht hat zwei von dem Kläger eingelegte Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (14 L 2091/18.A und 14 L 2100/18.A) jeweils wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abgelehnt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (acht PDF-Dokumente) und der Ausländerbehörde (zwei Hefter) verwiesen.
16Entscheidungsgründe
17Die Kammer kann entscheiden, obwohl die Beklagte nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist, weil sie ordnungsgemäß geladen und auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 VwGO.
18Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Im Übrigen ist die Klage mit dem Hauptantrag zulässig und begründet.
19Der Kläger hat Anspruch darauf, die Beklagte zu verpflichten, ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Griechenlands festzustellen. Die in den Ziffern 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamtes vom 30. August 2018 getroffenen Regelungen, die mit dem Hauptantrag allein angefochten sind, sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO.
20I. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG, weil ihm in Griechenland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
211. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft („real risk“), einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
22Vgl. BVerwG, Urteile vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris, Rn. 25, und vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 32.
23Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können schlechte humanitäre Verhältnisse in einem Staat nur in ganz besonderen Ausnahmefällen eine erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK darstellen. Dafür müssen die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) erreichen. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab. Allerdings enthält Art. 3 EMRK weder eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen noch begründet Art. 3 EMRK eine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aber für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten gesehen. Bei diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis können schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erfüllen, wenn die Betroffenen – in einem ihnen vollständig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit und Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden.
24Vgl. EGMR, Urteile vom 13. Dezember 2016 – Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien, Rn. 174; vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien und Griechenland, Rn. 219, 249 ff.; und vom 4. November 2014, Tarakhel/Schweiz, Nr. 29217/12, Rn. 94 ff.
25Diese Rechtsprechung ist vom Bundesverwaltungsgericht auf anerkannte Flüchtlinge übertragen worden, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Flüchtlingsanerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen.
26Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25.18 –, juris, Rn. 11.
27Für die Bewertung, ob bestimmte Lebensbedingungen im Zielstaat eine unmenschliche Behandlung darstellen, ist neben der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 4 GRC zurückzugreifen. Denn der durch Art. 4 GRC vermittelte Schutz entspricht im Hinblick auf Art. 52 Abs. 3 GRC dem des Art. 3 EMRK.
28Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, Jawo, juris, Rn. 91; Beschluss vom 13. November 2019 – C-540/17 u. a. –, Hamed u. a., juris, Rn. 39; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Oktober 2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris, Rn. 15.
29Auch der Europäische Gerichtshof betont den Ausnahmecharakter einer Verletzung von Art. 4 GRC durch die Lebensbedingungen in einem Mitgliedstaat. Systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen in einem Mitgliedstaat fallen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, ("Bett, Brot, Seife") und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 34.19 –, juris, Rn. 19, m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 – 11 A 228/15.A –, juris, Rn. 44; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 27. Mai 2019 – A 4 S 1329/19 –, juris, Rn. 5.
31Eine unabhängig vom Willen des Betroffenen bestehende Situation extremer materieller Not liegt nicht vor, wenn der Betroffene nicht den Versuch unternimmt, sich unter Zuhilfenahme gegebener, wenn auch bescheidener Möglichkeiten und gegebenenfalls unter Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes eine Existenz im Abschiebezielstaat aufzubauen.
32Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 – 11 A 228/15.A –, juris, Rn. 47 f.; OVG Schl.-H., Urteil vom 25. Juli 2019 – 4 LB 12/17 –, juris, Rn. 134 f. unter Verweis auf BVerwG, Vorlagebeschluss an den EuGH vom 2. August 2017 – 1 C 2.17 –, juris, Rn. 22.
33Wenn der Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, liegt allein hierin noch keine ernsthafte Gefahr einer gegen Art. 4 GRC verstoßenden Behandlung.
34Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 34.19 –, juris, Rn. 16 f., m. w. N. zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
352. Gemessen hieran bestehen erhebliche Gründe für die Annahme, dass der Kläger im Fall der Abschiebung nach Griechenland tatsächlich Gefahr liefe („real risk“), einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Denn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit würde es ihm in Griechenland nicht gelingen, eine Unterkunft zu finden.
36Der griechische Staat gewährt anerkannten Schutzberechtigten, die aus dem Ausland nach Griechenland zurückkehren, keine Hilfe bei dem Erhalt einer Unterkunft (unten a). Sie haben keinen effektiven Zugang zu Unterkünften für Flüchtlinge, die von internationalen Hilfsorganisationen betreut werden (unten b). Es besteht die tatsächliche Gefahr, dass sie auch nicht in einer Obdachlosenunterkunft unterkommen können (unten c). Anerkannte Schutzberechtigte können eine Unterkunft auf dem freien Wohnungsmarkt zumindest deshalb nicht anmieten, weil sie weder die Möglichkeit haben, ausreichend schnell nach ihrer Rückkehr nach Griechenland das für die Zahlung der Miete notwendige Einkommen durch eigene Arbeit zu erwirtschaften, noch unter Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen die Miete zu bezahlen (unten d). Nichtregierungsorganisationen bieten keine ausreichende Hilfe, Obdachlosigkeit zu vermeiden. Es besteht zudem die tatsächliche Gefahr, dass anerkannte Schutzberechtigte die ihnen drohende Verletzung von Art. 4 GRC nicht durch Rechtsschutz vor den griechischen Gerichten abwenden können (unten e). In der Person des Klägers liegen keine Besonderheiten vor, die ausnahmsweise eine andere Prognose rechtfertigen könnten (unten f).
37a) International Schutzberechtigte werden nach einer Rückkehr nach Griechenland nicht vom griechischen Staat dabei unterstützt, eine Wohnung zu erhalten.
38Nach dem Präsidialdekret 141/2013 haben international Schutzberechtigte dieselben Rechte wie griechische Staatsangehörige auf soziale Unterstützung. Besondere staatliche Hilfsangebote für anerkannte Schutzberechtigte neben dem allgemeinen staatlichen Sozialsystem bestehen nicht.
39Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand: 19. März 2020, S. 28; aida, Country Report: Greece, 2019 Update, S. 217 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 9.
40In Bezug auf den Zugang zu Wohnraum haben international Schutzberechtigte nur die gleichen Rechte wie andere sich legal in Griechenland aufhaltende Drittstaatsangehörige (nicht aber die gleichen Rechte wie griechische Staatsangehörige, vgl. hierzu die dies eröffnende Vorschrift Art. 32 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU).
41Vgl. RSA & PRO ASYL, Third party intervention: Kurdestan Darwesh and others vs. Greece and the Netherlands, Application no. 523347/19 (EGMR), 4. Juni 2020, Fußnote 60; Raphaelswerk e. V., Informationen für Flüchtlinge, die nach Griechenland rücküberstellt werden, Dezember 2019, S. 9.
42Die griechischen Staatsangehörigen bzw. Drittstaatsangehörigen (und deshalb auch anerkannten international Schutzberechtigten) zustehenden Rechte umfassen keinen Anspruch auf Zuteilung einer Wohnung durch den griechischen Staat oder auf Unterbringung in einer staatlich finanzierten Einrichtung. Anerkannte Schutzberechtigte müssen Wohnraum deshalb auf dem freien Wohnungsmarkt beschaffen. Auch hierbei erhalten sie keine staatliche Unterstützung.
43Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Stade vom 6. Dezember 2018, S. 2; aida, Country Report: Greece, 2019 Update, S. 217; RSA & PRO ASYL, Third party intervention: Kurdestan Darwesh and others vs. Greece and the Netherlands, Application no. 523347/19 (EGMR), 4. Juni 2020, Rn. 21.
44b) Zu dem von dem UNHCR durchgeführten und von der Europäischen Union finanzierten Hilfsprogramm "ESTIA" (Emergency Support to Integration and Accommodation) haben international Schutzberechtigte keinen Zugang. Dieses nur besonders schutzbedürftigen Personen offenstehende Programm hat die Unterbringung von Asylsuchenden während der Prüfung ihres Asylantrags zum Gegenstand, nicht aber die Unterbringung von anerkannten Schutzberechtigten. Diese durften in der Vergangenheit zwar noch für sechs Monate nach ihrer Anerkennung in der Unterkunft verbleiben. Nach einer Änderung des griechischen Rechts zum Beginn des Jahres 2020 dürfen Schutzberechtigte nunmehr nach ihrer Anerkennung aber nur noch für 30 Tage in der Unterkunft verbleiben. Eine Unterbringung rückgeführter anerkannt Schutzberechtigter in ein Aufnahmelager für Asylsuchende ist demnach ausgeschlossen.
45Vgl. RSA & PRO ASYL, Third party intervention: Kurdestan Darwesh and others vs. Greece and the Netherlands, Application no. 523347/19 (EGMR), 4. Juni 2020, Rn. 22 f.; aida, Country Report: Greece, 2019 Update, S. 217; RESPOND, Reception Policies, Practices and Responses; Greece Country Report, Februar 2020, S. 38 ff; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Leipzig vom 28. Januar 2020, S. 1 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 5, vgl. auch die rückgängige Anzahl von untergebrachten anerkannten Schutzberechtigten nach den Angaben der wöchentlichen Berichte der Projektwebseite: http://estia.unhcr.gr/en/category/factsheets/.
46In Kenntnis der schwierigen Situation speziell von anerkannten Schutzberechtigten ist für deren Unterstützung zum 1. Juni 2019 das von der Europäischen Kommission finanzierte und von der International Organization for Migration (IOM) in Zusammenarbeit mit weiteren Nichtregierungsorganisationen durchgeführte sog. "HELIOS 2 - Programm" (Hellenic Integration Support for Beneficiaries of International Protection) gestartet worden, das bis November 2020 laufen soll. Das Programm beinhaltet auch Hilfe bei der Suche nach einer Unterkunft. In das Programm aufgenommen werden aber nur Schutzberechtigte, die ihre Anerkennung nach dem 1. Januar 2018 erhalten haben. Von seinem Start bis zum 29. Mai 2020 haben 757 Haushalte durch das Programm Mietzuschüsse erhalten.
47Vgl. RSA & PRO ASYL, Third party intervention: Kurdestan Darwesh and others vs. Greece and the Netherlands, Application no. 523347/19 (EGMR), 4. Juni 2020, Rn. 30 ff.; aida, Country Report: Greece, 2019 Update, S. 219; vgl. zu den Anspruchsvoraussetzungen und den einzuhaltenden Fristen auch das „Project Regulation Handbook“, Juni 2020, S. 2.
48Es kann schon nicht davon ausgegangen werden, dass anerkannte Schutzberechtigte, die erst Ende des Jahres 2020 nach Griechenland zurückgeführt werden, noch in das Programm aufgenommen werden würden. Dies scheitert zum einen an dem bereits absehbaren Projektende im November 2020, nachdem über eine Verlängerung des Projekts keine Informationen ersichtlich sind. Zudem können die für die Bewilligung einzuhaltenden Antragsfristen von im Jahr 2020 zurückgeführten Schutzberechtigten ohnehin nicht gewahrt werden.
49Vgl. VG Aachen, Urteil vom 16. März 2020 – 10 K 875/19.A –, juris, Rn. 78.
50Der Kläger könnte im Übrigen schon deshalb nicht in das Programm aufgenommen werden, weil er nach der EURODAC-Datenbank bereits im Mai 2017, also vor dem 1. Januar 2018, in Griechenland als international Schutzberechtigter anerkannt worden ist.
51c) Es besteht die tatsächliche Gefahr, dass anerkannte Schutzberechtigte auch nicht in einer Obdachlosenunterkunft unterkommen können.
52Mehrere Verwaltungsgerichte gehen davon aus, dass anerkannte Schutzberechtigte schon deshalb keinen effektiven Zugang zu Obdachlosenunterkünften haben, weil diese überfüllt sind und weitere praktische Hindernisse beim Zugang zu solchen Einrichtungen bestehen.
53Vgl. VG Aachen, Urteil vom 16. März 2020 – 10 K 875/19.A –, juris, Rn. 84 ff., 111 ff.; VG Ansbach, Gerichtsbescheid vom 25. Juni 2020 – AN 17 K 18.50359 –, juris, Rn. 52; VG Bremen, Urteil vom 28. Mai 2020 – 5 K 1875/19 VG Magdeburg, Urteil vom 28. Mai 2020 – 9 A 66/20 –, juris, Rn. 37; VG Minden, Urteil vom 6. Februar 2020 – 12 K 492/19.A –, juris, Rn. 76 ff.
54Diese Einschätzung basiert auf mehreren Erkenntnisquellen, die die Überlastung der Obdachlosenunterkünfte berichten. Keine der Unterkünfte ist gezielt auf international Schutzbedürftige ausgerichtet, wird also auch von griechischen Staatsangehörigen (und ggf. anderen Drittstaatsangehörigen) in Anspruch genommen. Der Zugang für anerkannte Schutzberechtigte zu Obdachlosenunterkünften ist zudem dadurch beschränkt, dass die Mehrzahl der Unterkünfte griechische oder englische Sprachkenntnisse der Interessenten verlangt, die nicht alle anerkannten Schutzberechtigten aufweisen können. Für den Zugang zu staatlichen (kommunalen) Obdachlosenunterkünfte ist überdies eine griechische Steuerbescheinigung erforderlich, die rückgeführte Schutzberechtigte aus den weiter unten dargelegten Gründen regelmäßig nicht bzw. nicht in einer ausreichend kurzen Zeit erhalten können. Einige Unterkünfte bieten nur Schlafmöglichkeiten an und verlangen von den Besuchern, dass sie die Unterkunft während des Tages verlassen und nicht für mehr als 15 Tage im Monat in der Unterkunft übernachten. Sie sind demnach bereits deshalb kein Ort, an dem sich ein Schutzberechtigter länger aufhalten könnte. Zudem nehmen viele Unterkünfte wegen der COVID-19-Pandemie gegenwärtig keine Personen mehr auf.
55Vgl. aida, Country Report: Greece, 2019 Update, S. 218; RSA & PRO ASYL, Third party intervention: Kurdestan Darwesh and others vs. Greece and the Netherlands, Application no. 523347/19 (EGMR), 4. Juni 2020, Rn. 45 und Anhang 1 mit einer Liste verschiedener Unterkünfte; vgl. zur Belegung einzelner Unterkünfte VG Aachen, Urteil vom 16. März 2020 – 10 K 875/19.A –, juris, Rn. 84 ff.
56Daran ändert nichts, dass das Auswärtige Amt darauf verweist, keine Erkenntnisse über die Anzahl von obdachlosen Asylantragstellern und anerkannten Schutzberechtigten zu haben. Ebenfalls zu keiner anderen Bewertung führt die in der Auskunft wiedergegebene Auskunft des Liaisonbeamten des Bundesamtes, wonach in Griechenland die Obdachlosigkeit auch durch das Anwachsen sozialer Strukturen der Flüchtlinge erfolgreich zurückgedrängt habe werden können.
57Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 6.
58Denn das Auswärtige Amt gibt selbst an, dass Zahlen über obdachlose Personen auch für griechische Staatsangehörige nicht ermittelt, also keine Daten darüber erfasst würden. Die Aussage, die Obdachlosigkeit sei „zurückgedrängt worden“, ist unscharf, vereinzelt geblieben und nicht nachvollziehbar. Sie steht schon in einem gewissen Widerspruch zu der Aussage, keine Erkenntnisse über die Anzahl von obdachlosen Asylantragstellern und anerkannten Schutzberechtigen zu haben. Mehrere Erkenntnisquellen berichten, wie ausgeführt, von der Überlastung der Obdachlosenunterkünften und praktischen Problemen beim Zugang. Quellen, die von guten Chancen für anerkannte Schutzberechtigte ausgehen, in einer Obdachlosenunterkunft einen Platz zu erhalten, existieren hingegen nicht. Das Auswärtige Amt weist in der genannten Auskunft zudem darauf hin, dass wegen einer Gesetzesänderung zum Beginn des Jahres 2020 Schutzberechtigte nach Anerkennung die Unterkünfte für Asylbewerber verlassen müssten und noch unklar sei, wies dies genau umgesetzt werde. Die hierdurch angedeuteten Befürchtungen, die Gesetzesänderungen zum Jahr 2020 würden zusätzliche Probleme schaffen, werden von einer Vielzahl von Beobachtern, inklusive des UNHCR, geteilt. Sie gehen davon aus, dass im Jahr 2020 zwischen ca. 4.000 und ca. 11.000 anerkannte Schutzberechtigte wegen der Gesetzesänderung die von ihnen zuvor bewohnte Unterkunft für Asylsuchende verlassen müssen.
59Vgl. UNHCR, Greece must ensure safety net and integration opportunities for refugees, https://tinyurl.com/ycvns8ga, 2. Juni 2020, (4.000 anerkannte Schutzberechtigte); RSA & PRO ASYL, Third party intervention: Kurdestan Darwesh and others vs. Greece and the Netherlands, Application no. 523347/19 (EGMR), 4. Juni 2020, Rn. 23 f. (11.237 Schutzberechtigte); von steigender Obdachlosigkeit schon im Jahr 2019 berichtet RESPOND, Integration Policies, Practices and Experiences; Greece Country Report, Juni 2020, S. 45.
60Da demnach zusätzlicher Druck auf den Wohnungsmarkt durch bislang in Unterkünften für Asylsuchende lebende Schutzberechtigte zu erwarten ist (der nochmals steigen würde, wenn die griechische Regierung Flüchtlinge von den überfüllten Lagern auf den Inseln auf das Festland bringen würde), kann jedenfalls nach der Gesetzesänderung im Jahr 2020 nicht mehr angenommen werden, dass anerkannte Schutzberechtigte in einer Obdachlosenunterkunft mit hinreichender Sicherheit leben können, selbst wenn sie sich darum bemühten.
61Ein Indiz dafür, dass es für anerkannte Schutzberechtigte praktisch unmöglich ist – und dies nicht erst im Jahr 2020, sondern schon im Jahr 2019 –, verlässlich in einer Obdachlosenunterkunft unterzukommen, sind Berichte darüber, dass Schutzberechtige sich in verlassenen oder besetzten Gebäuden niedergelassen haben. Wäre es für sie problemlos möglich, in Obdachlosenunterkünften zu leben, spräche viel dafür, dass dieses Phänomen (in dem angetroffenen Ausmaß) nicht aufgetreten wäre. Auf die Möglichkeit, in besetzten Häusern zu leben, können anerkannte Schutzberechtigte allerdings ohnehin nicht verwiesen werden. Der griechische Staat duldet solche Besetzungen nicht und räumt besetzte Häuser, sodass anerkannte Schutzberechtigte dort schon aus tatsächlichen Gründen keine Unterkunft finden können.
62Vgl. Amnesty International, Human Rights in Europe – Review 2019 – Greece, https://tinyurl.com/jgce7ub; RESPOND, Reception Policies, Practices and Responses; Greece Country Report, Februar 2020, S. 43; Greek Ministry Issues Ultimatum for Squatters to Evacuate All Buildings, https://tinyurl.com/y5hdklt7, 20. November 2019.
63d) Eine Unterkunft auf dem freien Wohnungsmarkt zu finden, die angemietet werden kann, ist für internationale Schutzangehörige schwierig. Der Kammer liegen keine Informationen darüber vor, wie viele Wohnungen zur Miete in Griechenland angeboten werden. Allerdings ist die Wohnungseigentumsquote in Griechenland sehr hoch.
64Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Stade vom 6. Dezember 2018, S. 2; RESPOND, Integration Policies, Practices and Experiences; Greece Country Report, Juni 2020, S. 44.
65Statistiken darüber, wie vielen anerkannten Schutzberechtigten es gelungen ist, eine Unterkunft auf dem freien Wohnungsmarkt zu erhalten, existieren (soweit ersichtlich) nicht. Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass es durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, hilfsweise Bekannte und Studenten sowie gelegentlich auch Vorurteile „erschwert“ ist, Wohnraum privat anzumieten.
66Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Schwerin vom 26. September 2018, S. 5; vgl. auch RSA & PRO ASYL, Third party intervention: Kurdestan Darwesh and others vs. Greece and the Netherlands, Application no. 523347/19 (EGMR), 4. Juni 2020, Rn. 38.
67Zusätzlich praktische Probleme bei der Suche nach einer Wohnung dürften international Schutzberechtigte wegen der fehlenden staatlichen Unterstützung und insbesondere wegen fehlender griechischer Sprachkenntnisse haben.
68Selbst wenn ein international Schutzberechtigter eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt finden würde, könnte er diese in der Regel nicht zeitnah nach der Rückkehr nach Griechenland finanzieren. Anerkannte Schutzberechtigte können nicht zeitnah nach einer Rückkehr nach Griechenland durch eine Erwerbstätigkeit ein ausreichendes Einkommen hierfür erwirtschaften. Sie haben auch keinen effektiven Zugang zu Sozialleistungen, die ihnen die ausreichend schnelle Anmietung einer Wohnung ermöglichen würde.
69Zentrales praktisches Hindernis hierfür sind die Schwierigkeiten, eine griechische Steuernummer zu erhalten. Diese ist Voraussetzung, um ein Bankkonto zu eröffnen, eine Wohnung zu mieten, für den Zugang zum Arbeitsmarkt und für den Erhalt von Sozialleistungen.
70Vgl. UNHCR; Access to employment, https://tinyurl.com/y35gzpnm.
71Um eine griechische Steuernummer zu beziehen, muss der Betroffene seine Wohnanschrift nachweisen, wenn sie nicht bereits in dem vorzulegenden schriftlichen Aufenthaltstitel angegeben ist. Hierzu bestehen mehrere Möglichkeiten, die in der Praxis aber nicht von anerkannten Schutzberechtigten, die aus dem Ausland nach Griechenland zurückkehren – und gerade erst eine Unterkunft benötigen – erfüllt werden können bzw. ihnen nicht ausreichend schnell Zugang zu einer Steuernummer verschaffen. So kann die Wohnanschrift zum einen nachgewiesen werden, indem ein Mietvertrag vorgelegt wird, der sechs Monate vor Beantragung der Steuernummer abgeschlossen worden ist. Dies scheidet für Rückkehrer aus Deutschland regelmäßig offensichtlich aus. Alternativ zur Vorlage eines Mietvertrags ist zum „Nachweis der Wohnanschrift“ eine Obdachlosigkeitsbescheinigung einer Gemeinde oder eine Bescheinigung über die Inanspruchnahme von Dienstleistungen einer kommunalen Anlaufstelle für Obdachlose ausreichend. Auch bei dem Erhalt dieser Bescheinigungen bestehen allerdings Probleme.
72Vgl. RSA & PRO ASYL, Third party intervention: Kurdestan Darwesh and others vs. Greece and the Netherlands, Application no. 523347/19 (EGMR), 4. Juni 2020, Rn. 7 ff., 39, 48; vgl. auch Schl.-H. OVG, Urteil vom 6. September 2019 – 4 LB 17/18 –, juris, Rn. 131.
73Unabhängig von den praktischen Problemen bei dem Erhalt einer Obdachlosenbescheinigung würde diese gerade voraussetzen, dass der Betroffene zumindest schon für einige Zeit obdachlos gewesen ist. Auch nach dem Erhalt der Bescheinigung würde er es dann noch für längere Zeit bleiben müssen, weil selbst dann noch zunächst der Antrag auf Erhalt einer Steuernummer bearbeitet werden müsste. Nach Beantragung einer Steuernummer kommt es häufig zu Verzögerungen, die Bearbeitungsdauer beträgt ca. zwei Monate.
74Vgl. aida, Country Report: Greece, 2019 Update, S. 220; RESPOND, Integration Policies, Practices and Experiences; Greece Country Report, Juni 2020, S. 25.
75Erst nach dem Erhalt der Steuernummer könnte der Betroffene arbeiten und dann – falls er eine Wohnung finden sollte – diese anmieten. Es würde also erneut (erhebliche) Zeit verstreichen, während der der Betroffene mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit obdachlos wäre.
76Wegen dieser verfahrensrechtlichen Hindernisse kann dahinstehen, ob schon die wirtschaftliche Situation Griechenlands es anerkannten Schutzberechtigten faktisch unmöglich macht, zu arbeiten. Zumindest dürfte es ohne griechische Sprachkenntnisse sehr schwierig sein, eine Arbeit zu finden. Griechenland verzeichnete im Januar 2020 eine Arbeitslosenquote von 16,5 %. Dies bedeutet nach wie vor die höchste Arbeitslosenquote in der Europäischen Union (Durchschnitt: 6,6 %). Durch die anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise haben sich die Arbeitschancen, die in der Vergangenheit vor allem in den Branchen Landwirtschaft, Bauwesen, haushaltsnahe und sonstige Dienstleistungen bestanden, deutlich verschlechtert.
77Vgl. Schl.-H. OVG, Urteil vom 6. September 2019 – 4 LB 17/18 –, juris, Rn. 147 ff.; VG Aachen, Urteil vom 16. März 2020 – 10 K 875/19.A –, juris, Rn. 131 f., m. w. N.; RSA & PRO ASYL, Third party intervention: Kurdestan Darwesh and others vs. Greece and the Netherlands, Application no. 523347/19 (EGMR), 4. Juni 2020, Rn. 48 ff.; aida, Country Report: Greece, 2019 Update, S. 219 f.
78Effektiven Zugang zu Sozialleistungen für die Finanzierung einer Wohnung haben international Schutzberechtigte nicht. Das griechische Recht sieht zwar für bis zu 600.000 Haushalte einen Mietzuschuss (Wohngeld) vor. Der Anspruch setzt voraus, dass der Antragsteller sich für mindestens fünf Jahre lang rechtmäßig und dauerhaft in Griechenland aufgehalten hat.
79Vgl. RSA & PRO ASYL, Third party intervention: Kurdestan Darwesh and others vs. Greece and the Netherlands, Application no. 523347/19 (EGMR), 4. Juni 2020, Rn. 41; Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 5; Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Potsdam vom 23. August 2019, S. 1 f.
80Dieses Erfordernis können nach Griechenland zurückgeführte Schutzberechtigte (neben der fehlenden Steuernummer) nicht erfüllen. Auch Zugang zur sozialen Grundsicherung haben nach Griechenland zurückgeführte Schutzberechtigte aus ähnlichen Gründen im Ergebnis nicht. Neben der fehlenden Steuernummer scheitert der Bezug der Grundsicherung auch daran, dass diese den Nachweis eines dauerhaften zweijährigen Mindestaufenthalts im Inland (durch die inländischen Steuererklärungen der beiden Vorjahre) voraussetzt.
81Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 5, 9.
82e) Nichtregierungsorganisationen bieten keine ausreichende Hilfe, Obdachlosigkeit zu vermeiden. Hilfsorganisationen in Griechenland bieten anerkannten Schutzberechtigten zwar Hilfe dabei an, auf dem freien Wohnungsmarkt eine Wohnung zu suchen. Sie können Schutzsuchende nach Angaben des Auswärtigen Amts teilweise auch selbst kurzfristig unterbringen.
83Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Stade vom 6. Dezember 2018, S. 10 f.
84Dies lässt allerdings nicht den Schluss zu, dass Nichtregierungsorganisationen die den aus dem Ausland nach Griechenland zurückkehrenden Schutzberechtigten drohenden Probleme effektiv auffangen könnten. Die Auskunft konnte zum einen noch nicht den im Jahr 2020 gewachsenen bzw. erwarteten Druck auf den Wohnungsmarkt berücksichtigen. Unabhängig hiervon können Hilfsorganisationen jedenfalls nichts an dem Angebot an privat anmietbaren Wohnungen und den Problemen ändern, eine Steuernummer zu erhalten, um einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Auch die Unterstützung durch Hilfsorganisationen ändert deshalb nichts daran, dass ein nach Griechenland zurückkehrender Schutzberechtigter eine privat anzumietende Unterkunft nicht ausreichend schnell nach der Rückkehr durch Sozialleistungen oder Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit finanzieren kann. Dies mag in der Vergangenheit für die Schutzberechtigten anders gewesen sein, die zunächst noch in den Unterkünften für Asylsuchende verbleiben durften und sich von dort aus mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen um den Erhalt einer Steuernummer, eines Arbeitsplatzes und einer Unterkunft kümmern konnten. Damit ist aber ein aus Deutschland zurückgeführter Schutzberechtigter nicht vergleichbar, der nach seiner Ankunft in Griechenland keinen Zufluchtsort hat.
85Es besteht auch die tatsächliche Gefahr, dass anerkannte Schutzberechtigte die ihnen drohende Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC nicht durch Rechtsschutz vor den griechischen Gerichten abwenden können.
86Es ist schon kein Recht auf Unterbringung oder Sozialleistungen im griechischen Recht ersichtlich, dass die Betroffenen gerichtlich geltend machen könnten. Sämtliche in Frage kommenden staatlichen Sozialleistungen knüpfen, wie ausgeführt, an einen längerfristigen Voraufenthalt in Griechenland an, den rückgeführte international Schutzberechtigte nicht aufweisen können. Dies ist keine „Regelungslücke“, sondern von Griechenland gewollt. Die griechische Regierung verfolgt nach Aussage des für Asyl und Migration zuständigen Ministers im März 2020 durch die fehlende staatliche Unterstützung für Schutzberechtigte das Ziel, Faktoren, die Asylsuchende anziehen könnten („pull factors“), zu beseitigen. Schutzberechtigte sollen für sich selbst verantwortlich ein.
87Vgl. aida, Country Report: Greece, 2019 Update, S. 217.
88In Betracht käme deshalb höchstens, dass die Betroffenen vor den griechischen Gerichten rügen, ihre Rechte aus Art. 4 Grundrechte-Charta und Art. 3 EMRK würden verletzt. Es ist allerdings schon unklar, inwieweit aus diesen Normen überhaupt unmittelbar Leistungsrechte abgeleitet werden können, die (in einem Eilverfahren) einklagbar wären. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Verpflichtung eines Staates, jeder Person eine Unterkunft zu gewähren, ausdrücklich abgelehnt. Ob er einem anerkannten Schutzberechtigten neben einem Abwehrrecht gegen eine drohende Abschiebung dennoch ausnahmsweise auch ein Leistungsrecht zusprechen würde, lässt sich der Judikatur nicht sicher entnehmen.
89Vgl. EGMR, Urteile vom 7. Februar 2006, Codona/Vereinigtes Königreich, Nr. 485/05, und vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien und Griechenland, Rn. 249.
90In die Grundrechte-Charta wurde ein Recht auf Wohnung bewusst nicht aufgenommen.
91Vgl. hierzu Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags, WD 3 – 3000 – 120/19, 29. Mai 2019, S. 3.
92Diese Unsicherheiten und schwierigen Rechtsfragen berücksichtigend kann jedenfalls nicht angenommen werden, dass der Rechtsschutz vor den griechischen Gerichten ausreichend schnell erfolgen würde, um die Gefahr der Obdachlosigkeit effektiv abzuwenden.
93Vgl. auch VG Aachen, Urteil vom 16. März 2020 – 10 K 875/19.A –, juris, Rn. 162; a.A. (ohne Auseinandersetzung mit der vorstehend zitierten Rechtsprechung des EGMR und dem Gewährleistungsumfang der Grundrechte-Charta) Schl.-H. OVG, Urteil vom 6. September 2019 – 4 LB 17/18 –, juris, Rn. 167, 175.
94f) In der Person des Klägers liegen keine Besonderheiten vor, die die Annahme rechtfertigen könnten, er könne trotz der allgemeinen Lage eine Unterkunft finden. Auch er wäre bei einer Rückführung nach Griechenland unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer länger andauernden Obdachlosigkeit bedroht.
95Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger in Griechenland Personen kennt, bei denen er zumindest zeitweise (legal) unterkommen könnte, um sich von dort aus um den Erwerb einer Steuernummer, die (wohl aussichtlose) Suche nach einer Arbeitsstelle und die Suche nach einer eigenen Unterkunft zu kümmern. Es ist auch nicht feststellbar, dass der Kläger außerordentlich vermögend ist und unter Rückgriff auf seine Ersparnisse die Herausforderungen in Griechenland bewältigen könnte. Finanzielle Unterstützung von nicht in Griechenland lebenden Verwandten ist ausweislich der nicht zu widerlegenden Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht zu erwarten.
96II. Die unter Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Androhung der Abschiebung nach Griechenland ist wegen der Feststellung des Abschiebungsverbots aufzuheben. Die Feststellung, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden darf, kann nicht isoliert aufrechterhalten werden, weil diese Feststellung gerade an die Abschiebungsandrohung anknüpft (ihre Existenz also voraussetzt), vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG, § 59 Abs. 3 Satz 2, § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG. Dies ändert nichts daran, dass der Kläger kraft Gesetzes wegen der Flüchtlingszuerkennung in Griechenland nicht – was offenkundig ohnehin nicht im Raum steht – nach Syrien abgeschoben werden darf, § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
97Die in Ziffer 4 des Bundesamtsbescheids enthaltene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist gegenstandslos geworden und ebenfalls aufzuheben.
98III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 709 Satz 2, § 711 ZPO.
99Rechtsmittelbelehrung
100Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
101- 102
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
- 103
2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
- 104
3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
106Statt in Schriftform können die Einlegung und die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
107Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
108Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Referenzen
- § 83b AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 14 L 2091/18 1x (nicht zugeordnet)
- 4 LB 12/17 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 5 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 12 K 492/19 1x (nicht zugeordnet)
- 11 A 228/15 2x (nicht zugeordnet)
- 4 LB 17/18 3x (nicht zugeordnet)
- 5 K 1875/19 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 155 1x
- 4 S 1329/19 1x (nicht zugeordnet)
- 2 BvR 1380/19 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 711 Abwendungsbefugnis 1x
- § 11 Abs. 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 9 A 66/20 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 167 1x
- § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 14 L 2100/18 1x (nicht zugeordnet)
- 10 K 875/19 5x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 55a 1x