Beschluss vom Verwaltungsgericht Magdeburg (4. Kammer) - 4 B 61/19

Gründe

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I. Der von der Antragstellerin am 13.03.2019 bei dem beschließenden Gericht gestellte Antrag,

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festzustellen, dass der Widerspruch der Antragstellerin vom 11.03.2019 gegen den als „Schreiben“ bezeichneten Bescheid des Antragsgegners vom 11.03.2019 aufschiebende Wirkung hat,

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hat Erfolg.

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Hat ein Betroffener ein zulässiges Rechtsmittel gegen einen Verwaltungsakt eingelegt, der von der erlassenden bzw. zuständigen Behörde nicht mit einer Anordnung des Sofortvollzuges versehen wurde (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) und der auch nicht kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO), so verfügt der Betroffene über ein rechtlich schützenswertes Interesse an der gerichtlichen Feststellung, dass das Rechtsmittel aufschiebende Wirkung entfaltet, wenn der Verwaltungsakt ungeachtet der Einlegung des Rechtsmittels von Behörden oder Dritten einfach vollzogen wird (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 80 Rn. 181). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

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1. Die Antragstellerin hat zutreffend darauf hingewiesen, dass es sich bei dem mit Bescheid des Antragsgegners vom 20.11.2018 ausgestellten „Zeugnis über den Eintritt der Genehmigungsfiktion“ (Bl. 41 der Gerichtsakte) um einen feststellenden Verwaltungsakt handelt (Risse in Jäde/Dirnberger, Kommentar zur BauO LSA, Stand: Februar 2018, § 68 Rn. 90). Denn hiermit wird hinsichtlich der durch die Antragstellerin am 16.07.2018 beantragten Baugenehmigung für das Vorhaben „Errichtung von Balkonen“ auf dem Grundstück „B-Stadt, L-Straße 34, 36“ verbindlich festgestellt, dass die Genehmigung als erteilt gilt. Ob die Voraussetzungen für die Erteilung eines derartigen Zeugnisses zum Erlasszeitpunkt tatsächlich vorgelegen haben, die in Rede stehende Genehmigung also nach § 68 Abs. 5 Satz 1 BauO LSA als erteilt galt, ist für die Einordnung dieses Zeugnisses als Verwaltungsakt unerheblich. Entspricht die Feststellung nicht dem geltenden Recht, sind feststellende Verwaltungsakte nur rechtswidrig, bleiben jedoch bis zu ihrer Aufhebung wirksam (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG, § 35 Rn. 219).

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2. Zutreffend ist auch die Annahme der Antragstellerin, dass es sich bei dem mit „Schreiben“ bezeichneten Schriftstück des Antragsgegners vom 11.03.2019 (Bl. 47 der Gerichtsakte) ebenfalls um einen Verwaltungsakt handelt.

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Maßgeblich für die Auslegung eines Verwaltungsakts ist nach ständiger Rechtsprechung der objektive Erklärungswert aus Sicht des Empfängerhorizonts. Bei der Ermittlung des objektiven Erklärungswertes sind alle dem Empfänger bekannten oder erkennbaren Umstände heranzuziehen, auch die Begründung des Verwaltungsakts. Maßgeblich ist letztlich immer, ob die Behörde eine potentiell verbindliche Rechtsfolge gesetzt hat, d.h. ob durch sie Rechte begründet, geändert, aufgehoben oder verbindlich festgestellt werden oder die Begründung, Änderung, Aufhebung oder verbindliche Feststellung solcher Rechte mit Außenwirkung abgelehnt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.04.1988 - 9 C 54.87 -, juris Rn. 7).

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Nach diesen Maßgaben handelt es sich bei dem bezeichneten Schreiben des Antragsgegners vom 11.03.2019 um einen Verwaltungsakt. Hiermit hat der Antragsgegner das mit Schreiben vom 20.11.2018 ausgestellte Zeugnis „für ungültig erklärt“. Zur Begründung heißt es in diesem Schreiben, die in § 68 Abs. 5 Satz 1 BauO LSA geregelte Genehmigungsfiktion finde lediglich für das (vereinfachte) Baugenehmigungsverfahren nach § 62 BauO LSA Anwendung, nicht aber für das Baugenehmigungsverfahren nach § 63 BauO LSA. Da die Voraussetzungen für die Durchführung eines Verfahrens nach § 62 BauO LSA vorliegend nicht gegeben gewesen seien, hätte das Zeugnis nicht ausgestellt werden dürfen. Da das Zeugnis lediglich „deklaratorischen Charakter“ habe und damit nicht als Verwaltungsakt anzusehen sei, könne es auch nicht aufgehoben werden. Deshalb sei es für ungültig zu erklären. Die Worte „für ungültig erklärt“ wecken den Eindruck einer verbindlichen „Erklärung“ der nach Meinung des Antragsgegners im vorliegenden Einzelfall „geltenden“ Rechtslage. Der Inhalt dieser Feststellung ähnelt damit Konstellationen, in denen die Behörde durch Bescheid feststellt, dass sich ein Verwaltungsakt erledigt hat, nicht wirksam oder nichtig ist. Bei derartigen Bescheiden handelt es sich anerkanntermaßen um feststellende Verwaltungsakte (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, a. a. O., § 35 Rn. 219). Nichts anderes gilt vorliegend: Der Antragsgegner hat mit diesem Schreiben erkennbar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass er dem am 20.11.2018 erteilten Zeugnis keinerlei Rechtswirkungen beimisst und dies gegenüber der Antragstellerin verbindlich feststellen („erklären“) wollen.

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Für dieses Verständnis spricht im Übrigen der Umstand, dass der Antragsgegner das erteilte Zeugnis vom 20.11.2018 mit Bescheid vom 23.11.2018 zunächst auf der Grundlage des § 48 VwVfG zurückgenommen hatte. Er ist mithin zunächst selbst davon ausgegangen, dass es sich bei dem erteilten Zeugnis vom 20.11.2018 um einen Verwaltungsakt handelt. Dass er diesen Bescheid (vom 23.11.2018) mit weiterem Bescheid vom 14.03.2019 sodann zurückgenommen und durch das vorliegend in Rede stehende Schreiben vom 11.03.2019 „ersetzt“ hat, weil er (fälschlich) davon ausging, das Zeugnis vom 20.11.2018 habe nur „deklaratorischen Charakter“, verdeutlicht Eines: Der Antragsgegner war seit Erlass des Zeugnisses vom 20.11.2018 bemüht, die hiermit verbundene Fiktionswirkung bzw. einen diesbezüglichen Anschein zu zerstören. Diesem Zweck - der Zerstörung des Anscheins, das Zeugnis vom 20.11.2018 entfalte Rechtswirkungen - dient das Schreiben des Antragsgegners vom 11.03.2019. Genau hierin liegt sein verbindlicher Regelungsgehalt.

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Zu berücksichtigen ist weiter, dass in dem Schreiben des Antragsgegners vom 11.03.2019 Bezug genommen wird auf einen Kostenfestsetzungsbescheid vom 20.11.2018, der durch „gesonderten Bescheid“ zurückgenommen werden soll. Diese Formulierung legt die Vermutung nahe, dass sich der Antragsgegner der Qualität seines Schreibens als Verwaltungsakt - jedenfalls bei Abfassung dieses Schreibens - durchaus bewusst gewesen ist.

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Für die Einstufung des Schreibens des Antragsgegners vom 11.03.2019 als Verwaltungsakt kommt es im Übrigen auch nicht darauf an, ob dieser Bescheid rechtmäßig ergangen ist. Die Kammer merkt allerdings Folgendes an: Nach § 43 Abs. 2 VwVfG bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Sollte das (als Verwaltungsakt anzusehende) Zeugnis vom 20.11.2018 zu Unrecht ausgestellt worden sein, kommt in erster Linie die Rücknahme dieses Bescheides nach § 48 VwVfG i. V. m. § 1 Abs. 1 Satz 1 VwVfG LSA in Betracht, wobei dieser Bescheid - bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen - mit der Anordnung des Sofortvollzuges nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO versehen werden könnte. Für einen Bescheid, mit dem das Zeugnis lediglich „für ungültig erklärt“ wird, ist wegen der insoweit abschließenden Regelung in § 48 VwVfG kein Raum.

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3. Gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 11.03.2019 hat die Antragstellerin noch am gleichen Tag form- und fristgerecht Widerspruch erhoben (§§ 70, 58 VwGO). Die hiermit nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO einhergehende aufschiebende Wirkung tritt auch gegenüber feststellenden Verwaltungsakten ein (vgl. § 80 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 VwGO; im Übrigen auch Schoch/Schneider/Bier/Schoch, 36. EL Februar 2019, VwGO § 80 Rn. 41 m.w.N.)

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Es ist auch weder ersichtlich, noch etwa vom Antragsgegner geltend gemacht worden, dass der Sofortvollzug seines Bescheides vom 11.03.2019 angeordnet wurde. Vielmehr bestreitet der Antragsgegner mit Schreiben vom 12.03.2019 (Bl. 49 der Gerichtakte), dass es sich bei seinem Schreiben vom 11.03.2019 um einen Verwaltungsakt handelt. Er ist der Meinung, der hiergegen gerichtete Widerspruch der Antragstellerin entfalte keine aufschiebende Wirkung.

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4. Trotz der aufschiebenden Wirkung des durch die Antragstellerin erhobenen Widerspruchs vollzieht der Antragsgegner seinen Bescheid vom 11.03.2019.

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Vollziehung eines Verwaltungsaktes im Sinne des § 80 Abs. 1 VwGO bedeutet jegliches Gebrauchmachen von dem Verwaltungsakt, jegliche Verwirklichung seines materiellen Regelungsgehalts, gleichgültig, ob diese Verwirklichung durch die erlassende oder eine andere Behörde erfolgt, ob sie freiwillig oder zwangsweise geschieht, es einer behördlichen Ausführungsmaßnahme bedarf oder die Rechtswirkung durch den Verwaltungsakt selbst eintritt. Die aufschiebende Wirkung untersagt indes jedermann, aus dem angegriffenen Verwaltungsakt unmittelbare oder mittelbare, tatsächliche oder rechtliche Folgerungen gleich welcher Art zu ziehen. Der erlassenden Behörde ist es deshalb vor Eintritt der Vollziehbarkeit untersagt, dem Bürger die ausgesprochene Regelungswirkung entgegenzuhalten (vgl. VGH BW, Beschluss vom 22.02.2010 - 10 S 2702/09 -, juris Rn. 4).

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Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Antragstellerin weigert sich der Antragsgegner trotz des Widerspruchs der Antragstellerin, das „rote“ Baustellenschild und die Formulare für die Anzeige der Aufnahme der Baumaßnahmen auszuhändigen. Damit ignoriert der Antragsgegner die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin.

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Setzt sich ein Betroffener - wie hier - gegen die faktische Vollziehung eines Verwaltungsakts zur Wehr, so ist das Rechtsschutzbegehren auch zurecht auf die Feststellung gerichtet, dass der in der Hauptsache eingelegte Rechtsbehelf - hier der Widerspruch vom 11.03.2019 - aufschiebende Wirkung hat. Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist in diesen Fällen nicht möglich, weil der Suspensiveffekt bereits durch die Einlegung des Rechtsbehelfs eingetreten ist. Da die faktische Vollziehung wegen der Missachtung des Suspensiveffekts ohne weiteres rechtswidrig ist, wägt das Verwaltungsgericht in diesem Fall nicht zwischen öffentlichem Vollzugsinteresse und individuellem Aussetzungsinteresse wie sonst im Anwendungsbereich des § 80 Abs. 5 VwGO ab (vgl. Kopp/Schenke, a. a. O.).

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II. Erfolglos bleiben indes die weiteren - jeweils auf § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO gestützten - Anträge der Antragstellerin, mit denen sie u.a. die Aushändigung des „roten“ Baustellenschildes zu erstreiten sucht.

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Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen ist. Diese Vorschrift kann analog auf die Unterbindung einer faktischen Vollziehung angewandt werden (vgl. Kopp/Schenke, a. a. O., § 80 Rn. 176). Zur Herstellung rechtmäßiger Zustände ist es im vorliegenden Verfahren allerdings ausreichend, wenn festgestellt wird, dass der Widerspruch der Antragstellerin vom 11.03.2019 aufschiebende Wirkung hat. Denn wegen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) kann vom Antragsgegner erwartet werden, dass die gerichtliche Feststellung der aufschiebenden Wirkung ausreicht, um die Vollziehung des Bescheides vom 11.03.2019 auszusetzen. Der Antragsgegner missachtete auch nicht bewusst die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 11.03.2019, sondern vertrat nur eine andere Rechtsauffassung, so dass die vorliegende Feststellung auch geeignet ist, effektiven Rechtsschutz zu gewähren.

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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.

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IV. Die Streitwertentscheidung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Die Kammer legt in Verfahren, in denen es - wie hier - lediglich um die Feststellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs analog § 80 Abs. 5 VwGO geht, den Auffangwert von 5.000,00 Euro zugrunde.


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