Urteil vom Verwaltungsgericht München - M 13 K 21.30920

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. April 2021 ( …-232) wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom 30. Mai 2017 ( …-232) dahingehend abzuändern, dass betreffend den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigeria vorliegen.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Klägerin zu 1 im Verfahren 13 K 17. … ist eine 1995 in N, geborene nigerianische Staatsangehörige mit Volkszugehörigkeit Bini und christlichen Glaubens und Mutter des 2016 in Deutschland geborenen Klägers zu 2 im Verfahren M 13 K 17. … (nachfolgend: Klägerin zu 1 bzw. Kläger zu 2; bei gemeinsamer Nennung nachfolgend: die Kläger).

Der Kläger zu 2 ist zugleich Kläger im hier vorliegenden Verfahren 13 K 21.30920 (nachfolgend: Kläger). Vater des Klägers ist L. Ik. (geb. ... 1992; nachfolgend: Ehemann/Vater; M 21 K 17. …).

Die Kläger stellten am 13. März 2017 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag, so wie auch der Ehemann/Vater.

Mit Bescheid vom 30. Mai 2017 ( …-232), mittels Postzustellungsurkunde zugestellt am 31. Mai 2017, erkannte das Bundesamt den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nummer 1 des Bescheids), lehnte die Anträge auf Asylanerkennung ab (Nummer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nummer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nummer 4). Die Klägerin wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, anderenfalls sie nach Nigeria abgeschoben würden (Nummer 5). Das gesetzliche Einreiseund Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 6).

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid verwiesen.

Mit Schriftsatz vom 31. Juli 2017, beim Verwaltungsgericht München eingegangen am 1. August 2017, hat der damalige Bevollmächtigte der Kläger für diese dagegen Klage erhoben. Zur Begründung der Klage führte er unter anderem aus, dass der Kläger schwer krank sei; er leide an einer Sichelzellerkrankung.

Als Anlage war unter anderem die Kopie eines Arztbriefes des LMU Klinikums der Universität M. - Kinderklinik und Kinderpoliklinik - vom 25. Juli 2017 (Seite 1 und 2) betreffend den Kläger mit der Diagnose „Sichelzellerkrankung“ und „Aktuell: Hämolytische Krise, V.a. Milzsequestration, Z.n. Gastroenteritis“ bei stationärer Aufnahme des Klägers vom 17. Juli 2017 bis 25. Juli 2017 beigegeben. Unter „Anamnese“ findet sich unter anderem die Aussage: „Der 8 Monate alte Fortune wurde aktuell mit Verdacht auf eine hämolytische Krise im Rahmen der neu diagnostizierten Sichelzellerkrankung stationär aufgenommen“. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anlage Bezug genommen.

Mit Urteil vom 25. Januar 2019 wies das Verwaltungsgericht München die Asylklage des Vaters des Klägers ab (M 21 K 17. …).

Der Vater des Klägers stellte für diesen, datiert auf den 25. Februar 2018, einen „isolierten Wiederaufgreifensantrag gem. § 60 V, VII AufenthG“. weil dieser „an einer schweren Sichelzellenanämie erkrankt“ sei. Die Familie müsse sich aufgrund dessen in letzter Zeit oftmals im Krankenhaus aufhalten, damit der Kläger behandelt werden könne. Dabei sei es erforderlich, dass er sich alle 2-4 Wochen zu Behandlung im Krankenhaus einfindet. Auch befinde er sich in medikamentöser Behandlung. Die Erkrankung beinhaltet die Gefahr eines akuten Gefäßverschlusses. Darüber hinaus könnten kardiologische Probleme sowie ein Hirninfarkt auftreten. Auch sei jederzeit mit akutem Fieber sowie Schmerzkrisen zu rechnen. Eine entsprechende medizinische Versorgung sei in Nigeria nicht gegeben. Vielmehr würde der Kläger in Nigeria nicht überleben können. Auch sei er aufgrund der obigen Schilderung nicht reisefähig. Aufgrund der anhaltenden Schwere der Bluterkrankung sei auch ein Aufgreifen von Amts wegen geboten.

Als Anlage war eine „ärztliche Bescheinigung zur Vorlage bei der Ausländerbehörde“ des LMU Klinikums der Universität M. vom 26. Januar 2018 beigegeben. Wegen der Einzelheiten wird auf diese Unterlagen verwiesen.

In der Verfahrensakte des Bundesamts betreffend die Kläger (M 13 K 17. …) findet sich dieses Schreiben, versehen mit mehreren Eingangsstempeln des Bundesamts, von denen der früheste - soweit leserlich - auf den 6. März 2019 datiert. In der Verfahrensakte des Bundesamts betreffend den Kläger (M 13 K 21.30920) findet sich dieses Schreiben ebenfalls, allerdings mit einem Eingangsstempel des Bundesamts vom 27. Juni 2019. Dort trägt dieses Schreiben einen handschriftlichen Vermerk, dass das Schreiben „in der 20. KW“ vorgelegt worden sei. Dieser Vermerk trägt eine Unterschrift und das Datum 20. Mai 2019.

Mit Schriftsatz vom 17. April 2019 übersandte das Bundesamt dem Verwaltungsgericht im Verfahren M 13 K 17. … das Schreiben des Vaters des Klägers vom 25. Februar 2018. Das Bundesamt teilte in diesem Schriftsatz mit, dass ein Wiederaufnahmeantrag nicht möglich sei, da das Asylverfahren noch nicht unanfechtbar abgeschlossen sei.

In der Verfahrensakte des Bundesamts zum Kläger (M 13 K 21.30920) finden sich Arztbriefe des LMU Klinikums der Universität M. - Kinderklinik und Kinderpoliklinik - vom 31. August 2019 und vom 4. September 2019 betreffend die Sichelzellerkrankung dieses Klägers. Außerdem findet sich ein Schwerbehindertenausweis, der dem Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 mit dem Merkzeichen G zuerkennt, gültig ab 17. Oktober 2017 bis Juni 2020.

Mit hier streitgegenständlichem Bescheid vom 13. April 2021 ( …-232) lehnte das Bundesamt hinsichtlich des Klägers den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 30. Mai 2017 ( …-232) bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes ab.

Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen zu § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes seien im vorliegenden Fall nicht gegeben.

Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG lägen nicht vor. Der Antrag sei am 27. Juni 2019 aufgrund des Vorliegens eines neuen Sachgrundes gestellt worden. Seit mindestens dem 22. November 2017 sei jedoch bekannt, dass der Kläger zu 2 an einer Sichelzellanämie leide. Der Antrag sei somit nicht innerhalb der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG gestellt worden.

Das Verfahren könne jedoch, im Interesse der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns, durch das Bundesamt wiedereröffnet und die bestandskräftige frühere Entscheidung zurückgenommen oder widerrufen werden (Wiederaufgreifen im weiteren Sinn). Insoweit bestehe ein Anspruch des Klägers zu 2 auf fehlerfreie Ermessensausübung.

Gründe, die unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1-3 VwVfG eine Abänderung der bisherigen Entscheidung zu § 60 Abs. 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes gemäß § 49 VwVfG rechtfertigten, lägen jedoch ebenfalls nicht vor.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes seien nach wie vor nicht erfüllt. Es würde eine Entscheidung gleichen Inhalts wie im Asylverfahren ergehen müssen. Das Verfahren werde daher nicht wieder aufgegriffen.

Eine Abschiebung sei gemäß § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergebe. In Betracht komme dabei in erster Linie eine Verletzung des Art. 3 EMRK und damit die Prüfung, ob im Fall eine Abschiebung der Betroffene tatsächlich Gefahr liefe, einer dieser absoluten Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.

Wie bereits im Rahmen der Prüfung des § 4 Abs. 1 Nummer 2 Asylgesetz festgestellt, drohe dem Kläger in Nigeria keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Nigeria führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass für Rückkehrer in Nigeria die Möglichkeit bestehe, ökonomisch eigenständig zu leben und auch mit oder ohne Hilfe Dritter zu überleben. Allein in wenigen besonders gelagerten Ausnahmefällen komme deshalb aufgrund individueller Umstände wegen der schlechten sozialen und wirtschaftlichen Lage in Nigeria für Rückkehrer ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes in Verbindung mit Art. 3 EMRK in Betracht.

Ein solcher Ausnahmefall liege nicht vor. Der minderjährige Kläger sei Teil eines Familienverbandes, bestehend aus seinen Eltern, seiner jüngeren Schwester und ihm. Seine Schwester Fl. E. Ik. ( …-232) sei gesund. Beide Elternteile seien erwerbsunfähig. Sein Vater sei bereits in Nigeria als Automechaniker tätig gewesen. Seine Mutter sei Verkäuferin gewesen und habe nach eigenen Angaben von ihrem Verdienst auch leben können. Folglich sei davon auszugehen, dass die Eltern des Klägers auch unter Berücksichtigung seiner Krankheit in der Lage sein werden, ihr Existenzminimum und das ihrer Kinder im Herkunftsland durch Arbeit zu sichern. Darüber hinaus hätten beide Elternteile noch Verwandte im Herkunftsland, von denen im Rahmen des Familienzusammenhalts eine Unterstützung des Klägers zu erwarten sei. Im Übrigen sei anzumerken, dass für Rückkehrer nach Nigeria die Möglichkeit bestehe, eine finanzielle Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Es existierten auch spezifische Reintegrationsprogramme, die es ihnen ermöglichen sollten, in wirtschaftlicher Hinsicht in ihrer Heimat wieder Fuß zu fassen.

Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes lägen ebenfalls nicht vor.

Eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes liegen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmere, sei in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen. Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes sei es erforderlich, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmere, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führe, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers drohe. Eine Gefahr sei „erheblich“ im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verändern würde und „konkret“, wenn der Asylbewerber alsbald nach seiner Rückkehr in den Abschiebezielstaat in diese Lage käme, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten der Behandlung seines Leidens angewiesen sein würde und auch anderswo wirksame Hilfe nicht würde in Anspruch nehmen können. Ob die dem Kläger derzeit in Deutschland eröffnete medizinische Versorgung qualitativ besser oder effektiver sei als die in Nigeria zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten sei dabei gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 Asylgesetz nicht entscheidungserheblich.

Eine homozygote Sichelzellerkrankung sei in Nigeria behandelbar. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die Behandlung des Klägers mangels Finanzierbarkeit scheitern könnte. Die Kosten für Beratungen, Untersuchungen, Bluttransfusionen sowie Medikamentenverordnungen für Patienten, die an einer Sichelzellanämie leiden, könnten von der staatlichen Krankenversicherung übernommen werden. Für Kinder unter 5 Jahren würden die meisten Krankenhäuser unabhängig von der Registrierung in der NHIS kostenlose Behandlung anbieten. Arztrechnungen müssten selbst getragen werden. Staatlicher Versicherungsschutz könne vorliegend über die Eltern des Klägers erlangt werden. Der jährliche Mitgliedsbeitrag eines Selbstständigen betrage 15.000 NGN (41,70 US-Dollar). Sein Versicherungsschutz erstrecke sich auf den Ehepartner und 4 abhängige Personen. Die öffentliche Krankenversicherung NHIS decke dabei 90% der grundsätzlichen medizinischen Dienstleistungen ab. Dazu gehörten Krankenhausaufenthalte und ambulante Arztbesuche, Labortests und bestimmte Medikamente. Sie gewährleiste allerdings keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Jeder Patient müsse Medikamente selbst besorgen bzw. dafür selbst aufkommen. Bluttransfusionen nähmen dabei eine Schlüsselrolle in der Behandlung der Sichelzellenkrankheit in Nigeria ein. Die durchschnittlichen Kosten für eine Bluteinheit würden dabei bei 4783,33 Naira liegen (was derzeit 10,55 EUR entspreche). Nur ein Krankenhaus würde einen kostenlosen Bluttransfusionsdienst anbieten. Die Kosten für eine Chelations-Therapie unter Verwendung der vom Hersteller empfohlenen alters-und gewichtsadäquaten Dosen von täglich oral verabreichtem Deferasirox würden pro Monat, sofern verfügbar, von 3000 Naira (entspricht 6,61 EUR) bei Kindern bis 80.000 Naira (entspricht 176,93 EUR) bei Erwachsenen reichen. Bluttransfusionen würden über die NHIS abgedeckt. Darüber hinaus gebe es Nichtregierungsorganisationen, die kostenlose Behandlungen und Medikamente für Kinder in Nigeria anböten. In Lagos sei die „Sickle Cell Foundation Nigeria“ (SCFN) ansässig, die mit Unterstützung von Spendern den Betrieb von Sichelzellen-Kliniken überwache und kostenlos Medikamente und medizinische Ausrüstung bereitstelle.

In der Gesamtwertung sei daher auch nach Prüfung von Amts wegen nicht erkennbar, dass die Behandlung des Klägers in Nigeria nicht gewährleistet sei oder mangels Finanzierbarkeit scheitern könnte und der Kläger somit bei Rückkehr einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes werde daher nicht festgestellt.

Auch vor dem Hintergrund der pandemischen Lage (Covid-19) drohe dem Kläger in Nigeria keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Aufenthaltsgesetzes führen würde. Die Erkrankung des Klägers begründe nicht die für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, wonach er alsbald nach seiner Rückkehr nach Nigeria an Covid-19 erkranken könnte und die Erkrankung bei ihm dann auch einen schwerwiegenden Verlauf nehmen würde.

Einer erneuten Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung bedürfe es wegen der vollziehbaren Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung aus dem vorangegangenen und abgeschlossenen Asylverfahren nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid verwiesen.

Dieser Bescheid wurde mittels Postzustellungsurkunde am 16. April 2021 zugestellt.

Dagegen hat der Bevollmächtigte des Klägers für diesen mit Schriftsatz vom 21. April 2021, beim Verwaltungsgericht München eingegangen am 22. April 2021, Klage erhoben (M 13 K 21.30920) und zuletzt (beschränkend mit Schriftsatz vom 4.5.2022) beantragt,

den Bescheid des Bundesamts vom 13. April 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ein Abschiebungsverbot vorliegt.

Die Begründung bleibe einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Vorläufig werde auf die Angaben des Vaters des Klägers im Rahmen der stattgefundenen Anhörung zur Begründung Bezug genommen.

Am 11. Mai 2021 wurden die Klägerin zu 1 im Verfahren M 13 K 17. … und deren Ehemann Eltern eines weiteren Kindes (F. Ik., geb. …5.2021; M 32 K 21. …).

Mit Schriftsatz vom 4. Juni 2021 teilte das Bundesamt im Verfahren M 13 K 17. … mit, dass aufgrund der von ihm erachteten Unanfechtbarkeit des hiesigen Verfahrens (wegen unzulässiger Klage) ein Wiederaufnahmeverfahren angelegt worden sei.

Als Anlage waren u.a. Kopien des Bescheids vom 13. April 2021 (…-232), der dagegen erhobenen Klage des Bevollmächtigten des Klägers vom 21. April 2021 und des Schreibens des Verwaltungsgerichts München (Erstzustellung im Klageverfahren M 13 K 21.30920) vom 27. April 2021 beigegeben.

Mit Schriftsatz ebenfalls vom 4. Juni 2021 hat das Bundesamt für die Beklagte im Verfahren M 13 K 21.30920 beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung beziehe es sich auf die angefochtene Entscheidung

Mit Beschluss vom 14. Dezember 2021 wurde der Rechtsstreit M 13 K 21.30920 zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.

Nach Ladung mit gerichtlichem Schreiben vom 25. April 2022 zur mündlichen Verhandlung am 19. Mai 2022 im Verfahren M 13 K 21.30920 reichte der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 4. Mai 2022 ein Attest vom 4. September 2019 ein. Dabei handelt es sich um ein Schreiben des LMU Klinikums der Universität M. - Kinderklinik und Kinderpoliklinik - vom 4. September 2019 betreffend die homozygote Sichelzellerkrankung des Klägers. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf dieses Schreiben verwiesen.

Weiterhin erklärte der Bevollmächtigte des Klägers, dass der Antrag auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes beschränkt werde, bezugnehmend auf den Bescheid vom 13. April 2021, der ebenfalls nur eine „Abwendung“ des Bescheids vom 30. Mai 2015 auf die Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetzes beinhalte.

Am 19. Mai 2022 wurde im Verfahren M 13 K 21.30920 zur Sache mündlich verhandelt. Der Bevollmächtigte des Klägers übergab eine ärztliche Bescheinigung des LMU Klinikums vom 10. Mai 2022 betreffend den Kläger.

Aus dieser Bescheinigung geht hervor, dass der Kläger an der Sichelzellerkrankung leide, welche eine regelmäßige ambulante Behandlung in der Abteilung für pädiatrische Hämatologie und Onkologie erfordere. Die mit der Erkrankung im Zusammenhang stehenden plötzlichen und unerwarteten medizinischen Krisen (z.B. Fieber, Schmerzen) bedürften einer sofortigen Behandlung in einer Fachklinik mit einer Kinderintensivstation. In einem solchen Falle müsse der Kläger innerhalb einer kurzen Zeit in der Klinik sein. Aus oben genannten Gründen bitte man dringendst, das Bleiberecht in Deutschland aus gesundheitlichen Gründen zu erteilen.

Mit Urteil vom 20. Mai 2022 wies der Einzelrichter die Asylklage M 13 K 17. … ab, weil die Klagefrist nicht eingehalten worden sei. Wegen der Einzelheiten wird auf die Ausführungen im Urteil verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachund Streitstand wird ergänzend auf die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren M 13 K 21.30920 sowie in den Verfahren M 13 K 19. … (Schwester des Klägers: Fl. E. Ik., geb. ... 2018) und M 13 K 17. …, auf die diesbezüglichen vom Bundesamt vorgelegten Behördenakten und die Niederschrift über die gemeinsame mündliche Verhandlung der drei genannten Verfahren sowie auf das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 25. Januar 2019 im Asylklageverfahren des Vaters des Klägers (L. Ik., geb. … 1992; 21 K 17. …) verwiesen. Hinsichtlich des weiteren Geschwisterkindes des Klägers läuft noch ein Asylklageverfahren beim Verwaltungsgericht München (F. Ik., geb. ….2021; M 32 K 21. …).

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Abänderung des Bescheids vom 30. Mai 2017 dahingehend, dass die Beklagte für ihn ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigeria feststellt (mit dem sich daraus ergebenden weiteren Abänderungsbedarf hinsichtlich des Bescheids vom 20.5.2017).

Ein Ausländer darf nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) müssen die im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen. Allgemein schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine Handlung oder Unterlassung von Verfolgungsakteuren (vgl. § 3c AsylG) zurückzuführen sind, können nur in besonderen Ausnahmefällen zur Feststellung eines Abschiebungsverbots führen Denn Art. 3 EMRK enthält keine Verpflichtung der Vertragsstaaten, nicht bleibeberechtigte Ausländer in ihrem Hoheitsgebiet dauerhaft mit einer Wohnung oder finanzieller Unterstützung zu versorgen, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 20). Nach der neueren Rechtsprechung kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht sein, wenn sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not wiederfände, die es ihr nicht erlauben würde, selbst die elementarsten menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, namentlich sich zu ernähren, zu waschen und ein Obdach zu finden, und ihre Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen mit der Menschenwürde unvereinbaren Zustand der Verelendung versetzen würde (vgl. Zimmerer in BeckOK MigR, Stand 1.1.2021, § 60 AufenthG Rn. 23). Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - juris LS 1 und Rn. 9, 11).

Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022, 1 C 10.21, Pressemitteilung Nr. 25/2022 vom 21.4.2022) ist Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.

Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen ein einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht.

Im vorliegenden Fall geht der Einzelrichter davon aus, dass bereits jetzt absehbar ist, dass dem Kläger und seinem Familienverband mit seinen Eltern und zwei 2018 und 2021 geborenen Geschwistern bei einer Ausreise nach Nigeria mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen eine Verelendung drohen würde.

Denn es ist nicht nur zu berücksichtigen, ob die Eltern des Klägers voraussichtlich in der Lage sein würden, zusammen - ggf. unter wechselseitiger Betreuung der Kinder unter Umständen auch mit Unterstützung ihrer jeweiligen Familien (lt. den im humangenetischen Gutachten vom 23.5.2018 wiedergegebenen Angaben lebten in Nigeria noch die 42 Jahre alte gesunde Mutter der Mutter des Klägers sowie ein 29 Jahre alter gesunder Bruder und eine zehn Jahre alte gesunde Schwester der Mutter des Klägers [insofern hat die Mutter der Klägerin gegenüber dem Bundesamt abweichende Angaben gemacht] sowie die ebenfalls 42 Jahre alte gesunde Mutter des Vaters des Klägers) - das ganz normale alltägliche Existenzminimum für die insgesamt fünfköpfige Familie - also ohne Berücksichtigung von Behandlungskosten für den Kläger - zu erwirtschaften.

Es ist auch nicht nur zu berücksichtigen, ob die - erstmals anlässlich des stationären Aufenthalts des Klägers vom 17. Juli 2017 bis 25. Juli 2017 durch das LMU Klinikum der Universität M. neu diagnostizierte (vgl. Arztbrief vom 25.7.2017) - homozygote Sichelzellerkrankung des Klägers irgendwo in Nigeria grundsätzlich adäquat behandelbar ist und ob die - zusätzlichen - Kosten hierfür ggf. unter Verwendung von Rückkehrhilfen für eine gewisse Zeit finanziert werden könnten, so dass dem Kläger zumindest alsbald nach einer Ankunft in Nigeria keine lebensbedrohliche Gesundheitsgefahr drohen würde.

Vielmehr ist in einer Gesamtbetrachtung mit zu berücksichtigen, dass sich die Eltern des Klägers mit dem Kläger und den weiteren Kindern dauerhaft in unmittelbarer Nähe einer Fachklinik mit Erfahrung in der Betreuung von Kindern mit Sichelzellerkrankung und einer Notfallaufnahme sowie Kinderintensivstation niederlassen müssten, um im Falle einer jederzeit unerwartet möglichen medizinischen Krise mit dem Kläger innerhalb der nächsten 60 Minuten in einer solchen Klinik sein zu können (vgl. Schreiben des LMU Klinikums der Universität M. vom 4.9.2019 und 10.5.2022).

Es ist zur Überzeugung des Einzelrichters nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass den Eltern des Klägers dies - selbst mit (nicht als gesichert anzusehender) finanzieller Unterstützung durch deren Familien -gelingen könnte. Vielmehr geht der Einzelrichter davon aus, dass nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen unter Aufbietung aller Kräfte auf Dauer vielleicht die Finanzierung der Krankheitskosten des Klägers gerade so möglich wäre, deswegen aber der Familie als Ganzes Verelendung drohen würde. Denn solche Gegebenheiten würden die Eltern des Klägers nur in einer der großen Städte Nigerias vorfinden können, mit einerseits gegenüber auf dem Land absehbar viel höheren Lebenshaltungskosten, insbesondere auch zu erwartenden höheren Mietkosten, und andererseits einem angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation in Nigeria hart umkämpften Arbeitsmarkt bei hoher Arbeitslosigkeit.

Aus diesen Anforderungen an die sofortige Erreichbarkeit notfalls kinderintensivmedizinischer Versorgung resultiert auch plausibel die dem Kläger in der ärztlichen Bescheinigung des LMU Klinikums der Universität M. vom 26. Januar 2018 attestierte Reiseunfähigkeit, weil solche Anforderungen bereits während eines mehrstündigen Fluges von Deutschland nach Nigeria nicht erfüllt werden könnten - was allerdings kein hier zu berücksichtigendes zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis darstellt, sondern ein von der Ausländerbehörde zu berücksichtigendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis.

Ob die Eltern des Klägers wirklich staatlichen Krankenversicherungsschutz als „Selbständige“, wohl quasi als freiwilliges Mitglied, erlangen könnten, wie das Bundesamt im Bescheid vom 13. April 2021 meint (solche Ausführungen des Bundesamts sind dem Einzelrichter jedenfalls bislang in keinem seiner anderen Verfahren begegnet), an welche Bedingungen dies geknüpft wäre und ob die Eltern diese erfüllen könnten, erscheint völlig ungeklärt. Im zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 5. Dezember 2020 lässt sich dies jedenfalls so ebenso wenig nachvollziehen (Seite 24: „Es gibt eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt.“) wie im nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemachten aktuellen Lagebericht vom 22. Februar 2022 (dort gleichlautend auf Seite 21).

Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger ebenfalls erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung mehr, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG um einen einheitlichen Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - NVwZ 2012, 240 Rn. 16).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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