Urteil vom Verwaltungsgericht Münster - 4 K 1699/18
Tenor
Das beklagte Land wird unter Aufhebung des Bescheides der U vom 28. Februar 2018 und des Widerspruchsbescheides der U vom 24. April 2018 verpflichtet, die Drohungen des damaligen Schülers B am 2. Februar 2017 gegenüber der Klägerin und das am gleichen Tag erfolgte Telefonat zwischen der Schulleiterin der Schule A und der Klägerin als Dienstunfall mit den Unfallfolgen reaktives Angstsyndrom, psychovegetatives Erschöpfungssyndrom, Niedergeschlagenheit und Beklemmungen, Schlafstörungen, trockene Kehle mit Schluckbeschwerden, Hyperhidrosis, Bluthochdruck sowie Rücken- und Gliederschmerzen anzuerkennen.
Das beklagte Land trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Das beklagte Land darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in beizutreibender Höhe leistet.
1
Tatbestand
2Die 1956 geborene Klägerin trat nach dem Lehramtsstudium und dem Vorbereitungsdienst im Angestelltenverhältnis in den öffentlichen Schuldienst ein. 1987 wurde sie als Lehrerin unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Probe übernommen und 1988 unter Verleihung der Eigenschaft einer Beamtin auf Lebenszeit zur Lehrerin für die Sekundarstufe I ernannt. Sie ist an der Schule A tätig.
3Am 2. Februar 2017 führten die Schulleiterin und der Schulsozialarbeiter der Schule ein Gespräch mit dem damaligen Schüler B der Klasse 9 und dessen Mutter. Die Klägerin, die Klassenlehrerin des Schülers war, nahm an dem Gespräch nicht teil. Während des Gesprächs äußerte der Schüler wiederholt, „Ich bringe Frau X um“ und „Es werden schlimme Dinge passieren“. Die Schulleiterin informierte abends in einem Telefonat die Klägerin.
4Die Klägerin war vom 6. bis zum 10. Februar 2017 dienstunfähig. Dr. G, Facharzt für Innere Medizin, diagnostizierte in seiner ärztlichen Bescheinigung vom 11. Februar 2017 Bluthochdruck, Schlafstörungen, reaktives Angstsyndrom und psychovegetative Dysregulation. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen bestünden „infolge Morddrohung eines Schülers“. Ab dem 11. Februar 2017 war die Klägerin zunächst wieder als Lehrerin tätig.
5Am 13. Februar 2017 beantragte die Klägerin bei der U die Anerkennung des Vorfalls am 2. Februar 2017 als Dienstunfall. Als Folgen der Drohungen des Schülers gab sie Bluthochdruck, Schlafstörungen, Angstsymptomatik und innere Unruhe an.
6Mit Beschluss vom 17. Februar 2017 untersagte das Amtsgericht, Familiengericht, dem Schüler unter anderem, sich der der Klägerin auf weniger als 20 m zu nähern. Nach der Bescheinigung der Fachärzte für Orthopädie Dres. W. vom 28. März 2017 befand sich die Klägerin seit dem 6. Februar 2017 wegen akuter BWS- und LWS-Beschwerden in orthopädischer Behandlung.
7Am 29. März 2017 wurde die Klägerin amtsärztlich untersucht. Nach der Einschätzung der Amtsärztin Dr. T in ihrem Gutachten vom 3. April 2017 „begründet der vorliegende Dienstunfall (Telefonanruf) vom Februar diesen Jahres aus amtsärztlicher Sicht die geklagten Beschwerden/Funktionsstörungen nicht“. Insbesondere der Bluthochdruck und die Rückenbeschwerden seien als schicksalshaft einzustufen, weil diese gesundheitlichen Beeinträchtigungen schon vor dem 2. Februar 2017 bestanden hätten.
8Nach der Bescheinigung von Dr. G vom 2. Mai 2017 war bei der Klägerin nach dem Vorfall am 2. Februar 2017 eine ausgeprägte psychovegetative Dysregulation mit deutlicher Buntdruckerhöhung festgestellt worden. Es sei ihr eine psychotherapeutische Behandlung dringend angeraten worden. Mit Attest vom 31. Juli 2018 bestätigte Dr. G, dass bei der Klägerin aufgrund der Morddrohung des Schülers der Bluthochdruck angestiegen sei sowie eine ausgeprägte vegetative Begleitsymptomatik mit Hyperhidrosis, Schlafstörungen und vermehrten Unruhezuständen aufgetreten seien.
9Nach der Bescheinigung von Prof. T, Arzt für Neurologie sowie Psychiatrie und Psychotherapie, forensischer Psychiater, mit dem die Klägerin befreundet ist, besprach er mit ihr erstmals am 7. Februar 2017 und auch in der Folgezeit die Auswirkungen des Vorfalls vom 2. Februar 2017 auf ihre Gesundheit. Nach Einschätzung von Prof. T erschien die Klägerin im Mai 2017 angespannter, belasteter und besorgter als im Februar 2017.
10Seit dem 16. Mai 2017 befand sich die Klägerin in psychotherapeutischer Behandlung bei Dr. F, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin. Nach ihren Bescheinigungen vom 5. Juli 2017 und 20. September 2018 hat der Vorfall am 2. Februar 2017 bei der Klägerin körperliche und seelische Beschwerden hervorgerufen.
11Auf Bitte der U vom 23. Mai 2017, ein amtsärztliches Gutachten zu der Frage vorzulegen, ob der Vorfall am 2. Februar 2017 geeignet sei, die von der Klägerin geltend gemachten Erkrankungen hervorzurufen, teilte Amtsärztin Dr. S der U mit E-Mail vom 18. Juli 2017 mit, es sei Sache der U, zunächst zu entscheiden, ob überhaupt ein Dienstunfall vorliege. Erst im zweiten Schritt sei zu prüfen, welche gesundheitlichen Folgen durch einen Dienstunfall hervorgerufen worden seien.
12Mit Bescheid vom 28. Februar 2018 lehnte die U den Antrag der Klägerin auf Anerkennung eines Dienstunfalls ab. Zur Begründung führte die U aus: Der für einen Dienstunfall erforderliche Ursachenzusammenhang sei immer ausgeschlossen, wenn es sich um einen Vorfall handele, der bei einem durchschnittlichen Beamten in derselben Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Erkrankung geführt hätte. Denn in einem solchen Fall könne sicher angenommen werden, dass persönliche Anlagen wesentliche Ursache für die Erkrankung seien. So liege es hier, weil der Telefonanruf der Schulleiterin bei einem durchschnittlichen Beamten keine Erkrankung hervorgerufen hätte. Die geltend gemachten Erkrankungen fielen deshalb in die Risikosphäre der Klägerin. Darüber hinaus bestätige auch das amtsärztliche Gutachten, dass die geltend gemachten Beschwerden nicht Folge des Vorfalls am 2. Februar 2017, sondern schicksalhaft seien. Die amtsärztliche Stellungnahme sei aufgrund der rechtlichen Stellung der Amtsärztin aussagekräftiger als die Stellungnahme von Prof. T. Außerdem sei nach seiner Bescheinigung ein Behandlungsbedarf nicht erkennbar. Die Klägerin habe auch keinen Antrag auf Erstattung der Kosten für eine psychotherapeutische Behandlung gestellt. Es liege auch nicht das für einen Dienstunfall erforderliche plötzliche Ereignis vor. Denn nach einer Aktennotiz der Schulleiterin habe es schon vor dem 2. Februar 2017 Schwierigkeiten mit dem Schüler gegeben und es sei wenig wahrscheinlich, dass die Klägerin als Klassenlehrerin nicht eingebunden gewesen sei. Eine unmittelbare Konfliktsituation zwischen der Klägerin und dem Schüler habe es am 2. Februar 2017 nicht gegeben.
13Die Klägerin erhob gegen den Bescheid Widerspruch und machte geltend: Es sei unzutreffend, dass kein im Berufsleben eines Lehrers außergewöhnlicher Vorgang vorgelegen habe. Vielmehr handele es sich um eine kriminelle Tat des Schülers, die bei ihr zu erheblichen Ängsten und Störungen geführt habe. Es sei zynisch, diesen Vorfall ihrer Risikosphäre zuzuordnen. Es gehöre nicht zum Alltag eines Lehrers, von einem Schüler mit dem Tod bedroht zu werden.
14Mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 2018 wies die U den Widerspruch der Klägerin zurück und wiederholte ihre Ausführungen in dem Bescheid vom 28. Februar 2018.
15Die Klägerin hat am 29. Mai 2018 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend im Wesentlichen vor: Die geltend gemachten Erkrankungen seien kausal auf den Vorfall am 2. Februar 2017 und die telefonische Unterrichtung der Schulleiterin über die Morddrohungen des Schülers zurückzuführen. Es handele sich bei dem Vorfall auch nicht um eine Bagatelle. Das Amtsgericht, Familiengericht, habe gegen den Schüler Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz angeordnet. Auch die Staatsanwaltschaft und die Sicherheitsbehörden hätten den Vorfall außerordentlich ernst genommen. Der Schüler sei aufgrund des Vorfalls vorübergehend in eine geschlossene Einrichtung untergebracht worden. Die U habe ihr Ermessen nicht ausgeübt.
16Die Klägerin beantragt,
17„unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides der U vom 28.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der U vom 24.04.2018 den Vorfall vom 02.02.2017 nach Maßgabe des Antrags der Klägerin als Dienstunfall im Sinne des Landesbeamtenversorgungsgesetzes anzuerkennen“.
18Das beklagte Land beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Es wiederholt und vertieft die Ausführungen der U und trägt im Wesentlichen weiter vor: Die von der Klägerin angeführten Drohungen des Schülers seien erfahrungsgemäß im Schulalltag keine Ausnahmeerscheinung. Es gehöre zu den Aufgaben eines Lehrers und der Schulen insgesamt, im Rahmen des Erziehungsauftrags auch derartige Auseinandersetzungen mit Schülern zu führen und aufzuarbeiten. Etwaige Erkrankungen der Klägerin im Zusammenhang mit dem Vorfall am 2. Februar 2017 fielen deshalb in ihre Risikosphäre. Nach der Bescheinigung von Dr. F vom 5. Juli 2017 habe der Schüler auch andere Lehrer bedroht. Diese hätten aber keinen Antrag auf Anerkennung eines Dienstunfalls gestellt. Es könne auch deshalb sicher angenommen werden, dass persönliche Anlagen der Klägerin wesentliche Ursache für die geltend gemachten Beschwerden seien. Außerdem sei die Klägerin nach der Bescheinigung vom 5. Juli 2017 mehrfach von dem Schüler bedroht worden. Der Vorfall am 2. Februar 2017 stelle deshalb kein plötzliches Ereignis dar. Es lägen vielmehr andauernde Ereignisse bzw. länger andauernde Einwirkungen vor, die durch ihr Zusammenwirken zu den geltend gemachten Beschwerden geführt hätten. Dr. F habe in ihren Bescheinigungen keine psychische Erkrankung diagnostiziert.
21Das Gericht hat durch Einholung eines Sachverständigengutachtens Beweis darüber erhoben, ob die von der Klägerin geltend gemachten gesundheitlichen Beschwerden (reaktives Angstsyndrom, psychovegetatives Erschöpfungssyndrom, Niedergeschlagenheit und Beklemmungen, Schlafstörungen, trockene Kehle mit Schluckbeschwerden, Hyperhidrosis, Bluthochdruck, Rücken- und Gliederschmerzen) darauf zurückzuführen sind, dass sie am 2. Februar 2017 von der Schulleiterin der Schule telefonisch über die Äußerungen des damaligen Schülers, „Ich bringe Frau X um.“ sowie „Und es werden schlimme Dinge passieren.“ informiert ist.
22Entscheidungsgründe
23Der Einzelrichter versteht das Klagebegehren mit Blick auf § 88 VwGO dahin, dass die Klägerin nicht nur die Anerkennung des Vorfalls am 2. Februar 2017 als Dienstunfall, sondern auch die Verpflichtung des beklagten Landes begehrt, die von ihr geltend gemachten und aus den ärztlichen Attesten und Bescheinigungen hervorgehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen als Unfallfolgen anzuerkennen. Denn nach ihrem Klageantrag begehrt sie die Anerkennung des Vorfalls als Dienstunfall „nach Maßgabe“ ihres Antrags vom 13. Februar 2017, mit dem sie auch Unfallfolgen geltend gemacht hat. Dabei geht es ihr nicht nur um die in dem Antrag geltend gemachten Unfallfolgen (Bluthochdruck, Schlafstörungen, Angstsymptomatik, innere Unruhe), sondern auch um die sich aus den von ihr in der Folgezeit vorgelegten ärztlichen Attesten und Bescheinigungen hervorgehenden Folgen des Vorfalls am 2. Februar 2017. Denn mit der Vorlage der Atteste und Bescheinigungen hat sie zumindest schlüssig zum Ausdruck gebracht, die dort angeführten Folgen, soweit sie über die von ihr in ihrem Antrag vom 13. Februar 2017 hinausgehen, ebenfalls als Unfallfolgen anzuerkennen. Eine andere Auslegung des Klageantrags der Klägerin hätte zur Folge, dass sie für nicht bereits in ihrem Antrag vom 13. Februar 2017 angeführten Unfallfolgen einen zusätzlichen Anerkennungsantrag stellen müsste. Insofern entspricht es effektivem Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), über die weitergehenden Folgen im vorliegenden Verfahren (mit) zu entscheiden, zumal auch das beklagte Land hinreichend Gelegenheit hatte, zu allen Unfallfolgen Stellung zu nehmen. Es gibt auch keine Regelung oder einen allgemeinen Grundsatz, dass bereits mit der Unfallmeldung (§ 54 LBeamtVG NRW) sämtliche in Betracht kommende Körperschäden angezeigt werden müssen und eine spätere Anzeige den Ausschluss dienstunfallrechtlicher Ansprüche zur Folge hat. Vielmehr kommt die Klärung, ob ein Unfall in Ausübung des Dienstes vorliegt, auch dann in Betracht, wenn das Ereignis noch keinen Körperschaden verursacht hat.
24BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2019 – 2 A 1.19 -, juris, Rdn. 19.
25Die Klage ist als Verpflichtungsklage im Sinne des § 42 Abs. 1 VwGO zulässig.
26Statthaft ist die Verpflichtungsklage auch in Bezug auf die von der Klägerin geltend gemachten Unfallfolgen. Nicht nur die Anerkennung eines Vorfalls als Dienstunfall, sondern auch die Anerkennung bestimmter Unfallfolgen erfolgt durch Erlass eines den Beamten begünstigenden und mit der Verpflichtungsklage beim Verwaltungsgericht zu erstreitenden Verwaltungsakt.
27BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2019 – 2 A 1.19 -, a. a. O.; OVG NRW, Urteil vom 23. Mai 2014 – 1 A 1988/11 -, juris, Rdn. 42; VG München, Urteil vom 25. September 2017 – M 21 K 16.1847 -, juris, Rdn. 38, m. w. N.
28Die Klägerin hat auch ein Rechtsschutzinteresse für ihre Verpflichtungsklage. Das Rechtsschutzinteresse ist nicht ganz oder teilweise deshalb entfallen, weil nach dem Sachverständigengutachten von Prof. N die geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen infolge des Vorfalls am 2. Februar 2017 mittlerweile abgeklungen sind und nicht anzunehmen ist, dass es zu einem dauernden Schaden kommt. Daraus folgt allenfalls, dass für die Zukunft Ansprüche etwa auf Unfallfürsorge (§ 39 LBeamtVG NRW) oder Unfallausgleich (§ 41 LBeamtVG NRW) voraussichtlich nicht bestehen. Für die Vergangenheit ist dagegen das Bestehen von Ansprüchen beispielsweise gemäß §§ 39, 41 LBeamtVG nicht ausgeschlossen. So hat die Klägerin nach ihren glaubhaften Angaben gegenüber dem Sachverständigen viele psychotherapeutische Sitzungen selbst bezahlt, weil das „Budget“ für Psychotherapie begrenzt sei und bei Anerkennung eines Dienstunfalls die Kosten für weitergehende Sitzungen übernommen worden wären (S. 26 des Sachverständigengutachtens).
29Die Verpflichtungsklage ist begründet. Der Bescheid der U vom 28. Februar 2018 und der Widerspruchsbescheid der U vom 24. April 2018 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Sie hat einen Anspruch auf Anerkennung des Vorfalls am 2. Februar 2017 als Dienstunfall und auf Anerkennung der durch den Dienstunfall hervorgerufenen Gesundheitsbeeinträchtigungen.
30Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin auf Anerkennung des Vorfalls am 2. Februar 2017 als Dienstunfall ist § 36 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG NRW. Danach ist ein Dienstunfall ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Unerheblich ist insoweit der Vortrag der Klägerin, die U habe ihr Ermessen fehlerhaft nicht ausgeübt. Ein Ermessen steht der U gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG nicht zu.
31Die der Klägerin durch den Telefonanruf der Schulleiterin am 2. Februar 2017 mitgeteilten Drohungen des Schülers haben bei ihr einen Körperschaden hervorgerufen. Ein Körperschaden im Sinne des § 36 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG NRW liegt vor, wenn sich der physische oder psychische Zustand des Beamten nachteilig geändert hat.
32Vgl. Katzmeier, in: Stegmüller/Schmalhofer/Bauer, Beamtenversorgungsrecht des Bundes und der Länder, § 31 BeamtVG Rdn. 36.
33Die Drohungen des Schülers haben eine solche Veränderung des Gesundheitszustandes der Klägerin unabhängig von weiteren Gesundheitsbeeinträchtigungen jedenfalls insoweit bewirkt, als sich bei ihr nachteilige psychische Folgen wie Angst, Niedergeschlagenheit und Beklemmungen eingestellt hatten. Die nachteiligen psychischen Folgen ergeben sich nicht nur aus dem Sachverständigengutachten von Prof. N, sondern etwa auch aus den Bescheinigungen von Prof. T und Dr. F. Beide bescheinigen, dass sich der psychische Zustand der Klägerin aufgrund des Telefonanrufs nachteilig verändert hatte. Dabei kommt es entgegen den Ausführungen der U etwa in ihrem Widerspruchsbescheid vom 24. April 2018 nicht darauf an, dass Prof. T keinen Behandlungsbedarf diagnostiziert hatte. Für das Vorliegen eines Körperschadens im Sinne des § 36 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG NRW kommt es weder auf die Schwere der Gesundheitsbeeinträchtigung noch auf eine Behandlungsbedürftigkeit der Beeinträchtigung an.
34Vgl. nur Katzmeier, a. a. O., Rdn. 36; Brockhaus, in: Schütz/Maiwald, Beamtenversorgungsgesetz, § 31 BeamtVG, Rdn. 29, m. w. N.
35Entgegen der Auffassung der U kommt es dementsprechend für das Vorliegen eines Körperschadens auch nicht darauf an, dass die Klägerin nach dem Vortrag der U bislang keine Leistungen für eine psychotherapeutische Behandlung beantragt hat. Davon abgesehen hat die Klägerin nach den Bescheinigungen von Dr. F psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen und die Behandlung teilweise selbst bezahlt.
36Unerheblich ist darüber hinaus, dass Dr. F nicht ausdrücklich eine (bestimmte) psychische Erkrankung diagnostiziert hat. Eine solche Diagnose ist keine zwingende Voraussetzung für das Vorliegen eines Dienstunfalls. Die für das Vorliegen eines Körperschadens erforderliche nachteilige Veränderung des Gesundheitszustandes der Klägerin infolge der Drohungen am 2. Februar 2017 ergibt sich aus den Ausführungen von Dr. F, indem sie etwa in ihrer Bescheinigung vom 20. September 2018 über Ängste und Unruhezustände bei der Klägerin nach dem 2. Februar 2017 berichtet. Diese nachteiligen Auswirkungen belegen auch die Bescheinigung von Prof. T und das Sachverständigengutachten von Prof. N.
37Der Körperschaden ist auch durch eine äußere Einwirkung im Sinne des § 36 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG NRW hervorgerufen worden. Die rechtliche Beurteilung, ob eine solche äußere Einwirkung vorliegt, hat anhand eines objektiven Maßstabs zu erfolgen. Das Merkmal "äußere Einwirkung" dient der Abgrenzung äußerer Vorgänge von krankhaften Vorgängen im Innern des menschlichen Körpers. Entscheidend für die Abgrenzung eines Unfalls von sonstigen Körperbeschädigungen ist danach, ob die Einwirkung auf Umständen beruht, für die eine in körperlicher oder seelischer Hinsicht besondere Veranlagung des Betroffenen oder das willentliche Verhalten des Betroffenen die wesentliche Ursache war. Auch herabsetzende Reden, Beleidigungen und Beschimpfungen können eine äußere Einwirkung sein, weil sie "von außen her" die seelische Verfassung des Betroffenen beeinflussen und zu körperlichen Beeinträchtigungen führen können.
38Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Oktober 2018 – 2 B 3.18 –, juris, Rdn. 13; OVG NRW, Beschluss vom 2. August 2019 – 1 A 1713/17 -, juris, Rdn. 28.
39Diese Rechtsprechung knüpft an die dem Dienstunfallrecht zugrundeliegende Risikoverteilung an. Der Gesetzgeber wollte mit den Dienstunfallvorschriften dem Dienstherrn nicht unbeschränkt das Risiko für alle von den Beamten erlittenen Körperschäden auferlegen. Er ist vielmehr von dem allgemeinen Grundsatz ausgegangen, dass die Folge „schicksalsmäßiger“ Einwirkungen von dem Geschädigten selbst zu tragen sind. Hierzu gehören Ereignisse, mit denen während der Dienstausübung typischerweise gerechnet werden muss. Dem liegt die Einschätzung zugrunde, dass derartige „sozialadäquate“ bzw. „diensttypische“ Vorgänge von einem „durchschnittlichen“ Beamten verarbeitet werden können, andernfalls wäre ein geordneter Dienstbetrieb unmöglich. Solche Vorgänge lassen vermuten, dass mangelnde persönliche Verarbeitungsfähigkeit des Beamten oder eine andere nicht der Risikosphäre des Dienstherrn zuzurechnende persönliche Veranlagung den Körperschaden hervorgerufen hat. Nur dann, wenn das Ereignis den Rahmen des „sozialadäquaten“ bzw. „diensttypischen“ überschreitet, ist ein auf dieser psychischen Einwirkung beruhender Körperschaden, namentlich ein seelischer Schaden, wertungsmäßig der Sphäre des Dienstherrn und nicht der Sphäre des Beamten aufgrund seiner besonderen individuellen Veranlagung zuzurechnen. Allein in einem solchen Fall gibt es eine innere Rechtfertigung, dem Beamten über die auch in diesen Fällen stets zu gewährenden Beihilfeleistungen hinaus den besonderen Schutz des Dienstunfallfürsorgerechts zukommen zu lassen.
40BVerwG, Beschluss vom 11. Oktober 2018 – 2 B 3.18 –, a. a. O., Rdn. 14; Nds. OVG, Urteil vom 24. Oktober 2017 – 5 LB 124/16 -, juris, Rdn. 103 ff.; VG Würzburg, Urteil vom 25. Juni 2019 – W 1 K 19.108 -, juris, Rdn. 18, jeweils m. w. N.
41Nach Maßgabe dieser Grundsätze liegt hier bei der gebotenen wertenden Betrachtung ein äußeres Ereignis vor.
42Im Ausgangspunkt weisen das beklagte Land und die U zutreffend darauf hin, dass es zu den typischen Aufgaben der Lehrkräfte gehört, sich auch in Konfliktsituationen mit Schülern auseinanderzusetzen, und dass derartige Konfliktsituationen im Einzelfall eskalieren können. Der daraus gezogene Schluss, der Vorfall am 2. Februar 2017 sei im Berufsleben eines Lehrers nicht außergewöhnlich, trifft jedoch nicht zu. Eskalierende Konfliktsituationen mit Schülern überschreiten den Rahmen des „Diensttypischen“ jedenfalls dann, wenn sie mit erheblichen körperlichen und seelischen Angriffen auf die Lehrkräfte einhergehen. So liegt es hier. Die Drohung des Schülers am 2. Februar 2017, „Ich bringe Frau X um“ und „Es werden schlimme Dinge passieren“, geht weit über eine „sozialadäquate“ Auseinandersetzung hinaus, weil der Schüler zielgerichtet das Leben der Klägerin bedrohte. Das deutliche Überschreiten einer „sozialadäquaten“ Auseinandersetzung zeigt vor allem die Wertung des Gesetzgebers, derartige Bedrohungen gemäß § 241 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe zu bestrafen. Eine eventuelle Schuldunfähigkeit des Schülers (§ 19 StGB) ändert nichts daran, dass sein Verhalten gerade auch mit Blick auf die in § 241 Abs. 1 StGB zum Ausdruck kommende gesetzliche Wertung deutlich über das Maß des „Sozialadäquaten“ und „Diensttypischen“ hinausgeht.
43Es bestehen auch keine Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Drohung des Schülers. Das folgt schon daraus, dass er die Drohung am 2. Februar 2017 mehrfach wiederholte. Nach dem Schreiben der Schulleiterin an die U vom 13. Februar 2017 äußerte der Schüler auch nach der Aufforderung der Schulleiterin, seine Drohung zurückzunehmen, weiterhin, er werde die Klägerin umbringen. Sodann verließ der Schüler den Raum und kam nach kurzer Zeit zurück. Er drohte erneut, die Klägerin umzubringen, und blieb auch nach erneuter Aufforderung, diese Drohung zurückzunehmen, bei seinen Äußerungen.
44Soweit das beklagte Land ausführt, die von der Klägerin angezeigte Drohung des Schülers sei erfahrungsgemäß im Schulalltag keine Ausnahmeerscheinung, handelt es sich um pauschales Vorbringen, weil keine belastbare Tatsachengrundlage für die Wertung „erfahrungsgemäß“ angeführt worden ist. Im Übrigen mag sein, dass die Drohung gegenüber der Klägerin kein Einzelfall im Schulalltag ist. Das allein rechtfertigt aber bei der im Dienstunfallrecht gebotenen wertenden Betrachtung nicht, auf das Leben der Lehrkräfte zielende Drohungen generell ihrer Risikosphäre zuzurechnen. Auch wenn es sich bei der gebotenen wertenden Betrachtung um eine vom Gericht und nicht vom Sachverständigen zu beantwortende Rechtsfrage handelt, bestätigt auch die überzeugende Wertung des Sachverständigen Prof. N, es handele sich bei den Äußerungen des Schülers um eine sehr persönlich ausgestoßene Drohung, die über das übliche Maß, das im Schulalltag vorkomme, deutlich hinausgehe, die hier gebotene Risikoverteilung zu Lasten des beklagten Landes als Dienstherr der Klägerin.
45Auch sonst gibt es keinen greifbaren Anhalt für einen „diensttypischen“ Vorgang. Das beklagte Land macht insofern ohne Erfolg geltend, auch andere Lehrer seien von Gewaltdrohungen des Schülers betroffen gewesen, es lägen aber keine Dienstunfallanzeigen dieser Lehrer vor. Der Vortrag ist bereits unsubstantiiert. Das beklagte Land hat die angeführten Gewaltdrohungen gegenüber anderen Lehrern nicht näher konkretisiert. Vielmehr stützt sich das Land ausschließlich auf die Bescheinigung von Dr. F vom 5. Juli 2017, in der es ebenfalls ohne nähere Konkretisierung heißt, auch andere Lehrer und Schüler seien von Gewaltandrohungen betroffen gewesen. Dementsprechend ist nicht erkennbar, dass die Gewaltandrohungen gegenüber anderen mit der erheblichen Qualität der mehrfachen Morddrohungen gegenüber der Klägerin am 2. Februar 2017 vergleichbar sind. Davon abgesehen sind die Gründe für einen Antrag auf Anerkennung eines Dienstunfalls und für das Absehen von einem solchen Antrag derart individuell, dass sich daraus entgegen der Auffassung des beklagten Landes zumindest keine verlässlichen Rückschlüsse auf einen „durchschnittlichen“ Beamten ziehen lassen.
46Es liegt zudem ein plötzliches Ereignis im Sinne des § 36 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG NRW vor. Das Merkmal "plötzlich" in § 31 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG dient der Abgrenzung eines Einzelgeschehens von dauernden Einwirkungen. Es kommen nur einmalige, kurzzeitige Begebenheiten in Betracht, die sich allerdings häufen können. Schädliche Dauereinwirkungen sind grundsätzlich kein plötzliches Ereignis. Die Abgrenzung von der Dauersituation bedarf einer wertenden Betrachtung.
47BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2019 – 2 A 1.19 -, a. a. O., Rdn. 24, m. w. N..
48Danach liegt im vorliegenden Fall bei wertender Betrachtung ein plötzliches Ereignis vor. Die geltend gemachten Körperschäden sind nicht aufgrund schädlicher Dauereinwirkung, sondern aufgrund einer einmaligen und kurzzeitigen Begebenheit eingetreten. Diese Begebenheit sind die Drohungen des Schülers am 2. Februar 2017 und das nachfolgende Telefonat der Schulleiterin, mit dem die Klägerin in Kenntnis über die Drohungen gesetzt worden ist. Nach den überzeugenden Ausführungen von Prof. N stellt sich der Vorfall als ein gravierendes Ereignis dar, das die Klägerin traumatisiert erlebt und bei ihr zu erheblichen Reaktionen geführt habe.
49Der Annahme eines plötzlichen Ereignisses steht entgegen der Auffassung des beklagten Landes und der U auch nicht entgegen, dass es bereits vor dem Vorfall am 2. Februar 2017 Schwierigkeiten mit dem Schüler gab. Abgesehen davon, dass in der von der U in diesem Zusammenhang angeführten undatierten Aktennotiz der Schulleiterin keine konkreten Schwierigkeiten mit dem Schüler aufgezeigt werden, haben frühere Auseinandersetzungen zwischen der Klägerin und dem Schüler bei der gebotenen wertenden Betrachtung nicht zur Folge, dass eine schädliche Dauereinwirkung auf die Klägerin anzunehmen ist. Denn es gibt keinen greifbaren Anhalt dafür, dass die Reaktionen der Klägerin auf den Vorfall am 2. Februar 2012 zumindest auch Folge vorhergehender Auseinandersetzungen mit dem Schüler sind. Vielmehr stellt sich der Vorfall als einmalige und kurzzeitige (singuläre) Begebenheit dar, weil seine Qualität und Folge für die Gesundheit der Klägerin mit früherem Fehlverhalten des Schülers nicht vergleichbar ist. Zutreffend führt der Sachverständige insoweit aus, der Hinweis der U, der Schüler sei als schwierig bekannt gewesen und man habe dementsprechend mit Problemen rechnen müssen, treffe nicht den Kern des Problems, weil es nicht um eine Störung des Unterrichts, sondern um eine sehr persönlich ausgestoßene Drohung gehe, die über das im Schulalltag Vorkommende übliche Maß deutlich hinausgehe. Unabhängig davon würde es bei der gebotenen wertenden Betrachtung dem Sinn und Zweck des Dienstunfallschutzes nicht gerecht, eine Lehrkraft allein deshalb nicht in den Genuss der Dienstunfallfürsorgeleistungen kommen zu lassen, weil sie nicht nur ein Mal, sondern mehrfach über einen langen Zeitraum von einem Schüler attackiert wird.
50VG Arnsberg, Urteil vom 30. November 2016 – 13 K 3910/15 -, juris, Rdn. 31 f., m. w. N.
51Hier kommt hinzu, dass sich der Vorfall am 2. Februar 2017 als eine mit früheren Auseinandersetzungen nicht ansatzweise vergleichbare Eskalationsstufe darstellt.
52Der Vorfall am 2. Februar 2017 erfolgte im Sinne des § 36 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG NRW in Ausübung des Dienstes der Klägerin. Denn er stellt sich als unmittelbare Folge der Dienstausübung der Klägerin dar. Der Schüler hat seine Drohungen nicht gegen die Klägerin als Privatperson, sondern als Lehrerin geäußert. Darüber hinaus bezweckte der Anruf der Schulleiterin, die Klägerin als Lehrerin über die Drohungen zu informieren und vor eventuellen Übergriffen des Schülers zu schützen. Das stellt auch das beklagte Land nicht in Abrede.
53Die Klägerin hat weiter einen Anspruch darauf, die von ihr geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen als Unfallfolgen anzuerkennen. Nach § 54 Abs. 3 Satz 2 LBeamtVG NRW entscheidet die oberste Dienstbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle u. a. darüber, ob ein Dienstunfall vorliegt. Die daraus abzuleitende Entscheidungsbefugnis umfasst auch die Entscheidung darüber, ob bestimmte Leiden Folge eines als Dienstunfall anerkannten oder anzuerkennenden Ereignisses sind.
54Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2019 – 2 A 1.19 -, a. a. O., Rdn. 19, OVG NRW, Urteile vom 3. November 2015 – 1 A 857/12 -, juris, Rdn. 61, und 23. Mai 2014 – 1 A 1988/11-, a. a. O., Rdn. 47 f.
55Voraussetzung dafür ist gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG NRW, dass das auf äußerer Einwirkung beruhende, plötzliche, örtlich und zeitlich bestimmbare Ereignis die geltend gemachten Körperschäden verursacht hat. Dieser Ursachenzusammenhang liegt hier vor.
56Im Dienstunfallrecht der Beamten sind als Ursache im Rechtssinne nur solche für den eingetretenen Schaden ursächlichen Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen (natürlich-logischen) Sinne anzuerkennen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg nach natürlicher Betrachtungsweise an dessen Eintritt mitgewirkt haben, die also insofern als „wesentlich" anzusehen sind (Theorie der wesentlich mitwirkenden Ursache). Dies zielt auf eine sachgerechte Risikoverteilung. Dem Dienstherrn sollen nur die spezifischen Gefahren der Beamtentätigkeit oder die nach der Lebenserfahrung auf sie zurückführbaren, für den Schaden wesentlichen Risiken aufgebürdet werden. Diejenigen Risiken, die sich aus persönlichen, von der Norm abweichenden Anlagen oder aus anderen als dienstlich gesetzten Gründen ergeben, sollen hingegen bei dem Beamten belassen werden. Dementsprechend ist der Dienstunfall dann als wesentliche Ursache im Rechtssinne anzuerkennen, wenn er bei natürlicher Betrachtungsweise entweder überragend zum Erfolg (Körperschaden) beigetragen hat oder zumindest annähernd die gleiche Bedeutung für den Eintritt des Schadens hatte wie die anderen Umstände insgesamt. Wesentliche Ursache im Dienstunfallrecht kann auch ein äußeres Ereignis sein, das ein anlagebedingtes Leiden auslöst oder (nur) beschleunigt, wenn diesem Ereignis nicht im Verhältnis zu anderen Bedingungen – zu denen auch die bei Eintritt des äußeren Ereignisses schon vorhandene Veranlagung gehört – eine derart untergeordnete Bedeutung für den Eintritt der Schadensfolge zukommt, dass diese anderen Bedingungen bei natürlicher Betrachtung allein als maßgeblich anzusehen sind. Nicht Ursachen im Rechtssinne sind demnach zum Beispiel sog. Gelegenheitsursachen, d. h. Ursachen, bei denen zwischen dem eingetretenen Schaden und dem Dienstunfall eine rein zufällige Beziehung besteht, wenn also die krankhafte Veranlagung oder das anlagebedingte Leiden so leicht ansprechbar waren, dass es zur Auslösung akuter Erscheinungen keiner besonderen, in ihrer Eigenart unersetzlichen Einwirkungen bedurfte, sondern auch ein anderes, alltäglich vorkommendes Ereignis zum selben Erfolg geführt hätte. Haben hieran gemessen mehrere Bedingungen im Rechtssinne einen bestimmten Erfolg (Körperschaden) herbeigeführt, so sind sie jeweils als wesentliche (Mit-) Ursachen einzustufen. Die materielle Beweislast für den Nachweis des geforderten Kausalzusammenhangs trägt ausgehend von den auch im Dienstunfallrecht anwendbaren allgemeinen Beweisgrundsätzen der (anspruchstellende) Beamte. Grundsätzlich bedarf es insoweit des vollen Beweises im Sinne „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit".
57BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2019 – 2 A 6.18 -, juris, Rdn. 17; OVG NRW, Urteil vom 2. Juli 2019 – 1 A 2356/15 -, juris, Rdn. 32 f., jeweils m. w. N.
58In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass der Vorfall am 2. Februar 2017 ursächlich dafür ist, dass die Klägerin in der Folgezeit an einem reaktiven Angstsyndrom, einem psychovegetativen Erschöpfungssyndrom, Niedergeschlagenheit und Beklemmungen, Schlafstörungen, einer trockenen Kehle mit Schluckbeschwerden, Hyperhidrosis, Bluthochdruck sowie Rücken- und Gliederschmerzen litt.
59Der Ursachenzusammenhang ist zur Überzeugung des Einzelrichters durch das Sachverständigengutachten von Prof. N hinreichend nachgewiesen. Danach löste der Vorfall am 2. Februar 2017 bei der Klägerin psychische und somatische Symptome aus. Er hat „überragend“ (S. 31 des Sachverständigengutachtens) die Symptome Ängstlichkeit, Schreckhaftigkeit, Vermeidungsverhalten, Schlafstörungen und Grübelneigung verursacht. Außerdem sei der Vorfall Anlass für eine Verschlechterung des vorbestehenden Bluthochdrucks und ein Wiederauftreten bereits früher erlittener Rückenschmerzen gewesen. Art und Umfang der Symptome seien mit denjenigen bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) vergleichbar. Die Diagnose einer PTBS erfordere das Vorliegen von drei Symptomkomplexen: starke Nachhallerinnerungen, vegetative Übererregbarkeit und Vermeidungsverhalten. Den Nachhallerinnerungen entsprächen bei der Klägerin das anhaltende Grübeln und Nachdenken über die Situation, insbesondere nachts. Als Symptome einer vegetativen Übererregbarkeit seien die Schlafstörungen, der erhöhte Blutdruck und die erhöhte Schreckhaftigkeit aufzufassen. Zudem habe bezogen auf Spazierengehen ein Vermeidungsverhalten bestanden. Damit sei nicht nur durch die zeitliche Abfolge, sondern auch durch die Beziehungsstruktur zwischen dem Ereignis und der folgenden typischen Symptomatik der kausale Zusammenhang zwischen beiden belegt.
60Die Ausführungen und das Ergebnis des Sachverständigengutachtens überzeugen. Der Sachverständige, der die erforderliche Fachkompetenz zur Beantwortung der ihm gestellten Fragen besitzt, hat sein Gutachten unter erschöpfender Auswertung der sich aus den Akten ergebenden Erkenntnisse und einer persönlichen Untersuchung der Klägerin erstellt. Es ist weder ersichtlich noch vom beklagten Land geltend gemacht, dass der Sachverständige wesentliche Aspekte nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt hat. Seine Ausführungen und Wertungen auf der Grundlage der von ihm zutreffend festgestellten Tatsachengrundlage sind in sich schlüssig und für den Einzelrichter uneingeschränkt nachvollziehbar. Auch das beklagte Land hat keine eine weitere Sachverhaltsaufklärung erfordernden Bedenken gegen das Sachverständigengutachten vorgetragen.
61Das amtsärztliche Gutachten vom 3. April 2017 rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Amtsärztin Dr. T geht – insoweit in Übereinstimmung mit der hier vertretenen Rechtsauffassung – von einem Dienstunfall aus („Daher begründet der vorliegende Dienstunfall ...“), verneint aber dienstunfallrechtlich relevante Gesundheitsbeeinträchtigungen infolge des Dienstunfalls. Das amtsärztliche Gutachten überzeugt insgesamt schon deshalb nicht, weil es nicht auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage erstellt worden ist und die Amtsärztin zum Zeitpunkt der Erstellung auch nicht alle relevanten Umstände berücksichtigen konnte. Denn in dem amtsärztlichen Gutachten heißt es, eine Psychotherapie zur Verarbeitung des Ereignisses sei nicht und werde auch nicht wahrgenommen. Ausweislich der Bescheinigungen von Dr. F befand sich die Klägerin aber seit dem 16. Mai und damit nach Erstellung des amtsärztlichen Gutachtens in psychotherapeutischer Behandlung. Nachdem die Klägerin dies der U mit Schreiben vom 18. Mai 2017 angezeigt hatte, ist die von der U erbetene – und notwendige - ergänzende Stellungnahme nicht erfolgt, weil die Amtsärztin Dr. S – im Kern zutreffend – der U mit E-Mail vom 18. Juli 2017 mitgeteilt hatte, es sei Sache der U, zunächst über das Vorliegen eines Dienstunfalls zu entscheiden, erst in einem zweiten Schritt seien etwaige Unfallfolgen zu klären. Dem ist die U nicht gefolgt. Sie hat vielmehr abweichend von der Einschätzung der Amtsärztin Dr. T mit Bescheid vom 28. Februar 2018 das Vorliegen eines Dienstunfalls und in diesem Zusammenhang auch kausale Unfallfolgen verneint.
62Das amtsärztliche Gutachten vom 3. April 2017 überzeugt auch nicht, soweit es abweichend von der Einschätzung des Sachverständigen Prof. N den von der Klägerin geltend gemachten Bluthochdruck und die von ihr angeführten Rückenschmerzen als schicksalhaft einstuft, weil die Klägerin bereits vor dem 2. Februar 2017 wegen Bluthochdrucks und Rückenbeschwerden behandelt worden sei. Vorerkrankungen schließen nicht generell einen Ursachenzusammenhang mit dem Dienstunfall aus. Entscheidend ist, ob das Unfallereignis vorhandene Erkrankungen weiter verschlechtert und damit überragend die Gesundheitsbeeinträchtigungen herbeigeführt hat.
63Vgl. nur VG München, Urteil vom 11. Juni 2015 – M 12 K 15.995 -, juris, Rdn. 41 f.; Katzmeier, a. a. O., Rdn. 41; Brockhaus, a. a. O., Rdn. 45 f., jeweils m. w. N.
64Das ist hier nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Prof. N der Fall. Danach hat der Vorfall am 2. Februar 2017 zum Wiederauftreten von Rückenschmerzen geführt und einen erhöhten Bluthochdruck verursacht. Die Blutdruckeinstellung sei nach den Angaben der Klägerin schwieriger geworden. Sie habe zwei statt eine Telmisartan nehmen müssen. Ohne den Vorfall wären die Rückenschmerzen und der Bluthochdruck zum damaligen Zeitpunkt nicht aufgetreten. Dementsprechend ist der Vorfall am 2. Februar 2017 nach der überzeugenden Einschätzung des Sachverständigen auch in Bezug auf die Rückenschmerzen und den erhöhten Bluthochdruck überragende Ursache. Amtsärztin Dr. T ist diesen Aspekten nicht näher nachgegangen. Sie hat schicksalhafte Vorerkrankungen angenommen, ohne der Frage nachzugehen, inwieweit eine relevante Verschlechterung infolge des Vorfalls am 2. Februar 2017 eingetreten ist.
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Referenzen
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- 5 LB 124/16 1x (nicht zugeordnet)
- 1 A 2356/15 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 42 1x
- 13 K 3910/15 1x (nicht zugeordnet)
- § 41 LBeamtVG 1x (nicht zugeordnet)
- StGB § 19 Schuldunfähigkeit des Kindes 1x
- § 39 LBeamtVG 1x (nicht zugeordnet)
- 1 A 1713/17 1x (nicht zugeordnet)
- § 36 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG 8x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- § 54 LBeamtVG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 88 1x
- 1 A 1988/11 2x (nicht zugeordnet)
- § 54 Abs. 3 Satz 2 LBeamtVG 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 39, 41 LBeamtVG 2x (nicht zugeordnet)
- StGB § 241 Bedrohung 2x