Beschluss vom Verwaltungsgericht Münster - 8 L 726/20
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 1969/20, die gegen den Bescheid der Bezirksregierung Arnsberg vom 29. Juli 2020 gerichtet ist, wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500 € festgesetzt.
1
G r ü n d e
2Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Wohnsitzzuweisung ist auf den Eilantrag der Antragstellerin hin anzuordnen (§ 80 Abs. 5 VwGO).
3Der Antrag ist nicht unzulässig. Entgegen der Einwendung der Bezirksregierung ist ein Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Die Antragstellerin muss sich nicht auf ein Abänderungsverfahren (§ 12a Abs. 5 AufenthG) verweisen lassen. Der hier zu bewertende Einzelfall ist nicht mit dem (Sonder-)Fall zu vergleichen, der dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 21. März 2019 - 3 L 1200/18 - zu Grunde lag.
4In der Sache fällt die notwendige Abwägung der öffentlichen Interessen mit den privaten Interessen der Antragstellerin zu Gunsten der Antragstellerin aus.
5Die angefochtene Wohnsitzzuweisung ist nicht offensichtlich rechtmäßig. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts NRW ist ‑ zumindest - offen, ob die Voraussetzungen des § 12a Abs. 3 AufenthG gegeben sind.
6Nach § 12a Abs. 3 AufenthG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Ausländerin nur dann nach dieser Vorschrift zur Wohnsitznahme an einem bestimmten Ort verpflichten, wenn dadurch ‑ kumulativ –
71. ihre Versorgung mit angemessenem Wohnraum,2. ihr Erwerb hinreichender mündlicher Deutschkenntnisse im Sinn des Niveaus A2 des Gemeinsamen Referenzrahmens für Sprachenund3. unter Berücksichtigung der örtlichen Lage am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit
8erleichtert werden kann. Erleichtert die Wohnsitznahme an einem bestimmten Ort auch nur das Erreichen eines der drei Integrationsziele nicht, kann die Wohnsitzzuweisung nicht auf § 12a Abs. 3 AufenthG gestützt werden. Wegen der Tatbestandsmerkmale bedarf es einer Prognoseentscheidung. Diese Prognose hat sich u.a. auf eine vergleichende Betrachtung der integrationsrelevanten Infrastruktur am beabsichtigten Zuweisungsort und an anderen möglichen Aufenthaltsorten im jeweiligen Bundesland zu beziehen. Nur so kann abgeschätzt werden, ob die Zuweisung die Erreichung der Integrationsziele erleichtern kann (so OVG NRW, Urteil vom 4. September 2018 - 18 A 256/18 -, juris Rn. 45 ff.; vgl. auch VG Münster, Urteil vom 11. Oktober 2018 - 8 K 5809/17 -, juris Rn. 20). Die nach dem Tatbestand des § 12a Abs. 3 AufenthG erforderliche Prognose zu allen drei Integrationszielen ist auf der Basis nachprüfbarer Prognosetatsachen auf den Einzelfall bezogen zu stellen. Die Wohnsitzbeschränkung darf wegen des durch Art. 33 EU-Qualifikationsrichtlinie begründeten Freizügigkeitsrechts nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgehen. Gleiches gilt für den mit der Wohnsitzzuweisung auch verbundenen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 26 Genfer Konvention und des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK (OVG NRW, a. a. O., Rn. 23; VG Münster, a. a. O., Rn. 21).
9Die in der Antragserwiderung von der Bezirksregierung zitierten Ausführungen zur Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts NRW stehen nicht entgegen. Die Bezirksregierung beruft sich auf die obergerichtlichen Ausführungen zu § 12a Abs. 1 AufenthG. § 12a Abs. 1 AufenthG ist hier aber nicht betroffen, weil die Antragstellerin ihren Wohnsitz nicht in einem anderen Bundesland als Nordrhein - Westfalen nehmen will.
10Es ist zumindest zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 12a Abs. 3 AufenthG vorliegen.
11Die Bezirksregierung knüpft für die Feststellung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 12a Abs. 3 AufenthG an den „Integrationsschlüssel“ an, der nach dem landesrechtlichen § 4 Ausländer-Wohnsitzregelungsverordnung - AWoV – vom 15. November 2016 (GV. NRW. Seite 971 / SGV. NRW. Gl. - Nr. 26) gebildet wird. Der Verteilungsschlüssel bilde nach ihrer Auffassung die Integrationsmerkmale des § 12a Abs. 3 AufenthG ab. Er wird zum 1. Januar jeden Jahres im Wesentlichen (§ 4 Abs. 2 AWoV) aus
121. dem Einwohneranteil der Gemeinden an der Gesamtbevölkerung des Landes mit einem Anteil von 80 Prozent,
132. dem Flächenanteil der Gemeinden an der Gesamtfläche des Landes mit einem Anteil von 10 Prozent und
143. dem Anteil der als arbeitslos gemeldeten erwerbsfähigen Personen an der Bevölkerung der Gemeinden mit einem Anteil von 10 Prozent.
15gebildet. Der danach berechnete Schlüssel verringert sich um je 10 Prozent bei Gemeinden, die von § 1 der landesrechtlichen Mietpreisbegrenzungsverordnung nach § 556d Abs. 2 BGB erfasst werden (§ 4 Abs. 3 AWoV) und/oder die einen mindestens 50 Prozent über dem Landesdurchschnitt liegenden Anteil von Personen aus den EU-Mitgliedstaaten Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Tschechische Republik, Slowakei, Slowenien oder Ungarn aufweisen, die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch erhalten (§ 4 Abs. 4 AWoV).
16Bei ihrer vergleichenden Prognose hat die zuständige Behörde aber nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 12a Abs. 3 Nr. 3 AufenthG - neben anderem - die örtliche Lage am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Mit örtlichem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt dürfte dabei nicht zwingend nur der der jeweiligen Wohnortgemeinde gemeint sein. Vielmehr kann auf den Einzugsbereich abgestellt werden, der vom Betroffenen mit vertretbarem Aufwand in zeitlicher und finanzieller Hinsicht erreicht werden kann (OVG NRW, a. a. O., Rn. 51). Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist ‑ zumindest ‑ offen, ob eine mittelbare Berücksichtigung der örtlichen Lage am Arbeitsmarkt über den „Integrationsschlüssel“ der bundesrechtlichen Vorgabe in § 12a Abs. 3 Nr. 3 AufenthG genügt (OVG NRW, a. a. O., Rn. 53 a. E.).
17Ob daneben weitere Gründe bestehen, die einer Abbildung der Integrationsmerkmale des § 12a Abs. 3 AufenthG durch den landesrechtlichen Integrationsschlüssel entgegen stehen, bedarf für die hier allein zu treffende Entscheidung keiner weiteren Erörterung.
18Sonstige einzelfallbezogene Umstände zu den Integrationskriterien des § 12a Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 AufenthG führt die Bezirksregierung im angefochtenen Bescheid und in der Antragserwiderung nicht an.
19Ist die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Bezirksregierung auch nur offen, überwiegen die Interessen der Antragstellerin jedenfalls infolge ihrer individuellen Situation. Art. 26 der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 33 EU-Qualifikationsrichtlinie begründen für die Antragstellerin ein Recht auf Freizügigkeit im Bundesgebiet einschließlich des Rechts, „ihren Aufenthalt zu wählen“. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer angemessenen Verteilung der mit der Gewährung von Sozialleistungen verbundenen Lasten auf deren jeweiligen Träger kann in diesen Zusammenhang aus unionsrechtlichen Gründen nicht bestehen (vgl. dazu EUGH, Urteil vom 1. März 2016 ‑ C 443/14 und C 444/14 ‑, juris Rn. 56).
20Fällt die Interessenabwägung aus den angeführten Gründen zu Gunsten der Antragstellerin aus, bedarf es keiner weiteren Erörterung, ob die zu Lasten der Antragstellerin erfolgte pauschale Ermessensausübung rechtmäßig ist. Lediglich angemerkt sei, dass § 12a Abs. 3 AufenthG auf der Rechtsfolgenseite keine sog. "Soll-Entscheidung" für eine Wohnsitzzuweisung begründet, von der nur bei atypischen Situationen abgewichen werden könnte (OVG NRW, a. a. O., Rn. 23; VG Münster, a. a. O., Rn. 21).
21Gleichfalls bedarf keiner weiteren Erörterung, ob und wie es sich auswirken könnte, dass die Bezirksregierung - wohl entsprechend einer allgemeinen Übung - versuchte, den der Antragstellerin zuvor übergebenen Anhörungsbogen von ihr zurückzufordern, dies aber infolge entschuldigter Abwesenheit der Antragstellerin ohne Erfolg blieb und die Bezirksregierung bereits vor der Rückkehr der Antragstellerin aus stationärer Behandlung den angefochtenen Bescheid verfasste (vgl. § 28 VwVfG NRW).
22Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.
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Referenzen
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- 8 K 1969/20 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- § 12a Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 12a Abs. 3 Nr. 3 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 28 Anhörung Beteiligter 1x
- § 12a Abs. 3 AufenthG 9x (nicht zugeordnet)
- 14 und C 444/14 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 80 1x
- § 4 Abs. 2 AWoV 1x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 4 AWoV 1x (nicht zugeordnet)
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- 18 A 256/18 1x (nicht zugeordnet)
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