Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (2. Kammer) - 2 B 53/17

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsteller auferlegt.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Streitwert beträgt 10.000,- €.

Gründe

1

Das vorläufige Rechtsschutzgesuch des Antragstellers bleibt ohne Erfolg.

2

Der Antrag vom 06.10.2017 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 05.03.2017 gegen die der Beigeladenen am 18.10.2016 von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses auf dem Grundstück M…straße 38 und 40 in A-Stadt legt die Kammer zu Gunsten des Antragstellers ergänzend dahin aus, dass er sich auch gegen die Nachtragsgenehmigungen vom 28.04.2017 und 02.08.2017 wendet. Mangels von der Antragsgegnerin gewährter Akteneinsicht war es dem Antragsteller nicht möglich, seinen Antrag entsprechend zu spezifizieren.

3

Hinsichtlich der vom Antragsteller gerügten Verbauung der Fläche für die beabsichtigte Feuerwehrzufahrt ist der Antrag bereits unzulässig. Dem gem. §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO statthaften Anordnungsantrag fehlt es insoweit an dem erforderlichen allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis.

4

Dieses fehlt für einen Nachbarantrag auf vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich dann, wenn der Nachbar die Beeinträchtigung durch das streitbefangene Nachbargebäude als solches abwehren will, jenes Gebäude indessen bereits im Rohbau fertiggestellt ist. Denn eine erst nach Fertigstellung des Rohbaus ergehende Anordnung der aufschiebenden Wirkung und eine ihr nachfolgende Baueinstellung durch die Behörde würden in einer solchen Konstellation die Rechtsstellung des Nachbarn regelmäßig nicht mehr verbessern, weil hinsichtlich der geltend gemachten Rechtsverletzung bereits vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Das mit dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs verbundene Ziel, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern, ist in einem solchen Fall nicht mehr zu erreichen (vgl. VGH München, Beschl. v. 08.04.2014, - 9 CS 13.2007 -, OVG Magdeburg, Beschl. v. 04.06.2013, - 2 M 34/13 -,VGH Mannheim, Beschl. v. 12.01.2005, - 8 S 2720/04 -; Beschl. der Kammer v. 12.12.2013, - 2 B 42/13 -; v. 01.10.2015 – 2 B 45/15).

5

So liegt der Fall hier. Wie durch die von der Antraggegnerin eingereichten Fotos vom 09.10.2017 dokumentiert, ist das Vorhaben in seinen Außenmaßen im Rohbau fertiggestellt, sodass der Antragsteller sein mit dem am 06.10.2017 gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden seines Widerspruchs gegen die Baugenehmigung verfolgtes Ziel, die Errichtung des Baukörpers und die davon ausgehende Verbauung der für die Feuerwehrzufahrt erforderlichen Zuwegung vor Abschluss des Widerspruchs- und eines ggf. nachfolgenden Klageverfahrens zu verhindern, entgegen seinem eigenen Vortrag auf S. 6 der Antragsschrift nicht mehr erreichen kann.

6

Aber auch im Übrigen – was die vermutete Überschreitung der im Bebauungsplan festgesetzten Geschosszahl und Geschossflächenzahl sowie die Verletzung des Rücksichtnahmegebots angeht – hat der Antrag des Antragstellers keinen Erfolg.

7

Der Antrag beurteilt sich nach §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alternative VwGO; insoweit ist der Antrag statthaft und auch sonst zulässig. Denn nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alternative VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs in den Fällen anordnen, in denen die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO entfällt. Das ist hier der Fall, da der Klage des Antragstellers gegen die Baugenehmigung vom 18.10.2016 in Gestalt der Nachtragsgenehmigungen vom 28.04.2017 und 02.08.2017 nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212 a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung zukommt.

8

Der Antrag ist jedoch unbegründet. Die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ergeht auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Interesse der beigeladenen Bauherrin an der sofortigen Ausnutzung der ihr erteilten Baugenehmigung einerseits und das Interesse des antragstellenden Nachbarn, von der Vollziehung der Baugenehmigung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben, andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte. Darüber hinaus ist in die Abwägung einzustellen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens gemäß § 212 a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung haben sollen und der Gesetzgeber damit dem Bauverwirklichungsinteresse grundsätzlich den Vorrang eingeräumt hat. Insofern kann das Gericht die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nur anordnen, wenn auf Seiten des Antragstellers geltend gemacht werden kann, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit seine Rechtsposition durch den Bau und die Nutzung des genehmigten Vorhabens unerträglich oder in einem nicht wieder gutzumachenden Maße beeinträchtigt bzw. gefährdet wird (so auch Schl.-Holst. OVG, Beschluss vom 17.01.2012 - 1 MB 33/11 -). Dabei macht der Verweis auf die Rechtsposition des antragstellenden Nachbarn allerdings deutlich, dass bei baurechtlichen Nachbarrechtsbehelfen nicht allein die objektive Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigung in den Blick zu nehmen ist, sondern dass Rechtsbehelfe dieser Art nur erfolgreich sein können, wenn darüber hinaus gerade der widersprechende bzw. klagende Nachbar in subjektiv-öffentlichen Nachbarrechten verletzt ist. Ob die angefochtene Baugenehmigung insgesamt objektiv rechtmäßig ist, ist nicht maßgeblich. Vielmehr ist die Baugenehmigung allein daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen Vorschriften verstößt, die dem Schutz des um Rechtsschutz nachsuchenden Nachbarn dienen. Der Nachbar kann sich nur auf solche Interessen berufen, die das Gesetz im Verhältnis der Grundstücksnachbarn untereinander als schutzwürdig ansieht. Dabei ist für die Beurteilung der Verletzung von öffentlich-rechtlich geschützten Nachbarrechten durch eine Baugenehmigung allein der Regelungsinhalt der Genehmigungsentscheidung maßgeblich. Eine hiervon abweichende Ausführung kann die Aufhebung der Baugenehmigung demgegenüber nicht rechtfertigen.

9

Nach diesem Maßstab überwiegt vorliegend das Interesse der Beigeladenen, die ihr erteilte Baugenehmigung ungeachtet des dagegen gerichteten Widerspruchs des Antragstellers ausnutzen zu können. Denn bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage lässt sich nicht mit hinreichender, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die angefochtene Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 18.10.2016 in Gestalt der Nachtragsgenehmigungen vom 28.04.2017 und 02.08.2017 Nachbarrechte des Antragstellers verletzt.

10

Der Antragsteller rügt in erster Linie einen Verstoß des der Beigeladenen genehmigten Wohnbauvorhabens gegen die für die Vorhabenfläche im Bebauungsplan Nr. 22 - neu - der Antragsgegnerin mit „III“ als zulässiges Höchstmaß festgesetzte Zahl der Vollgeschosse, gegen die mit 0,4 bestimmte Grundflächenzahl sowie gegen die mit 0,9 festgesetzte Geschossflächenzahl. Insoweit rügt er ausschließlich Festsetzungen, die das Maß der baulichen Nutzung auf der Vorhabenfläche betreffen und denen nicht schon kraft Gesetzes nachbarschützende Wirkung zukommt.

11

Eine andere Beurteilung rechtfertigt sich insoweit auch nicht aus den im vorliegenden Verfahren beigezogenen Planunterlagen. Weder dem Bebauungsplan selbst, noch seiner Begründung lässt sich auch nur im Ansatz entnehmen, dass jene Festsetzungen nach dem Willen der Antragsgegnerin nicht nur der Gestaltung des Ortsbildes, sondern ausnahmsweise auch dem Schutz eines bestimmbaren und von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises dienen, mithin drittschützend sein sollen.

12

Selbst wenn das genehmigte Vorhaben in Bezug auf die Zahl der Vollgeschosse, der Grund- und/oder der Geschossflächenzahl den Festsetzungen des Bebauungsplanes für die Vorhabenfläche widerspräche und seine Zulassung damit einer Befreiungsentscheidung nach § 31 Abs. 2 BauGB von jenen Festsetzungen bedurft hätte, bedeutete dies keine Rechtsverletzung des Antragstellers. Der aus § 31 Abs. 2 BauGB abzuleitende Nachbarschutz kann zunächst nämlich nur so weit reichen, als eine Befreiung von nachbarschützenden Bebauungsplanfestsetzungen erteilt worden ist bzw. in Rede steht. Aber auch unter dem Gesichtspunkt des im Übrigen (auch) in § 31 Abs. 2 BauGB verankerten und insoweit Nachbarschutz vermittelnden Gebots der Rücksichtnahme folgt vorliegend nichts anderes. Wenngleich - wie dargelegt - im Falle einer Befreiung bzw. einer in Betracht zu ziehenden Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung eine Verletzung generell nachbarschützender Rechtspositionen ausscheidet, kann ein Nachbar bei einer rechtswidrigen Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung im Einzelfall gleichwohl in seinen Rechten verletzt sein, nämlich dann, wenn die Baugenehmigungsbehörde bei ihrer Ermessensentscheidung nicht die gebotene Rücksicht auf seine nachbarlichen Interessen genommen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.07.1998 - 4 B 64/98 -, zit. nach juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann aber der Nachbar eine unter Verstoß gegen eine nicht nachbarschützende Festsetzung eines Bebauungsplanes erteilte Baugenehmigung selbst, wenn die Baugenehmigungsbehörde eine an sich erforderliche Befreiung überhaupt nicht erteilt hat, wenn also die für eine Befreiung notwendige Ermessensentscheidung überhaupt nicht getroffen worden ist, nur wegen einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots erfolgreich anfechten, (BVerwG, Urteil vom 06.10. 1989 - 4 C 14.87 -, BVerwGE 82, 343; BVerwG, Beschluss vom 08.07.1998 - 4 B 64/98 -, a.a.O.).

13

Für die Annahme eines Verstoßes des der Beigeladenen unter dem 18.10.2016 in Gestalt der Nachtragsgenehmigungen vom 28.04.2017 und 02.08.2017 genehmigten Vorhabens gegen das Gebot der Rücksichtnahme zu Lasten des Antragstellers ist hier indessen nichts ersichtlich. Nach den Planunterlagen ist das bauordnungsrechtliche Abstandsflächenrecht, bei dessen Beachtung ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot jedenfalls im Hinblick auf die durch die Abstandsflächenregelung geschützten Nachbarbelange (Belichtung, Belüftung und Besonnung) grundsätzlich ausgeschlossen ist, beachtet worden. Danach wahrt das Hauptgebäude mit einer maximalen Wandhöhe in der Mitte der Westseite von 11 m mit vorgesetzten Balkonen einen Abstand von ca. 11,00 bis 13,70 m zur Grundstücksgrenze des Antragstellers und überschreitet damit den aus § 6 Abs. 5 Satz 1 LBO 2009 folgenden Mindestabstand von 4,50 m mehr als deutlich.

14

Das Wohnbauvorhaben der Beigeladenen erweist sich entgegen der Annahme des Antragstellers aber auch hinsichtlich seiner Ausmaße nicht als rücksichtslos. Es ist zwar in der Rechtsprechung anerkannt, dass nachbarliche Belange in unzumutbarer Weise beeinträchtigt sein können, wenn ein Nachbaranwesen durch die Ausmaße eines Bauvorhabens geradezu „erdrückt“, „eingemauert“ oder „abgeriegelt“ würde (vgl. BVerwG, Urteile vom 13.03.1981 - 4 C 1.78 -, zit. nach juris, und vom 23.05. 1986 - 4 C 34.85 -, BRS 46 Nr. 176). Dies wird insbesondere dann angenommen, wenn die baulichen Dimensionen des „erdrückenden Gebäudes“ aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles derart übermächtig sind, dass das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch überwiegend wie eine von dem herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird, oder das Bauvorhaben das Nachbargrundstück regelrecht abriegelt, d.h. dort das Gefühl des Eingemauertseins oder der Gefängnishofsituation hervorruft (vgl. OVG Münster, Urteil vom 09.08.2006 - 8 A 32726/05 -, zit. nach juris). Diese Voraussetzungen erfüllt das Mehrfamilienhausvorhaben mit insgesamt 51 Wohneinheiten augenscheinlich nicht. Seine Wandhöhe beträgt mittig maximal 11 m, während die Firsthöhe bei 13,13 m liegt. Wenngleich das Gebäude damit das Wohnhaus des Antragstellers deutlich überragt, gilt es zu berücksichtigen, dass einerseits die Abstandsflächen durch das Vorhaben mit Abständen von ca. 11,00 bis 13,70 m zur Grundstücksgrenze des Antragstellers deutlich eingehalten sind und das Wohnhaus des Antragstellers zur gemeinsamen Grundstücksgrenze seinerseits einen Abstand von mindestens 15 m aufweist, beide Wohngebäude zueinander mithin Abstände von mehr als 30 m einhalten.

15

Der Antrag war daher insgesamt mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzulehnen.

16

Das Gericht hat die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen nach § 162 Abs. 3 VwGO aus Billigkeit für erstattungsfähig erklärt, weil sie einen eigenen Antrag gestellt hat und damit auch das Risiko eigener Kostenpflicht nach § 154 Abs. 3 VwGO eingegangen ist.

17

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 63 Abs. 2 GKG. Dabei hat die Kammer das wirtschaftliche Interesse des Antragstellers mit 20.000,00 € für das Hauptsacheverfahren in Ansatz gebracht. Für das vorliegende Eilrechtsschutzverfahren ergab sich wegen der Vorläufigkeit der Entscheidung eine Halbierung dieses Wertes.


Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen