Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (6. Kammer) - 6 B 52/20

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 5.11.2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5.11.2020 wird wiederhergestellt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.

Gründe

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Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den angefochtenen Bescheid ist nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig und begründet.

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Die Entscheidung über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ergeht aufgrund einer Interessenabwägung. In diese Abwägung ist die Erfolgsaussicht des eingelegten Rechtsbehelfs dann maßgeblich anzustellen, wenn sie in der einen oder anderen Richtung offensichtlich ist. An der Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides besteht kein öffentliches Interesse. Ist der Bescheid hingegen offensichtlich rechtmäßig, ist ein Aussetzungsantrag regelmäßig abzulehnen. Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung weder die Rechtmäßigkeit noch die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der gegenüber zu stellen sind zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, die Klage im Hauptsacheverfahren aber erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall, dass es zunächst bei der vorläufigen Vollziehung des Verwaltungsaktes bleibt, sein Rechtsschutzbegehren im Hauptsacheverfahren dann jedoch Erfolg hat. Bei der Interessenabwägung ist jeweils die Richtigkeit des Vorbringens desjenigen als wahr zu unterstellen, dessen Position gerade betrachtet wird, soweit das jeweilige Vorbringen ausreichend substantiiert und die Unrichtigkeit nicht ohne weiteres erkennbar ist (OVG Schleswig, Beschluss vom 13.9.1991 - 4 M 125/91 -, Juris Rn. 14; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 11.9.2017 - 1 B 128/17 -, Juris Rn. 28 f.).

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Vorliegend ist entscheidend, dass der streitige Bescheid als offensichtlich rechtswidrig anzusehen ist. Der Erlass des streitgegenständlichen Widerrufsbescheides war jedenfalls ermessensfehlerhaft.

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Zwar kann nach § 117 Abs. 2 Nr. 1 LVwG ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch wenn er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, wenn der Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassen ist. Ob insbesondere diese letzte Voraussetzung, wie vom Antragsgegner vorgetragen, durch die Regelung des § 2 Abs. 4 Satz 4 der Benutzungs- und Gebührenordnung des Kreises B hinreichend erfüllt ist, kann vorliegend dahinstehen bleiben, da der erfolgte Widerruf – welcher im pflichtgemäßen Ermessen des Antragsgegners steht – ermessensfehlerhaft war.

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Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist die Überprüfung einer Ermessensentscheidung durch § 114 Satz 1 VwGO auf die Feststellung etwaiger Ermessensfehler beschränkt. Zu überprüfen ist lediglich, ob sich die Behörde in den gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens gehalten und von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Das Gericht kann kein eigenes Ermessen ausüben oder sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Behörde setzen. Das Gericht hat, abgesehen von den allgemeinen Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts mithin nur zu prüfen, ob die in § 114 Satz 1 VwGO genannten vorliegen, nicht aber, ob der Verwaltungsakt zweckmäßig ist oder nicht; die Gerichte sind mithin nicht ermächtigt, ihre Zweckmäßigkeitserwägungen an die Stelle derjenigen der Behörde zu setzen (vgl. Decker, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.7.2020, § 114 Rn. 26 m.w.N.).

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Die Erforderlichkeit des Widerrufs ist durch den Antragsgegner im Rahmen der summarischen Prüfung nicht zur Überzeugung des Gerichts gebracht.

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Insbesondere soweit der Antragsgegner darauf abstellt, dass sein Hygienekonzept nicht eingehalten werden könne, weil der Abstand von 1,5 m zwischen den Personen nicht jederzeit eingehalten werden könne sowie eine Gruppenaktivität im Sinne von § 5 Abs. 3 der Ersatzverkündung der Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-SoV-2 (Corona-Landesverordnung) gegeben sei, ist für die Kammer nicht erkennbar, dass diese Ausführungen den Widerruf erforderlich werden lassen. Nach der Corona-Landesverordnung sind Veranstaltungen in geschlossenen Räumen mit bis zu 100 Teilnehmern zulässig, sofern die Voraussetzungen von § 5 Abs. 2 - 5 Corona-Landesverordnung erfüllt werden und sie nicht der Unterhaltung dienen. Dass bei der geplanten Veranstaltung des Antragstellers nicht mehr als 100 Teilnehmer erwartet werden, trägt diese unwidersprochen vor. Anhaltspunkte, warum von mehr Teilnehmern auszugehen sein sollte, sind nicht gegeben; zumal nach der widerrufenen Genehmigung ohnehin nur 45 Teilnehmer erlaubt waren. Anders als der Antragsgegner meint, ist auch nicht erkennbar, dass eine Veranstaltung mit Gruppenaktivität im Sinne des § 5 Abs. 3 Corona-Landesverordnung gegeben wäre, bei der nur maximal 10 Teilnehmer erlaubt wären. Eine solche zeichnet sich nach der Begründung der Landesverordnung dadurch aus, dass diese in der Regel nicht sitzend wahrgenommen werden sowie sich dort ein fester Teilnehmerkreis über längere Zeit an einem oder gemeinsam an einem sich ändernden Ort aufhält und die Abstandsregelungen nur teilweise eingehalten werden. Ausdrücklich abgegrenzt werden von solchen Veranstaltungen Sitzungen mit Sitzungscharakter (Absatz 5). Diese sind nach der Begründung der Corona-Landesverordnung Veranstaltungen, bei denen sich ein fester Teilnehmerkreis über einen längeren Zeitraum auf festen Sitzplätzen befindet. Vorliegend ist im Rahmen der summarischen Prüfung nach den vorstehenden Darlegungen eine Veranstaltung mit Sitzungscharakter anzunehmen. Nach dem insoweit übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten will der Antragsteller in den hier fraglichen Räumen eine Kreismitgliedsversammlung durchführen, bei der u.a. ein Kreisvorstand gewählt werden soll. Konkrete Anhaltspunkte, warum bei einer solchen Mitgliederversammlung davon auszugehen wäre, dass ständig Personen die Plätze verlassen sollten, um etwa gemeinsame Aktivitäten abseits der zugewiesenen Plätze durchzuführen, sind weder ersichtlich, noch hinreichend substantiiert vorgetragen. Allein der Umstand, dass einzelne Teilnehmer etwa zum Halten von Reden, den Besuch von Toiletten oder der Durchführung eines Wahlvorgangs ihre Plätze verlassen, lässt den Sitzungscharakter nicht entfallen. Vielmehr sind all diese Vorgänge insbesondere politischen Sitzungen immanent. Selbst der von dem Antragsgegner nicht näher substantiierten Vortrag, dass einzelne Mitglieder zur Überwachung des Wahlvorgangs ihre Plätze verlassen könnten, lässt an der vorstehenden Feststellung keine Zweifel aufkommen. Eine Gruppenaktivität mit den damit verbundenen Gefahren der Virusübertragung ist darin nicht zu sehen. Der Antragsteller trägt zwar im Weiteren selbst vor, dass insbesondere im Rahmen des geplanten Wahlvorgangs einzelne Teilnehmer ihre Sitze verlassen werden und dabei auch im Einzelfall der Abstand von 1,5 m unterschritten werden wird. Sie trägt allerdings auch – und insoweit unwidersprochen vor –, dass nur an den Sitzplätzen eine Mund-Nasen-Bedeckung nicht getragen werden müsse und eine solche bei jedem Aufstehen anzulegen sei. Dass es sich dabei um mehr als einzelne, zeitlich geringfügige Unterschreitungen des Mindestabstandes handelt, ist weder substantiiert vorgetragen, noch ersichtlich. Zudem hätte dabei nach dem unwidersprochenen Vortrag des Antragstellers jedenfalls einer der Personen eine Mund-Nasen-Bedeckung auf. Warum solche Vorgänge konkret dem Hygienekonzept des Antragsgegners widersprechen sollten, ist weder substantiiert vorgetragen noch erkennbar. Insbesondere wurde im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens das entsprechende Konzepte nicht vorgelegt und konnte aufgrund der Eilbedürftigkeit der Entscheidung durch das Gericht auch nicht mehr angefordert werden. Zumal insofern – ohne, dass es darauf noch ankäme – auch zu beachten sein dürfte, dass, sofern die Unterschreitung der Abstände Folge der Sitzordnung ist, diese vom Antragsgegner vorgegeben ist.

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Auch aus dem Umstand, dass gegenwärtig ein „Lockdown-Light“ angeordnet ist, folgt nichts Anderes. Da – wie gesagt – auch in diesem bestimmte Versammlungen zulässig sind, und im Rahmen der hiesigen summarischen Prüfung nicht erkennbar ist, dass die Voraussetzungen für eine Unzulässigkeit der Versammlung nach der Corona-Landesverordnung gegeben wären.

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Soweit der Antragsgegner vorträgt, dass in Folge des Einsatzes von Personal auch am Wochenende zur Nachverfolgung von Kontaktpersonen von Corona-Infizierten die Sanitäranlagen im Kreistagsgebäude für Dritte nicht zur Verfügung stehen würden, ist dieser Vortrag bereits völlig unsubstantiiert. Es ist bereits nicht erkennbar, warum wie viele Mitarbeiter wie viele Toiletten benötigen, wie viele Toiletten vorhanden sind und warum eine Aufteilung nicht möglich ist.

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Dasselbe gilt im Hinblick auf den Vortrag, dass die hier fraglichen Räumlichkeiten gegebenenfalls am kommenden Wochenende für einen Zusammentritt des Krisenstabs des Antragsgegners benötigt werden würden und dies zum Zeitpunkt der Nutzungsgenehmigung nicht absehbar gewesen sei. Es wird schon nicht hinreichend erkennbar, dass tatsächlich ein Zusammentritt des Krisenstabs ausgerechnet am kommenden Sonntag notwendig werden wird. Letztlich beschränkt sich der Antragsgegner insofern auf nicht hinreichend begründete Vermutungen ohne darzulegen, warum ein solcher Eintritt hinreichend wahrscheinlich sein sollte.

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Auch aus der Anordnung des Landrates vom heutigen Tage folgt nichts Anderes. Dieses mag ein innerhalb der Behörde grundsätzlich zu beachtendes Internum darstellen, ändert aber nichts an der durch das Gericht zu überprüfenden Ermessensfehlerhaftigkeit des Widerrufs der ursprünglich erteilten Genehmigung.

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Im Falle des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist zudem das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Aus dem Zweck der Begründungspflicht, zum einen den Betroffenen in die Lage zu versetzen, durch Kenntnis der Gründe, die die Behörde zur Vollziehungsanordnung veranlasst haben, seine Rechte wirksam wahrzunehmen und die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels abzuschätzen, und zum anderen der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung vor Augen zu führen und sie zu veranlassen, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob tatsächlich ein überwiegendes Vollzugsinteresse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert, ergibt sich, dass die maßgeblichen Gründe konkret darzulegen sind, wobei die Begründung ausnahmsweise auf die Begründung des zu vollziehenden Verwaltungsaktes Bezug nehmen kann, wenn aus dieser bereits die besondere Dringlichkeit auch der Regelung im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO hervorgeht und die von der Behörde getroffene Interessenabwägung klar erkennbar ist (vgl. W.-R. Schenke, in; Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 80 Rn. 84 ff.).

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Für die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO muss ein (zusätzliches) öffentliches Interesse gerade daran bestehen, dass Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben. Erforderlich ist ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts. Dieses besondere Interesse ist nicht gleichzusetzen mit dem Interesse am Erlass des zugrundeliegenden Verwaltungsakts; es geht vielmehr über dieses hinaus. Es bezieht sich gerade auf den Sofortvollzug und muss so gewichtig sein, dass es gerechtfertigt erscheint, aufgrund dieses Interesses den durch die aufschiebende Wirkung ansonsten eintretenden Rechtsschutz des Betroffenen einstweilen zurückzustellen. Die sofortige Vollziehung ist also nur dann gerechtfertigt, wenn ein das Rechtsschutzinteresse des Betroffenen überwiegendes öffentliches Vollzugsinteresse besteht. Bei gleichermaßen gewichtigen Interessen auf beiden Seiten darf die aufschiebende Wirkung nicht ausgeschlossen werden. Die Behörde ermittelt das besondere Vollzugsinteresse durch eine Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalles. In die Abwägung einzustellen sind alle Gesichtspunkte, die für die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts sprechen, sowie alle, die für eine Aufrechterhaltung des in § 80 Abs. 1 VwGO vorgesehenen Rechtsschutzes des Betroffenen sprechen. Dieser Rechtsschutzanspruch des Betroffenen hat hierbei ein umso höheres Gewicht gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse, je schwerwiegender die durch den Verwaltungsakt auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Behörde Unabänderliches bewirken. In einem Fall, in dem die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts für den Betroffenen schwere und nicht rückgängig zu machende Folgen hätte, muss das öffentliche Interesse am Sofortvollzug von besonderem Gewicht sein (Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 80 Rn. 84 f. m.w.N.).

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Diese Anforderungen sind vorliegend nicht erfüllt. Der Antragsgegner begründet den Sofortvollzug letztlich damit, dass die Räumlichkeiten gegebenfalls wegen der Bedrohung durch die bestehende Pandemie für den Krisenstab gebraucht werden würden. Dass dies aber tatsächlich hinreichend wahrscheinlich ist, ist – wie gesagt – bereits nicht hinreichend substantiiert vorgetragen und kann somit auch nicht das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung des Vollzugs des angefochtenen Widerrufsbescheides überwiegen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 63 Abs. 2 GKG. Die Kammer hat den vollen Auffangstreitwert (5.000,- €) eines möglichen Hauptsacheverfahrens angesetzt. Eine Halbierung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kommt nach der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts mangels gesetzlichem Anhalt nicht in Betracht (Beschluss vom 13.1.2020 – 4 O 2/20 –).


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