Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (1. Kammer) - 1 B 67/21

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller.

Der Streitwert wird auf 10.000 EUR festgesetzt.

Gründe

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1. Die Anträge,

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den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern unverzüglich die Corona-Schutzimpfung, einschließlich etwaiger Folge- und Auffrischungsimpfungen, die für ein vollständiges Impfschema im Rahmen der Zulassung vorgesehen sind, bereitzustellen,

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hilfsweise,

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festzustellen, dass die Antragsteller berechtigt sind, entsprechend § 3 CoronaImpfV mit hoher Priorität geimpft zu werden und einen Termin in dieser Gruppe über das Portal www.impfen-sh.de zu vereinbaren und durchzuführen,

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sind zulässig (a), aber nicht begründet (b).

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a) Die Anträge sind zulässig.

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§ 123 Abs. 5 VwGO steht dem nicht entgegen. Vorläufiger Rechtsschutz nach den §§ 80, 80a VwGO in Form der aufschiebenden Wirkung ist vorliegend nicht zu erreichen. Richtige Klageart für die Begehren der Antragsteller im Hauptsacheverfahren sind andere als die Anfechtungsklage.

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aa) Insbesondere ist der Hauptantrag – anders als der Antragsgegner zu 2. meint – statthaft.

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Der Statthaftigkeit steht auch nicht entgegen, dass der Hauptantrag seinem Wortlaut nach möglicherweise auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtet ist. In diesem Fall wäre er dahingehend umzudeuten, dass die Antragsteller die Verurteilung des Antragsgegners zur Impfung der Antragsteller im Wege schlicht-hoheitlichen Handelns begehren. Dieses Begehren wäre in der Hauptsache mit einer Leistungsklage zu verfolgen (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 18. März 2021 – 14 L 122/21 –, juris, Rn. 11).

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Zur Gewährung des verfassungsrechtlich gebotenen effektiven Rechtsschutzes kann – auch bei anwaltlicher Vertretung – die Umdeutung in eine andere als die beantragte Antrags- oder Klageart in Betracht kommen, wenn das Rechtsschutzziel eindeutig erkennbar ist (vgl. nur Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 88 Rn. 20 m. w. N.). Das ist vorliegend der Fall. Die Antragsteller wollen schnellstmöglich geimpft werden. Dabei handelt es sich um einen Realakt.

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bb) Für den so verstandenen Hauptantrag besteht, auch soweit er gegen den Antragsgegner zu 2. gerichtet ist, ein Rechtsschutzbedürfnis. Dem steht (jedenfalls nicht mehr) entgegen, dass die Antragsteller die Gewährung der Impfung beim Antragsgegner zu 2. nicht vor dem Ersuchen um einstweiligen Rechtsschutz beantragt haben.

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Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht nämlich auch dann, wenn ein Antrag an die Behörde offensichtlich aussichtslos ist (vgl. OVG, Beschluss vom 30. Juli 2018 – 4 MB 70/18 –, juris, Rn. 10 m. w. N.; Buchheister, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 123 Rn. 13). Dabei ist auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. März 2016 – 6 C 66.14 –, juris, Rn. 21; Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 34; Funke-Kaiser, in: Bader u. a., VwGO, 7. Aufl. 2018, § 123 Rn. 39).

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Die – zwischenzeitlich durch die Weiterleitung durch den Antragsgegner zu 1. erfolgte – Antragstellung beim Antragsgegner zu 2. ist vorliegend aussichtslos. Der Antragsgegner zu 2. hat in seinem Schriftsatz vom 6. Mai 2021 erklärt, dass die Antragsteller nach seiner Auffassung keinen Anspruch auf eine Schutzimpfung mit hoher Priorität haben.

14

Bei der Antragstellung vor dem Ersuchen um Rechtsschutz handelt es sich bei der Leistungsklage auch nicht um eine nicht nachholbare Prozessvoraussetzung. Das gilt nur für Verpflichtungskonstellationen (vgl. Funke-Kaiser, in: Quaas/Zuck/Funke-Kaiser, Prozesse in Verwaltungssachen, 3. Aufl. 2018, § 4 Rn. 417) und auch dort nur grundsätzlich.

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b) Die Anträge sind jedoch nicht begründet.

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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung notwendig erscheint, um insbesondere wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen dafür sind glaubhaft zu machen (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO). Die Antragsteller haben vorliegend jedenfalls die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht.

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Die Antragsteller haben weder einen Anspruch auf den sofortigen Erhalt einer Impfung gegen SARS-CoV-2, noch auf die Feststellung, dass sie entsprechend § 3 der Coronavirus-Impfverordnung (CoronaImpfV) vom 31. März 2021 (Bundesanzeiger AT vom 1. April 2021, S. 1) berechtigt sind, mit hoher Priorität geimpft zu werden.

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a) Ein solcher Anspruch kann von vornherein nicht gegen den Antragsgegner zu 1. bestehen. Er ist nicht passivlegitimiert, weil die Zuständigkeit für die Erbringung der Schutzimpfungen nach § 6 Abs. 1 CoronaImpfV und § 6 Abs. 2 CoronaImpfV den Ländern, vorliegend also dem Antragsgegner zu 2., zugewiesen ist.

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b) Ein Anspruch gegen den Antragsgegner zu 2. besteht ebenfalls nicht.

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Die Antragsteller wollen einen solchen Anspruch ausschließlich aus Art. 3 Abs. 1 GG herleiten. Sie begründen dies damit, dass sie enge Kontaktpersonen ihres Kindes seien. Kinder hätten einen hohen Pflegebedarf. Die Antragsteller seien deshalb mit engen Kontaktpersonen von pflegebedürftigen Personen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nummer 3 Buchstabe a CoronaImpfV gleichzustellen. Dabei handelt es sich um Kontaktpersonen von solchen pflegebedürftigen Personen, die das 70. (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 CoronaImpfV) bzw. 80. (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 CoronaImpfV) Lebensjahr vollendet haben oder bei denen einer der in § 3 Abs. 1 Nummer 2 Buchstabe a bis Buchstabe k CoronaImpfV genannten Risikofaktoren (u. a. Trisomie 21, Leberzirrhose, Body-Mass-Index über 40) gegeben ist.

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Die unterschiedliche Behandlung von Eltern einerseits und engen Kontaktpersonen von Pflegebedürftigen Sinne der Corona-Impfverordnung stellt jedoch schon keine Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG dar. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. nur Wolff, in: Hömig, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 6 m.w.N). Hier liegen jedoch schon keine wesentlich gleichen (vergleichbaren) Sachverhalte vor.

22

Die Impfung von engen Kontaktpersonen von Pflegebedürftigen nach der Corona-Impfverordnung dient dem Schutz der pflegebedürftigen Person (vgl. die Begründung des Referentenentwurfs der Corona-Impfverordnung vom 21. Februar 2021, S. 25, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Verordnungen/CoronaImpfV_mit_Begruendung_080221.pdf), nicht der Sicherstellung ihrer Pflege. Das ergibt sich auch daraus, dass neben der Pflegebedürftigkeit für die Impfberechtigung der engen Kontaktpersonen ein weiterer Risikofaktor für einen schweren Erkrankungsverlauf (Alter oder Vorerkrankungen, vgl. die Begründung des Referentenentwurfs, a. a. O. und Robert-Koch-Institut , Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Nr. 15, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html) bei der pflegebedürftigen Person vorliegen muss. Es sind also keineswegs zwei enge Kontaktpersonen unterschiedslos aller im umgangssprachlichen oder sozialrechtlichen Sinne pflegebedürftigen Personen mit hoher Priorität impfberechtigt.

23

Bei Kindern und Jugendlichen liegt kein diesen Personengruppen vergleichbares Risiko eines schweren Erkrankungsverlaufs vor. Die Mehrzahl der Kinder zeigt nach bisherigen Studien einen asymptomatischen oder milden Krankheitsverlauf. Nur ein sehr kleiner Teil benötigt eine intensivmedizinische Versorgung und wird beatmungspflichtig. Bei den hospitalisierten Kindern sind pulmonale (15 %) und kardiale (8 %) Vorerkrankungen häufiger registriert worden. Das von den Antragstellern angeführte Paediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS) wird nur in seltenen Fällen entwickelt (zu diesen Punkten RKI, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Nr. 15, a. a. O.). Die Erkenntnisse und Stellungnahmen des RKI können Behörden und Gerichte ihren Entscheidungen zugrunde legen, weil das RKI nach der Wertung des Gesetzgebers in § 4 IfSG bei der Vorbeugung übertragbarer Krankheiten und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen eine besondere Sachkunde aufweist (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 7. Dezember 2020 – 3 B 396/20 –, juris, Rn. 23; OVG Schleswig, Beschluss vom 13. November 2020 – 3 MR 61/20 –, juris, Rn. 48).

24

Dass mittlerweile ein gewisser Anteil der pflegebedürftigen Personen im Sinne der Corona-Impfverordnung jedenfalls eine Erstimpfung erhalten hat, führt nicht dazu, dass die vorliegenden Sachverhalte vergleichbar geworden wären. Die bislang primär eingesetzten Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 bedürfen zu ihrer höchsten Wirksamkeit der Verabreichung zweier Impfdosen. Auch danach verbleibt ein gewisses Risiko, an COVID-19 zu erkranken (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Wirksamkeit_Sicherheit.html). Ergänzend wird hierzu auf die vom Antragsgegner zu 2. eingeführten Erkenntnisquellen Bezug genommen. Zudem sind, wie sich aus dem vom Antragsgegner zu 2. vorgelegten Vermerk des Gesundheitsministeriums ergibt, allein mindestens 90.000 Personen über 70 in Schleswig-Holstein noch nicht einmal erstgeimpft.

25

Selbst wenn man – wie dies offenbar der Antragsgegner zu 2. tut – von vergleichbaren Sachverhalten ausgehen würde, wäre die Ungleichbehandlung vorliegend aus den genannten Gründen gerechtfertigt. Im Hinblick darauf, dass die Corona-Impfverordnung nicht danach differenziert, ob die pflegebedürftige Person bereits geimpft ist oder nicht, ergäbe sich die Rechtfertigung zudem daraus, dass dies mit einem unvertretbaren Verwaltungsaufwand verbunden wäre, der das Ziel einer möglichst schnellen Durchimpfung der gesamten Bevölkerung beeinträchtigen würde. Die Praktikabilität des Rechts gehört stets zu den notwendigen Voraussetzungen eines gleichheitsgerechten Gesetzesvollzugs. Der Verordnungsgeber ist deshalb zur Regelung des Massenverfahrens der Impfung mit all seinen logistischen Herausforderungen befugt, generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen zu treffen (vgl. nur BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 18. Juli 2005 – 2 BvF 2/01 –, juris, Rn. 179 m. w. N.).

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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

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3. Die Streitwertentscheidung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i. V. m. § 52 Abs. 2 GKG und § 39 GKG. Weil beide Antragsteller jeweils für sich eine Impfung begehren, liegen zwei Streitgegenstände vor, deren Werte zusammengerechnet werden. Auf den Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG ist die in Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehene Reduzierung nicht anwendbar (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 29. Mai 2015 – 3 O 23/15 –; Beschluss vom 10. August 1995 – 3 O 19/95 –).


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