Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 38/21

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.

Der Streitwert wird auf 10.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist im Rahmen eines Visumverfahrens auf Grund der Familienzusammenführung mit seiner damaligen Ehefrau V. M. am 29.12.2003 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Aus der gemeinsamen Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen. Am 05.01.2009 beantragte er erstmals das eigenständige Ehegattenaufenthaltsrecht gemäß § 31 Abs. 1 AufenthG. Die Ehe war seit dem 14.10.2010 geschieden. Am 14.10.2010 beantragte er sodann einen Aufenthaltstitel gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, wobei er als Begründung anführte, dass er die Personensorge für seine deutschen Kinder ausübe. Daraufhin wurde ihm eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt, da er einen Nachweis über die Personensorge nicht erbrachte. Später teilte er dann mit, dass er keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern habe und auch nicht wisse, wo sich diese aufhalten würden.

2

Am 06.01.2014 wurde ihm eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG erteilt, die mehrfach verlängert wurde. Am 23.03.2015 beantragte er dann erneut das eigenständige Ehegattenaufenthaltsrecht gemäß § 31 Abs. 1 AufenthG. Dieses wurde ihm erteilt und bis zum 18.05.2018 verlängert. Daraufhin wurde er vom 12.07.2018 bis zum 27.02.2021 geduldet. Die zuletzt erteilte Duldung vom 18.02.2021 wurde auf § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gestützt und damit begründet, dass ARB-Rechte des Antragstellers geprüft werden müssten. Sie sollte Gültigkeit bis zum 17.05.2021 haben.

3

Mit Schreiben vom 22.01.2020 und erneut mit Schreiben vom 01.02.2021 wurde ihm Gelegenheit zur Stellungnahme bezüglich einer geplanten Aufenthaltsbeendigung durch die Antragsgegnerin gegeben.

4

Mit Bescheid vom 26.02.2021 erließ die Antragsgegnerin eine Ordnungsverfügung, mit der sie die Duldung vom 18.02.2021 widerrief. Außerdem wurde dem Antragsteller die Abschiebung in die Türkei angedroht, sollte er nicht innerhalb von 14 Tagen freiwillig ausreisen. Für den Fall der Abschiebung wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 3 Jahre befristet. Als Begründung führte die Antragsgegnerin im Wesentlichen aus, dass die Duldungsbescheinigung zum Zweck der Prüfung eventueller Ansprüche nach dem Assoziationsabkommen ARB 1/80 erteilt worden sei. Da der Antragsteller trotz Aufforderung keine entsprechenden Nachweise erbracht habe, sei die Prüfung nun negativ abgeschlossen worden.

5

Mit Schreiben vom 15.03.2021 legte der Antragsteller Widerspruch ein. Dabei beantragte er auch, die Vollziehung auszusetzen. Außerdem beantragte er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG bzw. nach § 4 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 10 ARB 1/80. Der Antragsteller arbeite bereits seit über einem Jahr bei der S.M.G. GmbH in Vollzeit als Elektro-Helfer. Er habe sich auch im Bundesgebiet nachhaltig integrieren können. Ein Aufenthaltsrecht des Antragstellers ergebe sich auch aus Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80.

6

Am 03.05.2021 hat der Antragsteller beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht um Eilrechtsschutz nachgesucht. Dabei führt er aus, dass im Rahmen der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zu beachten sei, dass türkische Staatsangehörige, die im Anwendungsbereich der Stillhalteklausel sind, einen Anspruch auf eine Ermessensentscheidung hinsichtlich der Verlängerung auf der Grundlage des § 7 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1965 hätten. Es sei schon fraglich, ob die Antragsgegnerin eine solche Ermessensentscheidung vorgenommen habe. Außerdem greife die Fiktionswirkung des § 21 Abs. 3 AuslG 1965 zugunsten des Antragstellers aufgrund der Standstillklausel des Art. 13 ARB 1/80 und die Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sei auf türkische Staatsangehörige nicht anwendbar. Wegen der Fiktionswirkung zu seinen Gunsten habe er auch einen Anspruch auf Erteilung einer Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 5 AufenthG.

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Der Antragsteller beantragt,

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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 15.03.2021 anzuordnen und ihm eine Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 5 AufenthG auszustellen,

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hilfsweise im Wege einer einstweiligen Anordnung der Antragsgegnerin aufzugeben keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen einzuleiten oder zu vollziehen, bis über den Widerspruch und die Anträge vom 15.03.2021 entschieden wurde.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Ihren Antrag begründet sie im Wesentlichen damit, dass der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig sei. Die Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG bzw. § 4 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 10 ARB 1/80 würden keine Fiktionswirkung auslösen. Duldungsinhaber könnten keine assoziationsrechtlichen Ansprüche geltend machen. Soweit sich der Antragsteller auf § 7 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1965 berufe, so sei einzuwenden, dass es einen Antrag auf Verlängerung des eigenständigen Ehegattenaufenthaltsrechts nicht gegeben habe.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

II.

14

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist teilweise zulässig, aber nicht begründet.

15

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 15.03.2021 anzuordnen, ist als Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Denn ein Widerspruch gegen den Widerruf der Duldung und gegen die Abschiebungsandrohung entfaltet gemäß § 248 Abs. 1 Satz 2 LVwG keine aufschiebende Wirkung, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO. Der Widerruf der Duldung ist als Vollstreckungsmaßnahme anzusehen, sodass eine Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Ausländerbehörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO nicht erforderlich ist (vgl. Dittrich/Breckwoldt in HTK-AuslR / Rechtsschutz / 2.7.4, Stand: 29.09.2019 Rn. 2-3).

16

Zwar ist es umstritten, ob bei einem Widerruf einer Duldung ein Widerspruch überhaupt statthaft ist oder ob die Regelung des § 83 Abs. 2 AufenthG Anwendung findet. Die Regelung ist als Ausnahmevorschrift jedoch eng auszulegen. Eine erweiternde Anwendung dieser Vorschrift auf den Fall, dass eine ursprünglich erteilte Duldung widerrufen wird, verbietet sich deshalb, weil dem Ausländer eine bereits innegehabte Rechtsposition entzogen wird, während § 83 Abs. 2 AufenthG von der Voraussetzung ausgeht, dass eine günstigere Rechtsposition erst erstrebt wird (Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. August 1991 – Bs V 100/91 –, juris Rn. 3). Deshalb ist bei einer Rücknahme oder einem Widerruf der Duldung ein Vorverfahren durchzuführen (vgl. auch Bergmann/Dienelt/Samel AufenthG § 83 Rn. 7).

17

Die in Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung ist in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten. Sie fällt regelmäßig zugunsten der Behörde aus, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht oder der Sofortvollzug gesetzlich angeordnet ist. Dagegen ist dem Aussetzungsantrag stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, da an der sofortigen Vollziehung eines solchen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Lässt die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zu, so hat das Gericht eine eigenständige, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.03.2016 - 1 B 1375/15 -, juris Rn. 9; OVG Schleswig, Beschluss vom 06.08.1991 - 4 M 109/91 - SchlHA 1991, 220).

18

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung (vgl. Beschluss der Kammer vom 26.11.2019 - 11 B 129/19 -, juris Rn. 19; Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschlüsse vom 16.01.2020 - 4 MB 98/19 -, juris Rn. 10 und vom 03.07.2018 - 1 MB 7/18 -, n.v.; Schenke in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 25. Auflage 2019, § 80 Rn. 147, m.w.N.; a.A.: Schoch in: Schoch/Schneider, Verwaltungsgerichtsordnung: VwGO, Werkstand: 39. EL Juli 2020, § 80 Rn. 413 ff., m.w.N.). Da es sich bei der Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO um eine eigene Ermessensentscheidung des Gerichts handelt und nicht etwa um eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle, ist maßgebend auf diesen Zeitpunkt abzustellen. Selbst wenn man eine Akzessorietät zum Hauptsacheverfahren annimmt, so ist auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung abzustellen, wenn ein Widerspruchsverfahren noch anhängig ist und somit die letzte Behördenentscheidung noch aussteht (vgl. Hoppe in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 106). So liegt es hier, da ein Widerspruch zwar eingelegt, aber noch nicht beschieden ist.

19

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist der Widerruf der Duldung sowie die Abschiebungsandrohung offensichtlich rechtmäßig.

20

Der Widerruf der Duldung ist zunächst formell rechtmäßig. Ist die Abschiebung länger als ein Jahr ausgesetzt, ist die durch Widerruf vorgesehene Abschiebung mindestens einen Monat vorher anzukündigen, § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG. Da der Antragsteller bereits seit dem 12.07.2018 geduldet wurde, ist die Abschiebung im Zeitpunkt der Entscheidung durch die Antragsgegnerin am 26.02.2021 bereits seit über einem Jahr ausgesetzt. Die Antragsgegnerin kündigte die nunmehr zu erfolgende Abschiebung bereits mit Schreiben vom 22.01.2020 an. Bis zum Bescheid am 26.02.2021 wurde der Antragsteller erneut länger als ein Jahr geduldet, sodass die Ankündigung zu wiederholen war, § 60a Abs. 5 Satz 4 Halbsatz 2 AufenthG. Die Antragsgegnerin wiederholte die Ankündigung sodann mit Schreiben vom 01.02.2021. Zwischen der wiederholten Ankündigung und der Ordnungsverfügung liegen zwar nur 25 Tage. Die Frist nach § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG ist aber ausschließlich eine Sperrfrist für den Vollzug der Abschiebung nach § 58 Abs. 1 AufenthG (BVerwG, Urteil v. 22.12.1997 - 1 C 14.96 –, juris Rn. 20; VG Dresden, Beschluss v. 17.04.2013 - 3 L 139/13 –, juris Rn. 13). Das Vorhandensein einer Abschiebungsankündigung ist danach ausschließlich Rechtmäßigkeitserfordernis für eine Abschiebung nach  § 58 Abs. 1 AufenthG und damit bei der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG nicht zu prüfen (Haedicke in HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 5, Stand: 13.10.2020 Rn. 39). Gemessen an diesen Maßstäben ist die Ankündigung der Abschiebung rechtzeitig erfolgt. Die eigentliche Abschiebung ist erst nach einer Ausreisefrist von 14 Tagen angedroht. Eine Abschiebung ist zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht vollzogen und auch nicht Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung. Zwischen der Ankündigung und einer etwaigen Abschiebung liegt somit jedenfalls mehr als ein Monat Zeit.

21

Der Widerruf ist auch materiell rechtmäßig. Gemäß § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG ist die Aussetzung der Abschiebung zu widerrufen, wenn die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe entfallen. Die zuletzt erteilte Duldungsbescheinigung vom 18.02.2021 erfolgte zum Zweck der Prüfung etwaiger Ansprüche nach dem Assoziationsabkommen ARB 1/80. Diese Prüfung wurde rechtmäßig negativ abgeschlossen. Zwar hat der Antragsteller inzwischen entsprechende Nachweise über seine Beschäftigungszeiten nachgereicht, diese begründen jedoch kein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80.

22

In Betracht kommt hier ein Aufenthaltsrecht aus § 4 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80. Hiernach hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt. Dabei setzt eine ordnungsgemäße Beschäftigung eine gesicherte aufenthaltsrechtliche Position voraus. Eine Duldung gemäß § 60a AufenthG genügt diesen Erfordernissen nicht (Beschluss der Kammer vom 17.12.2020 – 11 B 103/20 –, juris Rn. 31; BeckOK AuslR/Kurzidem EWG-Türkei Art. 6 Rn. 21).

23

Auch ein Aufenthaltsrecht aus § 4 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 besteht nicht. Nach der neueren Rechtsprechung kann ganz ausnahmsweise auch Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht eines türkischen Staatsangehörigen begründen, wenn der Aufnahmemitgliedstaat dem Ausländer die Erlaubnis erteilt hat, im Gebiet des Mitgliedstaates für eine bestimmte Zeit eine Beschäftigung auszuüben und in Bezug auf diese Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen hat (OVG B-Stadt, Urteil v. 29.05.2008 - 4 Bf 232/07 –, juris Rn. 46; VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 10.07.2008 - 13 S 708/08 –, juris Rn. 34 ff.). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Dem Antragsteller wurden nie in Bezug auf seine Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf seine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Eine Diskriminierung ist im Fall des Antragstellers weder vorgetragen noch ersichtlich. Weitere assoziationsrechtliche Aufenthaltsrechte kommen nicht in Betracht.

24

Soweit der Abschiebung des Antragstellers die Prüfung assoziationsrechtlicher Ansprüche entgegenstand, sind diese Gründe nunmehr entfallen, sodass die Duldung zu wiederrufen war.

25

Die Abschiebungsandrohung ist gemäß §§ 59, 58 AufenthG offensichtlich rechtmäßig. Ein Ausländer ist abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar ist, eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist, und die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint, § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

26

Der Antragsteller ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig.

27

Zunächst besitzt der Antragsteller keinen Aufenthaltstitel zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Er wurde stattdessen zuletzt gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bis zum 27.02.2021 nur geduldet. Dem Besitz eines Aufenthaltstitels steht der Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung desselben nicht gleich (BeckOK AuslR/Fleuß AufenthG § 50 Rn. 2a). Es spielt daher auch keine Rolle, ob der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat. Soweit sich die Beteiligten in diesem Verfahren also darum streiten, ob ein Aufenthaltsrecht nach § 25b AufenthG gegeben ist, so spielt dies für die Entscheidung des Eilantrages keine Rolle. Etwas anderes gilt jedoch hinsichtlich eines Aufenthaltsrechts nach ARB 1/80. In solchen Fällen wirkt die nach § 4 Abs. 5 AufenthG zu erteilende Aufenthaltserlaubnis nur deklaratorisch (BVerwG, Urteil vom 19.4.2012 – 1 C 10.11 –, juris Rn. 25; OVG SH, Beschluss vom 22.12.2017 – 4 MB 63/17 –, juris Rn.12). Deswegen kommt es auf den Bestand des Aufenthaltsrechts und nicht auf den Besitz des Titels an (Bergmann/Dienelt/Dollinger AufenthG § 50 Rn. 2). Dem Antragsteller steht jedoch kein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht gemäß ARB 1/80 zu (s.o.).

28

Der Aufenthaltstitel des Antragstellers wird auch nicht durch seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG fingiert, § 81 Abs. 3 AufenthG. Grundsätzlich setzt eine solche Fiktion gemäß § 81 Abs. 3 AufenthG voraus, dass ein Ausländer, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, die Erteilung eines Aufenthaltsrechts beantragt. Die Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der Antragsteller hält sich zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Selbst wenn angenommen wird, dass der Antragsteller weiterhin faktisch geduldet wird gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, so bleibt die Ausreisepflicht eines Ausländers, dessen Abschiebung ausgesetzt ist, unberührt, § 60a Abs. 3 AufenthG. Sein Aufenthalt ist also unrechtmäßig.

29

Die Fiktionswirkung gilt auch nicht wegen einer Verschiebung des rechtlichen Prüfungsrahmens in Hinblick auf die Standstillklauseln (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 15.04.2011 - 11 S 189/11 –, juris Rn. 55). Gemäß Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - werden die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Nach Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Vertragsparteien für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Die Stillhalteklausel unterstellt die nationale Regelungszuständigkeit dem Vorbehalt, dass neue Vorschriften die Niederlassungsfreiheit, den freien Dienstleistungsverkehr und den Zugang zur Beschäftigung sowie den damit verbundenen Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen nicht strengeren Bedingungen als denjenigen unterwerfen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der jeweiligen Stillhalteklausel in dem betreffenden Mitgliedstaat galten und steht auch einer Rücknahme zwischenzeitlich eingeführter Vergünstigungen für diesen Personenkreis entgegen (vgl. näher EuGH Urteil vom 09.12.2010 - C-300/09 - und vom 21.10.2003 - C-317/01 - ). Art. 41 ZP ist im vorliegenden Fall jedoch schon deshalb nicht einschlägig, weil der Antragsteller weder Selbstständiger noch Dienstleistungsempfänger oder -erbringer im Sinne dieses Artikels ist.

30

Auch Art. 13 ARB 1/80 gebietet nicht, dass die Fiktionswirkung des § 21 Abs. 3 AuslG 1965 den § 81 Abs. 3 AufenthG hier verdrängt. Hiernach gilt der Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde vorläufig als erlaubt, wenn der Ausländer nach Einreise die Aufenthaltserlaubnis beantragt. Allerdings können sich nur solche türkischen Staatsangehörigen auf die Stillhalteklausel des Art 13 ARB 1/80 berufen, die sich ordnungsgemäß im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten. Der Begriff „ordnungsgemäß“ in Art. 13 ARB 1/80 bedeutet, Aufenthalt und etwaige Beschäftigung müssen rechtmäßig sein (vgl. näher EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - C-242/06 - Rn. 53 und vom 21.10.2003 - C-317/01 - Rn. 84; GK-AufenthG, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 8; Farahat, Von der Stillhaltepflicht zur „zeitlichen Meistbegünstigung“ im Assoziationsrecht, NVwZ 2011, 343, 344). Der Antragsteller hält sich jedoch gerade nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf (s.o.). Damit befindet sich der Antragsteller nicht im Anwendungsbereich einer Stillstandklausel, sodass die Fiktionswirkung des § 21 Abs. 3 AuslG 1965 nicht zur Anwendung kommt.

31

Auch die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG greift nicht zugunsten des Antragstellers. Hiernach gilt der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend, wenn ein Ausländer vor Ablauf seines Aufenthaltstitels dessen Verlängerung oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels beantragt. Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Der Antragsteller hatte zuletzt einen Aufenthaltstitel, der bis zum 18.05.2018 galt. Einen Verlängerungsantrag oder einen Antrag auf Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels stellte der Antragsteller jedoch vor Ablauf dieses Titels nicht. Zwar enthält der § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG eine Härtefallregelung. Besondere Härtegründe wurden jedoch vom Antragsteller nicht vorgetragen und sind auch nicht ersichtlich, insbesondere da der nächste Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels auf den 15.03.2021 datiert, mithin fast 3 Jahre verspätet erfolgte.

32

Soweit sich der Antragsteller auch hier auf die Standstillklausel des Art. 13 ARB 1/80 beruft und deswegen eine Anwendung des § 7 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1965 fordert, ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen. Der Antragsteller fällt nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 13 ARB 1/80.

33

Der zulässige Antrag, dem Antragsteller eine Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 5 AufenthG auszustellen, wird gemäß §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ausgelegt.

34

Der Antrag ist jedoch unbegründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V. mit § 920 Abs. 2 ZPO.

35

Unabhängig von der Frage, ob überhaupt ein Anordnungsgrund auf Seiten des Antragstellers glaubhaft gemacht wurde, besteht jedenfalls kein Anordnungsanspruch. Wie bereits dargelegt, erstreckt sich die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3, 4 AufenthG nicht auf den Antragsteller. Ob eine einstweilige Anordnung dieser Art möglicherweise gegen das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache verstößt, kann daher offenbleiben.

36

Der Hilfsantrag ist bereits unzulässig.

37

Wenn der Antragsteller beantragt, von Vollstreckungsmaßnahmen bis zur Bescheidung des Widerspruchs verschont zu bleiben, so ist hierfür ein Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs statthaft. Ein Antrag gemäß § 123 Abs. 1 VwGO ist daneben nicht zulässig, § 123 Abs. 5 VwGO.

38

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über den Streitwert ergibt sich aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1, 2, 45 Abs. 1 Satz 3 GKG.


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